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Title: Walt Whitmans Werk [1922]

Author(s): Walt Whitman, Hans Reisiger

Date: 1922

Whitman Archive ID: med.00012

Source: Walt Whitmans Werk. Tr. Hans Reisiger. (Berlin, Germany: S. Fischer Verlag, 1922). Our transcription is based on digital images of a print original. For a description of the editorial rationale behind our treatment of translations, see our statement of editorial policy.

Contributors to digital file: Vanessa Steinroetter and Elizabeth Lorang








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Walt Whitmans Werk
in zwei Bänden
Erster Band

1922

S. Fischer Verlag

Berlin



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Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von
Hans Reisiger
Mit vier Bildnissen

Erste bis vierte Auflage
Alle Rechte vorbehalten



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EINLEITUNG

... Vor all meinen hochfahrenden Gedichten steht mein wahres
     Ich noch immer unberührt, unausgesprochen,
Weit abseits, meiner spottend mit spöttisch-beglückwünschendem
     Neigen und Grüßen,
Mit fernher schallendem, ironischem Gelächter über jedes Wort,
     das ich schrieb.



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ATLANTISCHE WIEGE


Paumanok

Meerschönheit! hingestreckt, besonnt!
Die eine Seite von deinem innern Ozean bespült, voll reichen Handels, Dampfund Segelschiffen,
Die andre vom atlantischen Wind geküßt, wild oder zart,—gewaltige Rümpfe dunkel gleitend in die Ferne;
Eiland voll süßer Quellen trinkbaren Wassers — Boden und Luft gesund!
Eiland der salzigen Küste, Luft und Flut!



Von Montauk Point

Ich stehe wie auf eines mächtigen Adlers Schnabel,
Ostwärts die See einatmend, schauend (nichts als Himmel und See),
Die hüpfenden Wellen, Schaum, die Schiffe in der Ferne,
Landsüchtige Unrast schneegekräuselter Kronen,
Die ewiglich die Küsten sucht.

Walt Whitman wurde am 31. Mai des Jahres 1819 auf der Farm West Hills nahe der kleinen Hafenstadt Huntington auf der Insel Long Island geboren. Welcherart war das Fleisch und Blut, in dem diese neue Seele sich inkarnierte? und welcherart die irdische Umgebung, in der sie die Augen aufschlug und heranwuchs? — Die Antwort auf beide Fragen umschließt ein mehrfach und stark Gedoppeltes.

Zwei Blutströme trafen sich in Walt Whitman, beide pulsierend von Auswandererlust, von Drang nach neuer Welt, beide kräftig hervorsprudelnd aus gesicherter Scholle, gespeist aus reinen und tiefen Quellen gesunder Geschlechter. Von England her der eine: Bauernblut, gereift unter den freiheitlichen Strahlen der elisabethanischen Sonne, die damals, mit dem 17. Jahrhundert, über dem Inselreich aufstieg und unter deren Jahrzehnte währendem Friedenslicht die bisher in innerer Zerrissenheit vergeudeten Kräfte zum erstenmal in freudiger Geschlossenheit und Tatkraft nach außen hin gewandt wurden.

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Getragen und geadelt war dieser Drang in die Welt durch den starken und geraden Charakter der Generation. Etwas von dem jugendlichen Glanz und Überschwang, der die wandernden Goten umflügelte, war mit diesen Männern; Kameradschaft, Freigiebigkeit, Ruhmliebe, die sich zu kindlicher Prahlsucht steigerte, gingen laut und fröhlich zusammen mit tiefer Frömmigkeit, mit glühendem Glauben an die freie Menschennatur, an das eigene Ich und das der anderen, mit einer Hingabe an die eigenen Ideale bis in den Tod. Sie gingen mit Lust in die Welt, weil sie ihre eigene Welt mit sich trugen. So gründeten sie Virginia, die erste Kolonie zu Ehren der jungfräulichen Königin, und verpflanzten die Keime zur Wesensart des späteren und heutigen Amerikaners in die Neue Welt. So wandte sich eine ihrer Scharen auch weiter nördlich nach Connecticut. „True Love“, „Treue Liebe“ war der kindlich-schöne Name des Schiffes, mit dem sie über den Ozean fuhren, und einer der Ihren hieß Zachariah Whitman und war der Sohn des alten, daheimgebliebenen elisabethanischen Bauern Abijah Whitman. Er wurde Prediger in Milford, Conn., denn tatkräftige Frömmigkeit wohnte in ihnen dicht neben der handfesten Abenteurerlust. Sein Sohn Joseph Whitman setzte mit vielen anderen um 1660 über den schmalen Sund hinüber nach der Insel, die Long Island getauft wurde. Dort hatten Vorläufer bereits ein Gebiet den eingeborenen Indianern um sechs Röcke, sechs Paar Schuhe, sechs Äxte, Perlenschnuren und dergleichen abgekauft und an einer der tiefen Buchten des Hafenstädtchens Huntington, zu deutsch Jägerstadt, gegründet. Auf den Hügeln südlich der Stadt waren Farmen angelegt worden, und eine von ihnen, die Farm West Hills, erwarb Joseph Whitman.

Während des folgenden Jahrhunderts wuchs diese elisabethanische Erobererrasse, die die Weite und Freiheit des Atlantischen Ozeans und die unbändige Fruchtbarkeit des neuen Kontinents in der Brust trug, zu immer stolzerem Selbstgefühl, das schließlich im Unabhängigkeitskrieg gegen das Mutterland seinen Ausdruck fand. Nun blitzen die Waffen und donnern die Musketen und Kanonen in das Whitmansche Blut. Die Romantik der Independenten schlägt hinein. Ein Urenkel Josephs fällt in der Schlacht bei Brooklyn, der inzwischen am Westrande der Insel, New York gegenüber, emporgewachsenen Stadt; die Nacht darauf führt

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Washington den Rest seiner geschlagenen Truppen im Schutze des Nebels über den East River. Ein anderer Urenkel, Jesse Whitman, heiratet die Nichte eines der gefürchtetsten Führer der Independenten, des Majors Busch, der in englischem Kerker verdorrt. Jesses eigene Mutter reitet, braun, breit, männisch, die qualmende Tabakspfeife zwischen den Zähnen, auf die Schlachtfelder mit und führt, mit Flüchen nicht sparend, Büchse und Säbel. Aber nun gleitet ein sanfterer Strom in das Blut. Jesses Erwählte ist ein feines, damenhaftes Mädchen von stiller Klugheit. Eine Lehrerin. Sie sowohl als ihr Gatte neigten dem Quäkertum zu, und beide waren herzlich befreundet mit dem damaligen Führer dieser Sekte, Elias Hicks. Und so hielt es auch Walter Whitman, einer von Jesses vielen Söhnen, der Vater Walt Whitmans.

Walter Whitman, 1789 geboren, erbte die Farm West Hills. Er erlernte jedoch in New York auch das Handwerk eines Zimmermanns und baute Holzhäuser und Scheunen. Er war ein Riese an Gestalt, wortkarg, ernst, verschlossen, von kindlicher Unbeholfenheit in Umgang und Gespräch, tüchtig in seiner Arbeit, aber nicht gerade von glücklicher Hand in seinen Geschäften, eigensinnig und zuweilen jähzornig. Das starke Blut seiner Rasse scheint in ihm zu einem gewissen Stillstand gekommen zu sein, und es bedurfte eines anderen, heißeren und tieferen Zustroms, um die Mischung zustande zu bringen, aus der der größte Dichter und Verkünder einer neuen Welt geboren werden konnte.

Dieser andere, mütterliche Strom hatte seine gesunde Quelle in Holland. Die Holländer hatten die Stadt New-Amsterdam, das spätere New York, gegründet und waren, ebenfalls um die Mitte des 17. Jahrhunderts, auch auf die Insel Long Island hinübergekommen und waren so, von Westen nach Osten vorrückend, dem englisch-puritanischen Einwandererstrom, der von Norden her kam, begegnet. Ihre Farmen grenzten an die Farmen des Gebietes von Huntington, und der Major Cornelius van Velsor war der Nachbar der Whitmans auf West Hills.

Ein helles Licht breiter Behaglichkeit liegt über diesen besitzesfrohen Familien, und die ganze duftende Frische und Sauberkeit Hollands. In ihren schmucklos freundlichen Heimstätten mit den blankgescheuerten, mit weißem Sand bestreuten Dielen, mit ihrem Zinngerät und ihren berühmten Punschen hausten sie auch in der

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neuen Heimat voll unerschütterlicher Ruhe, Gesundheit, Bedachtsamkeit und Tüchtigkeit, in rotbäckigem Selbstgefühl und Eigensinn. Hinter unbewegten, massigen Gesichtern saugten sie mit stillen, hellblauen, kleinen Augen in aller Ruhe die Erscheinungen der Welt in sich und verarbeiteten sie in einem Innern, das sich unerwarteterweise gern dem Übersinnlichen öffnete — ein Zug, der sich bei den in Amerika geborenen Holländern noch verstärkte.

Die Staaten New York und Pennsylvania sind noch heute tief von diesem holländischen Blut durchsetzt. Es bildete den tüchtigen Grundstoff, mit dem sich alle die just in diesen Staaten hinzukommenden unsteten und leidenschaftlichen Elemente zu einer lebenskräftigen Mischung verbinden konnten. Zumal in den dortigen Landgemeinden bildet die Bevölkerung holländischen Blutes den festen Kern. Und in den Städten New York, Brooklyn, Albany gilt holländische Abstammung als eine Art Adelsbrief.

Der Major Cornelius van Velsor war ein Urbild des Holländers, wohlbeleibt, behaglich, rotbäckig. Wenn er mit seiner Tochter Louisa durch die Felder ritt, so konnte sie niemand sehen, ohne die beiden sogleich an Gestalt, Gesicht und Farbe als Holländer zu erkennen. Und dennoch hatte diese Tochter noch ein anderes, leidenschaftlicheres, unruhigeres Blut in sich.

Die Gattin des Majors und Mutter Louisas war Naomi Williams. Sie war ein Kind des großen wallisischen Geschlechts der Williams, das seit alters der Seefahrt verschworen war. Ihr Vater, Kapitän John Williams, fand seinen Tod in der See. Ebenso sein einziger Sohn. Die Walliser waren von jeher eine geistig bewegte, phantasievolle Rasse, durch deren Sinn und Blut das Meer sicherlich mit ganz anderem, dämonischerem Wellenschlag rauschte als durch das der schwergewichtigen Holländer. Und vielleicht wurde in den Seelentiefen dieses Geschlechts der erste Funke geschlagen zu der schöpferischen Flamme, die in Walt Whitmans Brust ausbrach. Und die See, deren Rauschen ihm zwischen Kindheit und Mannheit zu so gewaltiger, mystischer Stimme anschwoll, hatte vielleicht in noch gebrochenen Lauten ihr Geheimnis von Leben und Tod schon in diese ruhelosen Seelen gelallt.

Inbrünstiger sicherlich auch als die von alters landsässigen Whitmans hatten diese Williams sich dem Quäkertum zugewandt, und die freie Lehre vom „inneren Licht“ mag ihnen in den Einsamkeiten

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des Weltmeers zu einem um so innigeren Besitz geworden sein, wenngleich der Kapitän John Williams, wahrscheinlich wegen seiner Heirat mit einer Nicht-Quäkerin, aus der Sekte austrat.

Vielleicht war es zu einem Teil die gemeinsame Neigung zu dieser Lehre, die den stillen Riesen Walter Whitman mit der Tochter seines Nachbarn, der 24jährigen Louisa van Velsor, in tieferem Sinne zusammenführte. Er vermählte sich mit ihr im Jahre 1816 und hauste zunächst sieben Jahre lang auf seiner Farm. Schon während der ersten Jahre baute er, unweit von dem alten Whitmanschen Stammhaus, ein neues Wohnhaus, das noch heute steht: ein kleines, behagliches, zweistöckiges Haus, das von den freundlich braunen Scheunen und Schuppen der Farm umgeben ist. Hier wurde ihm nach dreijähriger Ehe sein zweiter Sohn geboren, der nach dem Vater Walter, abgekürzt Walt, genannt wurde.

Walt Whitman war einer der begnadeten Menschen, die bis in ihr hohes Alter in eine starke und warme Muttersphäre geborgen bleiben. Inmitten aller wilden und herrlichen Gesichte und Leidenschaften der freien, vielgestaltigen Welt, die ihm an die einsame Brust stürmten, war in ihm doch allezeit das unsichtbare Kinderlächeln der Zugehörigkeit zu der Wesenheit, aus der er geboren war und zu der er sich nur zurückzuwenden brauchte, um immer wieder, trotz Furchen im Antlitz und grauem Haar und Bart, wie ein Knäblein in sie einzugehen. Die Blutwärme seiner freudigen Verkündung einer schönen, stolzen, „athletischen“, „elektrischen“ Menschheit, die keusch, zärtlich, mitfühlend wäre und „strömend wie die Natur“, stammt gleichsam unmittelbar aus dem Mutterschoß, aus dem er selber ins Leben gehoben worden: „wohlgezeugt und aufgezogen von einer vollkommenen Mutter“. Mütter gebären Männer, und herrliche, liebesstarke, an Seele und Leib wohlgestaltete Mütter zu schaffen, ist ihm das Urgebot einer neuen Menschheit. Der Mutterschoß ist die Pforte, an der sich die zahllosen Keime zu neuen Saaten drängen, und in alle Weltenzukunft hinein ragt sich Geburt aus Geburt und Wiedergeburt, immer neues Sein aus Muttersphären hervor.

Vor der Mutter ist das Kleinste groß und das Größte und Dämonischste kindlich schlicht und natürlich wie ein Blick oder Kuß. Vielleicht strömt ein Teil der Kraft, mit der Whitman selber

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alles in der Welt, Großes wie Kleines, umfaßt und durch die Macht der Liebe lebendig miteinander verbrüdert und gleichmacht — vielleicht strömt ein Teil dieser Kraft aus dem Glück der Gleichberechtigung aller seiner eigenen Wesensseiten, Gedanken und Werke vor der mütterlichen Liebe. Und seine Zurückweisung alles Sichduckens und Schämens in den Seelen der Menschen war so stark und ruhevoll entschieden, weil er selber nie in seinem Leben über irgend etwas, was in ihm sich regte, jene blasse und scheue Zerknirschung zu fühlen gebraucht, die dem aufrechten Wachstum so sehr schadet: Denn vor dem verstehenden und adelnden Blick der Mutter hatte es immer wie ein offenes Buch gelegen. Und obwohl nur wenige der Psalmenstrophen seiner Gesänge unmittelbar an seine Mutter gerichtet sind, lebt doch der Gedanke reiner und hoher Mutterschaft so stark durch sein ganzes Werk hindurch, daß man es beinahe in seiner Gesamtheit als ein einziges großes Weihelied an die Gebärerin ansehen kann, an „das harmonische Wesensbild der Erde, die Vollendung, über die keine Philosophie hinausgehen kann, noch will, die rechte Mutter der Menschen“.

Schauen wir so klar in die Tiefe des Wesentlichen, so will es nicht viel bedeuten, daß wir nur wenig Einzelheiten aus dem Leben von Louisa Whitman wissen. Die sie gekannt haben, schildern sie als eine übermittelgroße, sehr wohlgebaute, reiche Anziehungskraft ausströmende Frau, allezeit, bis in ihr hohes Alter, von jenem wundervollen, unbestimmbaren Hauch reiner Frische umgeben, der auch Walt Whitman so besonders zu eigen war. Sie vereinte in sich die ernste Würde und Zurückhaltung ihrer Quäkerin-Mutter mit der vollblütigen Heiterkeit des alten Majors Kate (Cornelius) van Velsor. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin und verstand sich gut aufs Erzählen und Schildern, wogegen Lesen und Schreiben nicht so recht ihre Sache war und ihr Mühe machte. Ihr ovales, von dunklem Haar und schneeweißer Haube umrahmtes Gesicht war immer von einem verhaltenen, stillen Humor erleuchtet. Sie schenkte ihrem Manne acht Kinder* und wurde nahezu achtzig Jahre alt, in fast vollkommener Gesundheit, in allen

*Jesse, geb. 1818, Walt, geb. 1819, Mary Elisabeth, geb. 1821, Hannah Louisa, geb. 1823 (Walts Lieblingsschwester), Andrew, geb. 1827, George, geb. 1829, Thomas Jefferson, geb. 1833, und Edward, geb. 1835.



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Sorgen und erschütterndem Erleben tätig und liebevoll bis an ihren Tod (1873).

Die Landschaft, in die die Augen des Kindes blickten, war die einer Insel am Rande des Weltmeeres und am Rande einer neuen Welt.

Long Island streckt sich von der Bucht von New York aus von Westen nach Osten 200 km lang und durchschnittlich 20 km breit in den Atlantischen Ozean. Es ähnelt der Gestalt eines Fisches; „fishshaped Paumanok“, „fischförmiges Paumanok“, nennt es Whitman selbst mit dem seither berühmt gewordenen alten indianischen Namen: das westliche, New York anblickende Ende, auf dem Brooklyn liegt, stellt den Kopf dar, und das östliche Ende spaltet sich, als Schwanz, in zwei Halbinseln, deren südliche der Ausläufer der Hügelkette ist, die sich als Rückgrat durch die ganze Insel, der Nordküste entlang, hinzieht und in einem kühnen Vorgebirge, Montauk Point, ins Meer springt, von einem Leuchtturm gekrönt.

An einer der zahlreichen Buchten dieser hügligen Nordküste liegt die kleine Stadt Huntington und oberhalb von ihr, auf den Hügelhängen, die Farm West Hills. Hier ist das Land fruchtbar und reich, während nach Süden hin die Höhenkette in gelinde abfallende sandige Flächen verebbt, die zum Teil von Kiefern und kargem Graswuchs bedeckt sind und in breiten, seichten Lagunen enden, die die Heimat der Heerscharen von Wasservögeln und Fischen sind. Ihnen vorgelagert leuchtet ein schmaler Streifen Sandes, eine Art Lido, aus dem Meere, auf den die atlantischen Sturmwogen herabdonnern. Hier an den Südbuchten der Insel wohnt eine ozeanisch abgehärtete Rasse von Fischern, die auch Hummern-, Austernund Muschelfang treiben.

Vor der europäischen Besiedelung war Paumanok von Rothäuten bewohnt, die in den Wäldern mit den Wölfen um die Wette jagten. Robben, Schildkröten, Schwertfische, Pelikane bevölkerten das langgestreckte, einsame Gestade, aus den atlantischen Gewässern stiegen die Fontänen der Walfische, und Wracks gestrandeter Schiffe moderten in den sumpfigen Buchten.

Mit der Triebkraft der Rassen im Blut, die sich eine neue Welt suchten und zähmten, wuchs Walt Whitman hier unter einem weithin freien Meereshimmel zwischen Hügeln auf, die das ewige

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atlantische Rauschen wie Muscheln in sich fingen — auf einer noch von Urfrische betauten Insel, die von den glühenden Sommersonnen dieser Zone (Long Island liegt auf der Breite Neapels!) bestrahlt und von gewaltigen Winterstürmen umbraust wurde. Wohl ein Schauplatz für den Neubeginn einer von starkem, frommem Staunen über ihr eigenes Erstlingsdasein auf dieser wunderbaren Welt bebenden Seele; ein aus der wirren Fülle der Alten Welt abgerückter Vorposten vor neuen Horizonten, wohl geeignet, um von ihm aus auf beide Welten und auf das eine große Daseinswunder den neugeborenen Blick Adams zu werfen und sich die Lungen zu füllen mit der Witterung einer neuen Menschheitsluft.

Eine üppige Natur drängte sich zwischen den ewig brandenden Wassern dem Kinde ans Herz mit den tausendfältigen Formen ihrer belebten und unbelebten Wesen. Ein Paradies von Blumen wuchs um die Wege der alten Farm. Eichen, Kastanien, Zedern, Akazien, Nußbäume umrauschten sie. Kohlund Maisfelder leuchteten ihm in die Augen. Weinberge glühten auf den Höhen. Zahllose Grillen geigten, Füchse schnürten zwischen den Feldern, hundert Vogelarten pfiffen und flöteten in den Hecken und Wipfeln.

Auf einem wildbewachsenen Hügel nahe dem alten Stammhaus lagen die grauen, inschriftlosen Grabsteine der Whitmans, bei denen der Knabe oftmals im ersten grünen Dämmer des Lebens zwischen den Denkmälern des Todes saß.

Long Island blieb die eigentliche Heimat Walt Whitmans während seines ganzen Lebens, abgesehen von zwei größeren Reisen in das Innere Amerikas und von den Jahren des Sezessionskrieges, die ihn nach Washington und auf die südlichen Schlachtfelder führten. Während dieses 73jährigen Lebens sah er die zerstreuten, durch widerstrebende Interessen zerrissenen Staaten zu einer mächtigen Nation zusammenwachsen, deren Bevölkerung bei seinem Tode fast siebenmal so groß war wie in seiner Kindheit. Auf seiner Insel selber durchlebte er den gewaltigen Prozeß des Herauswachsens der amerikanischen Großstadt aus dem Lande. Er sah Brooklyn, in seiner Kinderzeit eine mittlere Landstadt am Westende von Long Island, während der folgenden Jahre anschwellen und sich mit dem gegenüber, jenseits des East River, liegenden New York zu einer menschenwimmelnden, brausenden Stadteinheit von nie gesehener Lebensund Arbeitskraft zusammenschweißen.



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In den werdenden Städten Amerikas atmete, stärker als in europäischen Städten, die Kraft des Landes. Keinerlei drückende Luft von Überlieferung und Vergangenheit lag auf ihnen; alles war selbstgeschaffen und für jeden; und hier, im dichteren Gedränge jugendlich rücksichtslosen materiellen Wettstreits, blitzte die eigentümliche amerikanische Identität, aus freien Horizonten sich zusammenballend, nur um so blanker und leidenschaftlicher auf.

In der starken Brust Walt Whitmans selber wurde alle Fülle städtischen Gewühls gleichsam durch das reine, gesunde Gewebe landgeborner Wesenheit hindurchgefiltert. Er war ein lebendiges Teil in dem gewaltigen amerikanischen Epos von Stadt und Land. Was ihm in die Ohren brauste und in die Augen drängte, dröhnende Straßen, Tausende von Gesichtern und Gestalten, von Seelen, die ihn anblickten, verbrüderte sich in ihm mit dem nie verstummenden Rauschen von See und Wald und dem Licht unendlichen Himmels zu dem Gefühl von dem einen freudigen Wunder alles Lebens.



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ZWISCHEN STADT UND LAND


Maunalratta

Rechter und edler Name meiner Stadt,
Ureingeborener Schöpfungsname voller Schönheit, dessen Sinn ist:
Felsgegründetes Eiland,
Küsten, wo allezeit fröhlich schlagen her und hin die hurtigen Wogen der See.

Schon im Jahre 1823, im Mai, kurz vor Walts viertem Geburtstag, gab sein Vater die Farm West Hills auf und zog mit seiner Familie nach Brooklyn, das damals noch eine rechte Landstadt mit großen Ulmen an den Straßen und mit Ziegelund Holzhäusern war. Bereits während des ersten Jahres, das die Whitmans dort verbrachten, wuchs die Stadt um 150 Häuser, an deren Bau Walter Whitman als Zimmermann sich beteiligte.

Ein lebhaftes Hin und Her von Fährbooten vermittelte den Verkehr zwischen Brooklyn und dem größeren New York, mit dem es damals noch nicht durch die berühmten beiden riesigen Brücken verbunden war. Hier am Wasser trieb sich der heranwachsende Knabe mit stiller, schaulustiger Begeisterung herum, und bis in sein hohes Alter blieben die Fähren eine besondere Liebe Whitmans, die in einem seiner schönsten Gesänge, „Auf der Brooklyn-Fähre“, ihren starken, mystisch durchleuchteten Ausdruck fand.

Im August 1824 feierten die beiden Schwesterstädte den Besuch des Generals Lafayette, und es wird erzählt, daß der alte Freiheitsheld bei der Grundsteinlegung einer Bibliothek in Brooklyn den kleinen Walt, der im Gedränge eingepfercht stand, hochgehoben und geküßt habe.

Mit sechs Jahren besuchte Walt die öffentliche Schule in Brooklyn und die Sonntagsschule. In den Sommerferien verbrachte er mit seinen Geschwistern manche Tage auf dem Lande, in der Umgebung der alten Heimat West Hills.



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Es liegt im tiefsten Wesen Walt Whitmans, daß der dämmrige Wunderglanz der Kindheit, der Glanz des ersten wonnigen Staunens über das Sein nie in ihm erlosch; daß sich niemals in seiner Seele die Tore schlossen, die den meisten Menschen, ehe sie sich noch dessen versehen, eines Tages mit häßlichem Alltagsknarren die Bereiche der Frühe versperren und sie zu Gefangenen machen in einer entzauberten Welt, in der alle Dinge durch die furchtbare, zähe Macht der Gewöhnung verdorren und die Seele nur dumpf von Augenblick zu Augenblick hastet oder schleicht. Inmitten eines Daseins, vor dem wir stündlich bis ins Herz vor Staunen beben müßten, ringt sich diese heilige Kraft nur schwer aus den mißbrauchten Seelen, und sie wissen den Erstlingsglanz nicht mehr zu finden, in dem ihnen doch einmal Blume oder Vogel, Wind oder Stille, Nähe und Weite, das Lebende um sie her und ihr eigenes Ich erschien. Die Kraft des Staunens, die die höchste Kraft der Menschenseele und die Quelle aller Religion und alles Schöpferischen ist, wuchs in Walt Whitman ungebrochen und unverengt aus dem Blut seiner Kindheit in das Blut seiner Mannheit; dieses Staunen der Seele, das zugleich Ruhe und Geborgenheit just im Unbegreiflichen ist, dem man doch für ewig zugehört.

So fluten auch allenthalben aus der Dichtung Walt Whitmans ungebrochene Strahlen in die wonnevollen Dämmergründe seiner Kindheit zurück, und die ratlosen Kindertränen, die der Knabe vor der einsamen Gewalt der Nacht und des unendlichen, finstern Meeres bei den nur halb verstandenen Liebes und Todesklagen der Drossel geweint, funkeln wie Tau über den Gesängen des Mannes.

Tief und reich und leidenschaftlich ist das Erleben jedes Kindes, und wem es nicht späterhin durch die karge Grellheit des Alltags ausgelöscht wird, dem pulsiert es im Blut bis in den Tod. Und müßig die Frage nach herkömmlicher Lebensbetrachtung, „ob damals schon?“ und dergleichen. Kann ich von meiner Kindheit in Zungen reden, so bin ich Kind und Mann in einem, eine leibgewordene, ungebrochene Seele.


Es war ein Kind, das ausging jeden Tag,
Und was es zuerst erblickte, das wurde es,
Und das wurde ein Teil von ihm für den Tag oder für einen Teil des Tags
Oder für viele Jahre oder weite Kreise von Jahren.


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Der frühe Flieder wurde ein Teil des Kinds,
Und Gras und weiße und rote Winden und weißer und roter Klee und das Lied des Phoebevogels,
Und die Lämmer des dritten Monds und der hellrosa Wurf der Sau, das Fohlen der Stute, das Kalb der Kuh,
Und die lärmende Brut im Farmhof oder am sumpfigen Rand des Teichs,
Und die Fische, die so seltsam da unten schwebten, und das schöne, seltsame Naß,
Und die Wasserpflanzen mit ihren flachen lieblichen Köpfen, alle wurden sie Teile von ihm.

Die sprießende Saat des vierten und fünften Monats wurde Teil von ihm,
Sprossen der Wintersaat und hellgelben Korns und die eßbaren Wurzeln im Garten,
Und die Apfelbäume, bedeckt mit weißem Blust und die Früchte hernach und Waldbeeren und das gewöhnlichste Unkraut am Wege,
Und der alte Trinker, der aus dem Wirtshaus nach Hause schwankte, wo er bis spät am Abend gehockt,
Und die Schullehrerin, die vorbeiging auf ihrem Weg zur Schule,
Und die freundlichen Knaben, die vorbeigingen, und die zänkischen Knaben,
Und die saubern, frischwangigen Mädchen und der barfüßige Negerknabe mit seiner Schwester,
Und all der Wechsel von Stadt und Land, wohin immer es kam.

Seine eigenen Eltern, der Vater, der es erzeugt, und sie, die ihn empfangen in ihrem Schoß und ihn geboren,
Sie gaben dem Kinde mehr von sich selbst, als dies,
Sie gaben ihm auch später noch täglich von sich, sie wurden Teil von ihm.

Die Mutter daheim, die die Speisen still auf den Abendtisch setzte,
Die Mutter mit milden Worten, mit sauberer Haube und sauberem Gewand, der frische Duft, der von ihr und ihren Kleidern wehte, wenn sie vorbeiging,
Der Vater, stark, selbstgenügsam, männlich, böse, ärgerlich, ungerecht,


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Der Streit, das schnelle, laute Wort, Rede und Widerrede,
Die häuslichen Gepflogenheiten, die Sprache, die Geselligkeit, der Hausrat, das sehnsüchtig schwellende Herz,
Zärtlichkeit, die sich nicht scheut, sich zu zeigen; die Empfindung der Wirklichkeit und der Gedanke, ob sie am Ende vielleicht unwirklich sei,
Die Zweifel bei Tag und die Zweifel bei Nacht, das wunderliche Ob und Wie,
Ob das, was so erscheint, auch so ist, oder sind es alles nur Blitze und Flecken?
Männer und Frauen, die schnell in den Straßen drängen, sind sie nicht Blitze und Flecken, was sind sie dann?
Die Straßen selber und die Fassaden der Häuser, und Waren in den Fenstern,
Fahrzeuge, Gespanne, die aus schweren Balken gefügten Werften, das gewaltige Hin und Her der Fähren,
Das Dorf auf den Höhen, von fernher leuchtend im Sonnenuntergang der Fluß dazwischen,
Schatten, Aureole und Dunst, das Licht, das auf weiße und braune Dächer und Giebel fällt, zwei Meilen weit entfernt,
Der Schoner nahebei, der schläfrig mit der Flut treibt, das kleine Boot dahinter an losem Tau,
Die hurtigen, sich überstürzenden Wellen
Die Schichten buntfarbiger Wolken, der lange bräunliche Streifen einsam für sich, das Stück klaren Himmels, darin er regungslos liegt,
Der Rand des Horizontes, die fliegende Seekrähe, der Duft von salziger Marsch und Uferschlamm,
Sie alle wurden Teil des Kinds, das ausging jeden Tag, und jetzt noch geht, und gehn wird jeden Tag in Ewigkeit.

Stärker und schlichter als in den letzten Zeilen dieses Gesanges läßt sich die fortlaufende Einheit staunenden Schauens durch das ganze Sein hindurch nicht ausdrücken. Das Schauen weitet sich dem Mann über die Welt der Kindheit hinaus, umfaßt die ganze Erde und alle Räume, in denen andere Sonnen und Erden rollen, und umfaßt die Unendlichkeit, deren Geheimnis alles Sichtbare durchdringt und trägt. Aber die Seele dieses Schauens bleibt

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dieselbe und das Allernächste und Alltäglichste wird nicht wunderloser, sondern immer tiefer eingebettet in das Wunder des ganzen Seins. Der rätselhafte Wesenshauch, der die bräunliche Wolkenbank im klaren Himmelssee umwittert, bleibt derselbe Hauch Gottes, der um die Toten streicht, die das Auge des Dichters mitten im Gedränge des Lebens in Schwärmen schaut, oder der um die heißen Leiber von Mann und Weib duftet, die sich in den Schauern der Zeugung vereinen.

Quäkerinbrunst erschütterte auch den Knaben. Seine Eltern, obwohl der Sekte der „Freunde“ nicht zugehörig, standen ihrer Lehre doch aus freier Neigung jederzeit nahe und bewahrten ihrem damaligen Oberhaupt, Elias Hicks, die Freundschaft, die schon den Großvater Whitman mit ihm verbunden hatte. Der leidenschaftliche alte Hicks verteidigte zu jener Zeit die alte, volle Freiheit der Lehre gegen die orthodoxere Richtung des Quäkertums. Die Bibellehren und die Gestalt Christi selbst nahm er nur als etwas Geschichtliches, das erst aus dem eigenen Innern einer jeden einzelnen Menschenseele neugeboren und verwirklicht werden müsse. In jedem Menschen, lehrte er, wohnt Gott, und muß von jedem ins Bewußtsein emporgehoben werden. Ein jeder muß sein „inneres Licht“ zum leuchten bringen. Aber eben dieses in kühner Freiheit von allen Dogmen entzündete Einzellicht vereint sich dann in natürlicher Gemeinschaftskraft mit dem Geisteslicht aller Wesen und Dinge; denn der Geist ist ein und derselbe in allen.

Der greise Begeisterte mußte im Jahre 1828 der bibelstrengeren Richtung weichen und wurde aus der Sekte ausgestoßen. Kurz danach, etwa drei Monate vor seinem Tode, predigte er zum letzten Male im Ballsaal von Worrisons Hotel auf der Brooklyn-Höhe vor einer dichtgedrängten Menge, unter der sich auch die Eltern Whitmans und er selber, der neunjährige Knabe, befanden.

Es ist mehr als eine anekdotische Kuriosität, wenn sich dem Knaben die Erscheinung des mächtigen, tiefbewegten alten Predigers unvergeßlich ins Gedächtnis prägte. Indem seine des Schauens schon so frohen Augen die gebieterische, in Quäkertracht gekleidete Gestalt, das verzückte Antlitz mit dem glattgescheitelten langen Haar, der hohen Stirn und der Habichtsnase in sich tranken und seine Ohren die, wenn auch vielleicht noch unverstandenen, glühenden Worte über „die Bestimmung des Menschen“ aufsogen,

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wurde ihm zum erstenmal dunkel und feurig das Herz erschüttert von der Persönlichkeitsgewalt eines hohen Menschen und von dem Anspruch letzter, innigster Freiheit der eigenen Seele.

In vielen unbewußten elektrischen Strömen geriet tief Verwandtes in ihm in Schwingung; Eigenschaften, die hernach in dem Mann und Greis sich offenbarten als die Grundelemente seiner eigenen Lebenshaltung. Er selber liebte es, in späteren Jahren das Quäkerische in sich zu betonen. Das „innere Licht“, die Intuition der Seele, blieb ihm der Leitstern alles Tuns und Denkens; die Selbstachtung, und durch sie bedingt die Achtung vor jedem Mitmenschen war ihm immerdar Lebenselement, die Luft, in der er atmete; wenn ihn die Erhöhung und schauende Einsamkeit der Individualität nicht zur Vereinsamung, sondern zu wärmstem, strömendem Gemeinschaftsgefühl, zu jener von durchgeistigtem Eros glühenden Kameradschaft führte und zu dem Begriff wahrer Demokratie, als der freien Gemeinschaft selbstfreudiger und selbstbeherrschter höchstentwickelter Einzelmenschen, des „göttlichen Durchschnitts“ (ein Leitmotiv all seiner Dichtung), so schwingt hier der alte quäkerische Grundton von der geistigen Einheit und Gleichheit aller ins Gottesbewußtsein Eingetretenen mit.

Auch in seinem persönlichen Verhalten und Sein offenbarte sich die Rassengemeinschaft mit den alten „Freunden“; wie denn wohl jedes Ethos die Züge seiner Rasse trägt. Seine Aufrichtigkeit und Schlichtheit, seine Gelassenheit, seine Schweigsamkeit, seine Freundlichkeit gegen Jedermann, seine Gleichgültigkeit gegen geltende Gesellschaftsregeln, — all das waren echte Quäkereigenschaften. Zumal nachdem das vulkanische Feuer seiner Mannesjahre in gewaltigen Gesängen aus ihm hinausgeschleudert war, breitete sich immer mehr die Herrschaft eines milderen, sternenhaften Lichtes an seinem Himmel aus. Es sei jedoch schon hier bemerkt, daß es ein tiefer Irrtum wäre, sich Whitman auch während der Zeit seines leidenschaftlichsten und kühnsten Schaffens etwa als eine Art Gewaltmenschen vorzustellen. Das tiefste Element just seiner Wildheit ist Stille, und er vermag das Rücksichtsloseste auszusprechen, weil in seiner Sprache und Stimme immerdar der Klang mystischer Zartheit mitbebt, der Klang, mit dem die Seele mit sich selber einsame Zwiesprache hält. Jede starke Bekennerkraft stammt aus den Regionen des Schweigens und der Scheu. Die berühmten Worte

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Emersons, mit denen er ein Exemplar der zweiten Auflage der „Grashalme“ (1856) an Carlyle schickte: „Das Buch hat furchtbare Augen und Büffelstärke“, deuten nur auf ein Element des Werkes, das dem allezeit salonfähigen Emerson am stärksten fühlbar wurde. In Wahrheit beben auch die wildesten Zeilen dieser Gesänge noch von der Inbrunst, mit der sie dem Schweigen einer schweren, zarten, keuschen, frommen Natur abgerungen sind, und zwischen ihnen blitzt immer wieder ein seltsames, lässig-wehes Lächeln auf, der Schatten einer Handbewegung, die gleichsam sagen will: Wozu reden wir? was sind Worte? hörst du nicht die Sprache des Lautlosen allenthalben durch sie hindurch? — Wenn Whitman selber etwa am Schluß des „Gesangs von mir selbst“ von seinem „barbarischen Raubvogelschrei“ spricht, den er über die Dächer der Welt schallen läßt, so ist das ein dichterisches Stimmungsbild im Finale dieser gewaltigen Rhapsodie, wo ihm gewissermaßen in der Fülle des Gefühls von Leben und Tod der Atem ausgeht und er nur noch stammelnd am Rande des Sonnenuntergangs steht, wo Körperund Geisteswelt, Endlichkeit und Unendlichkeit ihm wie in flockigen, glühenden Wolkenfetzen zerfließen und irgendwo in seiner Seele etwas so Einsam-Wehes und Seliges schreit, wie es wohl wirklich aus dem abendlichen Ruf eines Falken tönen mag. (Mir klingt die letzte Zeile jenes herrlichen Gedichtes von Gottfried Keller im Ohr: „Fern, wild und weh der Falken Stimmen klangen“.) Die Rücksichtslosigkeit Whitmans ist ja nichts Gewolltes, Erzwungenes, Jähes; sondern nur das ruhige, natürliche Fortschreiten in dem reinen Aussprechen und Anreden aller Dinge und Gefühle, und just die vielbefehdeten Gesänge, die der Liebe der Geschlechter und der Verherrlichung des Geschlechts geweiht sind, strahlen von Einsamkeit, Stille und Reinheit. Eben durch dieses Aussprechen, durch diesen lebendigen Klang einer mannhaft keuschen Stimme werden alle diese Gefühle geklärt, geheiligt und in die volle Natürlichkeit des Seins emporgehoben. Es weht ein Duft um sie, nicht weniger frisch, als der den Knaben aus den Gewändern seiner Mutter streifte.

Mit elf Jahren wurde der kleine Walt in das Büro eines Rechtsanwalts gesteckt. Obwohl sich der Chef seiner freundlich annahm, ja sogar für ihn bei einer Leihbibliothek abonnierte, hielt der Knabe es nicht lange bei ihm aus. Schon im nächsten Jahr finden wir ihn als Setzerlehrling in einer Druckerei, also an einem Ort, wo hundert-

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fältige Kunde von dem Geschehen jedes Tages ihn streifte und jenes intime Interesse an den Freuden und Leiden der wachsenden Doppelstadt Brooklyn-New York in ihm geweckt und genährt wurde, das ihn für die kommenden Jahre so recht zu einem Großstädter und Bürger „seiner“ Stadt machte. Er erlernte das Druckerhandwerk gründlich und fand dabei auch im Laufe der Zeit Gelegenheit zu allerhand kleinen Ergüssen in Versen und Prosa, die zum Teil in geachteten Wochenblättern gedruckt wurden. In all seinem Tun blieb ihm eine gewisse Lässigkeit zu eigen, die Gelassenheit der Naturen, deren Bestes nicht in Betriebsamkeit, sondern in aufnehmender Stille reift. Bei allem, was ihn zum Verweilen lockte, verweilte er mit pflanzlicher Werderuhe, und die hunderttausend Zungen städtischen Lebens rauschten ihm wie Schilfgeflüster oder wie der Donner der See in die Seele, immerdar als Chor innerhalb der großen Einheit alles Seins. Er wehrt sich in den „Demokratischen Ausblicken“ einmal ausdrücklich gegen die Trennung von „Natur“ und „Stadt“; seine Sinne werden nicht abgestumpft oder überreizt durch das Treiben der Straßen, sondern sehen es mit eben der Frische an, wie Meer, Luft und Wald.

Und der Pulsschlag dieser unbändig sich entfaltenden Doppelstadt war wahrlich kein zahmer und friedlicher. Alles vibrierte von Zukunft. New York selber zählte damals schon 200 000 Einwohner und wuchs von Jahr zu Jahr. Menschen aller Rassen strömten dem herrlichsten aller Seehäfen zu und mischten ihr Blut stürmisch mit der alten englischen Einwandererrasse. Sonnenglut und Winterkälte dieser kontrastreichen Zone leuchtete und schnob durch die Straßen. Broadway wimmelte schon damals von tausenderlei Fahrzeugen, Postwägen, Omnibussen, Kutschen, Reitern, zum Teil viel farbiger und gestaltenreicher, als heute. Breites demokratisches Treiben erfüllte ihn. Das Grau gewaltiger Steinbrücken, die Riesenformen der Wolkenkratzer fehlten noch; dafür leuchteten die Backsteinbauten farbiger und lustiger, und auch das gelegentliche Wüten der Feinde menschlicher Siedelung wurde zum furchtbaren Fest. Der Feuerruf lockte Tausende mit seinem Getöse der Glocken und Hörner herbei zu der flammenden Arena, wo die rotberockten Feuerwehrleute inmitten der verschlungenen Eingeweide von Spritzenschläuchen, Leitern, Haken, Stricken ihre Arbeit auf Leben und Tod verrichteten. Im Dezember 1835 brannten allein 13 Morgen

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alter Gebäude in drei Tagen bis auf die Grundmauern ab. Mehr als einmal hören wir in Whitmans Gesängen den Feuerlärm gellen! Theater öffneten sich am Abend, vor allen das riesige, 3000 Zuschauer fassende Bowery-Theater, wo berühmte englische Gäste vor einer kindlich begeisterten, tobenden Volksmenge von Arbeitern und Handwerkern spielten, als Gefeiertster der große Booth, den der etwa 15jährige Whitman dort zum erstenmal als Richard den Dritten sah, — zum erstenmal durchschauert von der Macht künstlerischen Ausdrucks, lebendigen Worts, beseelter Gebärde. Immer wieder nur rückblickend können wir in die Erschütterungen seiner Jugend hineinleuchten, — können wir uns vorstellen, wie die Gewalt gesprochenen Wortes ihn treffen mußte, der bis in die späten Mannesjahre hinein fast ebenso stark wie zum Dichter, sich zum Redner berufen glaubte, zum großen Volksredner, der „mit mächtiger Zunge Amerika führen, Amerika bezwingen“ könnte!

Unterhalb des gewaltigen materiellen Aufschwunges der jungen amerikanischen Staaten begannen immer leidenschaftlicher die Gegensätze zu branden, von deren Ausgleich letzten Endes alle Zukunft der Union abhing. Man muß daran denken, in wie hohem Grade die politischen Grundlagen Amerikas rein ideell und doktrinär waren. Zwei Namen, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton, bezeichneten die Gegensätzlichkeit zweier Grundanschauungen aller staatlichen, ja überhaupt jeder Gemeinschaftsbildung. Jefferson, der Vater der demokratischen Partei, vom Geiste Rousseaus erfüllt, lehrte die Anwendung des Ideals völliger individueller Freiheit und Unbeschränktheit auf die staatliche Gemeinschaft. Die Einheit der Union dürfe die Rechte der Einzelstaaten auch nicht um ein Jota verkürzen, genau wie jedes einzelne Individuum unabänderlich frei und souverän sein müsse. Hamilton dagegen war sozusagen demokratischer Aristokrat; er verachtete das „Volk“ an sich und sah alles Heil nur in einer starken einheitlichen Bindung, in der Kräftigung und dem Ausbau der Union, des Föderalismus. Beide Doktrinen, in einer rein ideellen Sphähre wohl versöhnbar, lösten im lebendigen Leben der Staaten Fragen aus, die stürmisch gegeneinander prallten. Und zwar wurden diese Fragen immer mehr zu Kampfparolen des Südens gegen den Norden.

Der industrielle Norden wuchs schneller als der vorwiegend Getreide und Baumwolle pflanzende Süden. Industrie braucht Schutz

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und starken Zusammenschluß; der immer stärker sich entwickelnde Unionsgedanke äußerte sich im Norden unter anderem durch das Verlangen nach Schutzzoll. Der Süden, in partikularistisch-agrarischer Gelassenheit gegenüber dem Unionsgedanken, durchweg demokratisch im Sinne Jeffersons, wünschte keinerlei Hindernisse für seine Ausfuhr. Er empfand das Verlangen des Nordens nach einer die ganze Union umfassenden Zollschranke als eine föderalistische Anmaßung gegenüber dem natürlichen Recht der Einzelstaaten. Dazu kam eine andere Frage, an sich zweiten Ranges, aber vermöge der ihr innewohnenden rein menschlichen Wucht geeignet, zum Schlagwort zu werden: die Sklavenfrage.

Im Grunde widersprach die Sklaverei, die in den Südstaaten im Schwange war, dem demokratischen Grundsatz von der Gleichheit aller Individuen, und in der Tat wurde diese Frage späterhin die Ursache zu einer Spaltung der Demokratischen Partei. Das Aufblühen des Baumwollhandels hing jedoch so wesentlich — wenigstens der im Süden landläufigen Meinung nach — von der Beibehaltung der Sklaverei (oder der „Institution“, wie man euphemistisch sagte) ab, daß das im Norden immer lauter werdende Verlangen nach „Abolition“, nach Abschaffung der Sklaverei wiederum nur als Angriff des übermütigen Nordens gegen die Grundrechte des Südens empfunden wurde. Jedoch, wie gesagt, ein großer Teil der Demokratischen Partei selber war zwar für den Freihandel, aber dennoch ebenfalls gegen die Sklaverei. Und überhaupt war in lebendigem Wachstum aller Kräfte des jungen Staatenbundes das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Stolzes auf die Zukunft der Union dermaßen in ständigem Zunehmen begriffen, daß vorläufig noch jeder Sezessionsgedanke zurückgewiesen wurde. Es kam in der Tariffrage ein Kompromiß zustande, und Süd-Carolina, das allein mit Sezession gedroht hatte, unterwarf sich einem etwas gemilderten Schutzzoll.

Inmitten all dieser lebendig auf ihn eindringenden Strömungen war Walt Whitman zu einem langgliedrigen, siebzehnjährigen Burschen herangewachsen, der sich in allerhand journalistischer Federfertigkeit geübt und im Umgang mit Menschen sich vielerlei Erfahrung und Bildung angeeignet hatte.

Mit einer der jähen Wendungen, die in seinem Leben nicht selten sind, kehrte er im Jahre 1836, im Frühling, der Stadt den

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Rücken und ging in die atlantische Stille von Long Island zurück. Er ließ sich zunächst als Dorfschulmeister in dem kleinen Städtchen Babylon nieder; für einen jungen, landgeborenen Amerikaner der damaligen Zeit eine nicht eben sehr erstaunliche Berufsveränderung. Babylon lag an der großen Bucht des Südgestades der Insel, von wo er im Norden die blaue Hügelkette oberhalb Huntingtons sehen konnte.

Man mag in dem Entschluß, für mehrere Jahre — mit Unterbrechung — den Beruf eines Lehrers auszuüben, die Lust an persönlicher, unmittelbarer Wirkung erkennen, etwas von jenem Eros, der vielleicht in jeder Neigung zur Pädagogik lebendig ist. Jedenfalls kam bei Whitmans Lehrertum das Leibhaftige seiner Wesenheit nicht zu kurz; alle Aussagen früherer Schüler von ihm sind sich einig darin, daß seine eigentliche erzieherische Wirkung in seiner Persönlichkeit lag, in der unbestimmbaren, frischen, reinen Anziehungskraft, die von ihm ausströmte, in voller Gelassenheit und Freundlichkeit, unbeeinträchtigt durch schulmeisterliches Gehaben und Launen. Seine Stellung zu den teilweise mit ihm gleichaltrigen Schülern war eine ungezwungene Mischung von Kameradschaft und Autorität. In den freien Stunden trieb er sich mit den Mädchen und Knaben auf der Lagune und auf See herum, beim Fisch-, Krabbenund Muschelfang, immer umatmet von dem Tangund Salzgeruch und der vielbewegten Weite der atlantischen Küste, immer im Angesicht der ruhelosen Unendlichkeit des Ozeans, von der er später selbst sagte, daß sie ihm von früher Jugend an das Gebot zugerauscht habe, sie nicht nur in seiner Dichtung zu verherrlichen, sondern eine Dichtung zu schaffen, die selber so wie das Meer wäre.

Im Frühling des Jahres 1838 finden wir ihn wieder in Huntington, wo er eine Wochenschrift „Der Long Islander“ gründete, die heute noch erscheint. Er war Drucker, Redakteur und Verleger zugleich. Er hatte sich eine Presse und Typen gekauft und seine Druckerei in der oberen Etage eines Gebäudes eingerichtet, das heute ein Stall ist. In diesem etwa vier Seiten starken Wochenblatt brachte er seine politischen und moralischen Anschauungen mit Lebhaftigkeit und Schärfe zum Ausdruck. Vor allem wandte er sich gegen die Sklaverei, gegen den Alkohol und gegen die Todesstrafe. Eine puritanische Neigung zum Moralisieren war

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stark ausgeprägt. Er selber hatte es sich damals zum Gesetz gemacht, nicht zu trinken, zu rauchen und zu fluchen, ebenso kam ihm schon damals, wie sein ganzes Leben lang, niemals ein schlüpfriges Wort, ein zweideutiger Witz oder dergleichen über die Lippen. Sein Gefühl für persönliche Würde und Beherrschtheit war allezeit lebendig. Das hohe Pathos seiner späteren Dichtung warf sein klares Licht voraus; dieses Pathos, das so gar nicht der großen Worte bedurfte, sondern im Gegenteil die ungezwungenste Alltagssprache, den Stimmklang des eigenen leibhaftigen Fleisches und Blutes suchte.

Er hatte sich ein Wägelchen und ein Pferd beschafft und fuhr damit auf der Insel umher, um den Lesern sein Wochenblatt ins Haus zu bringen. Alles in allem eine fröhliche, selbständige, lebendige Tätigkeit, die er sich immer wieder in tastenden Versuchen zu schaffen bemüht war. Immer aber so frei von aller Betriebsamkeit und allem wirklichen Geschäftsgeist, immer so dem Ruhevollen, Verweilenden, Lässigen, Aufnehmenden zugetan, daß ihm kein rechter äußerer Erfolg blühen wollte. Das Erscheinen des Blattes wurde immer unregelmäßiger, bis endlich die Abonnenten die Geduld verloren und ihn im Stich ließen, so daß die Redaktion geschlossen wurde und der „Long Islander“ erst nach einem Jahr wieder unter anderer Leitung erschien.

Whitman selber war wieder Schulmeister in Babylon geworden und blieb es noch zwei Jahre lang. Der Drang nach etwas anderem, breiter und stärker und eigenartiger Wirkendem, trieb ihn jedoch auch schon während dieser Zeit zu politischer Betätigung. Er trat bei der Wahlversammlung von 1840 selber als Redner auf und sprach für die Präsidentschaftskandidatur van Burens, der von der Demokratischen Partei aufgestellt war, aber derjenigen Richtung angehörte, die die Abschaffung der Sklaverei verlangte. Es zog ihn nun immer stärker in die bewegtere Welt zurück, und im Sommer 1841 trat er in die Druckerei der „New World“ in New York als Setzer und Mitarbeiter an. Er gehörte seitdem zwanzig Jahre lang der Genossenschaft der New Yorker Drucker an.

Es kam nun eine lange Zeit vielfältiger journalistischer Tätigkeit für Whitman. Er schrieb, nachdem er seinen ersten Publikumserfolg mit einer Novelle, „Der Tod in der Schulstube“, die



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in der „Tribune“ erschien, errungen hatte, eine lange Reihe kleiner Erzählungen, Skizzen und Gedichte, die in allerhand Tagesund Wochenblättern erschienen, allesamt ohne dichterischen Wert und, obwohl aus jeweils aufrichtigen Überzeugungen entsprungen, dennoch durchaus sentimental und ohne Eigenart in ihrer Wirkung. Er schwang sich sogar zu einem großen, ziehmlich kümmerlich zusammengestoppelten Tendenz-Roman gegen die Trunksucht auf, „Franklin Evans“ benannt, der in zwanzigtausend Exemplaren gedruckt werden konnte und von dem er später mit lässiger Ironie sagte, er habe ihn mit Hilfe schäumenden Gerstensaftes in einer Bierstube am Broadway geschrieben.

Es war, als ob die wahre Natur und Sprache Whitmans sich in diesen sieben Jahren hätte durchringen müssen durch den schemenhaften Wust der wurzellosen Schreibsprache zweiten und dritten Aufgusses. Hie und da blitzte in einem Aufsatz, in einem Gedicht, in einer Novelle ein Wort oder Satz auf, der von einer anderen, neuen, unverfälschten Natürlichkeit strahlte. Aber im allgemeinen ließ nichts an diesen Erzeugnissen den wahren Walt Whitman ahnen. Ja, die Probleme von Gut und Böse, mit denen er sich herumschlug und die er an etwas krampfhaft konstruierten Fällen demonstrierte, gingen ihm zwar offenbar ehrlich nahe, blieben aber dennoch in der Sphäre eines gewissen, leidigen Moralisierens haften. Trotz alledem lebte in der Art, wie er sich diese düsteren Zusammenhänge schuf, die das Gute im Bösen verstrickten, etwas Kindlich-Demonstratives, Missionshaft-Primitives, das nicht ganz ohne Beziehung zum Tonfall seiner späteren Gesänge war. Jedenfalls aber waren diese wie für eine puritanische Fibel geschaffenen Erzeugnisse Schalen um den würzigen, langsam reifenden Kern seines Wesens, die sich leichter abstreifen ließen, als etwa literarisch raffinierte Kunstprodukte.

Irgendwie blieb er damit doch in der Sphäre lebendiger Wirkung, und das leidenschaftlich bewegte politische Leben tat das seine, ihn darin zu erhalten. Er kam durch seine Beziehungen zur „Democratic Review“ häufig in das Hauptquartier der Demokratischen Partei, Tammany Hall, wo er mit vielen der bedeutendsten Politiker und Schriftsteller zusammentraf, und im Jahre 1846 wurde er zum Herausgeber der großen demokratischen Tageszeitung „Brooklyn Daily Eagle“ ernannt.



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Die Druckerei seiner Zeitung lag in der Nähe der Fähre, und dieser Platz an der ewig pulsierenden Schlagader, die die beiden Seestädte verband, war ihm von Herzen recht.

Denn wenn wir auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit dieser Jahre etwas, zwar nicht eigentlich Abwegiges, so doch noch Dumpfes, Befangenes empfinden, so blieb sein leibhaftiges Wesen und Sein doch in stetem, fruchtbarem und natürlichem Wachstum begriffen. Alle die tausend Keime der Dinge, die er in sich aufnahm, schlugen an und sproßten in der Wärme seiner Seele, unbeeinträchtigt von der Schreibarbeit des Tages. Im steten Wechsel zwischen Stadt und Land — denn er streifte an jedem Wochenende draußen in Long Island herum — wuchsen ihm alle Wesenheiten dieser Erdenheimat üppig und wunderbar ineinander, und ob er sich in das herbe Gras der Küste schmiegte oder in das Gewimmel der Straßen tauchte, immer geschah es mit der gleichen Lust der Zugehörigkeit; die stumme Umarmung der Natur löste ebenso wie die brausende Nähe seiner Mitmenschen die Wonne seines eigenen Fleisches und Blutes und das wohlige Daseinsstaunen seiner Seele aus, und irgendwie wuchs lautlos die reine Sprache, jenes Erstlings-Anreden aller Dinge in ihm immer mächtiger, zu dem er sich noch erst dunkel berufen fühlte; und das Antlitz jener Gottheit, die er mit zarten Worten später als die höchste feierte, der Wahrheit, begann sich ihm immer klarer zu entschleiern. Die höchste Beseligung, deren der Mensch fähig ist, das Gefühl des Behaustseins im eigenen Ich, im Wunder des beschränkten und doch unendlichen Raume des eigenen Leibes und der eigenen Seele, entfaltete sich immer bewußter in ihm. „In unseren besten Stunden“, sagt er später in den „Demokratischen Ausblicken“, „steigt ein Bewußtsein, ein Gedanke in uns auf, unabhängig, hoch über allem anderen, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identität, — der deinigen für dich, wer du auch seist, wie der meinigen für mich. Wunder der Wunder, über allen Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdenträume, und doch die festeste Grundtatsache und der Zugang zu allem Geschehen. In solchen andächtigen Stunden, inmitten der bedeutsamen Wunder von Himmel und Erde, (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und Konventionen ab und werden belanglos vor dieser einfachen Idee.



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In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert für uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Märchen dehnt sie sich, einmal entfesselt und erkannt, über die ganze Erde aus und reicht bis and das Dach des Himmels.“

Im stetig werdenden Gefühl dieser „Grundtatsache“ in der eigenen Brust und im lebendigen Ausströmen dieses Gefühls durch die gesunde, warme Leibhaftigkeit seines Körpers hindurch schlenderte er in wacher, elektrisch bebender Lässigkeit durch das Getümmel der brausenden Stadt, überall aufnehmend, Licht, Schatten, Laute, Farben, Gutes und Böses wie mit empfindlichen Antennen in sich empfangend, und überall Wohlgefühl, Sympathie, Magnetismus verschenkend, an geistige Menschen wie an das einfache Volk, Freund mit allen, nicht geschwätzig, betriebsam, sondern schweigsam, gelassen, mehr schauend, als redend, und allen, bei denen er halt machte oder denen er die Hand auf die Schulter legte, das wohltuende Gefühl der Bedeutsamkeit und des Sinnes ihrer Tätigkeit, ihres Berufs oder Handwerks vermittelnd. Er kannte die Kapitäne und Mannschaften der Fährboote, war befreundet mit den Omnibuskutschern und liebte es leidenschaftlich, neben ihnen hoch auf dem Bock sitzend durch das vielgestaltige Gewühl des Broadway zu fahren. Er ging in die Theater, den Zirkus, die Bibliotheken und Museen; er war unter der Volksmenge, die im Jahre 1842 Dickens bewillkommnete oder staunend die erste Lokomotive bejubelte, die auf dem neuen Schienenstrang von Buffalo her ankam. Er besuchte Gerichtssäle, Gefängnisse, Bordells, — durch keinen Schatten irgendeines Vorurteils von irgendeinem Menschenwesen geschieden, gar keines Vorurteils fähig, sondern immer nur schauend, mitfühlend, aufnehmend, im stillen Besitz jenes wunderbaren Etwas, das sich in keine Dumpfheit menschlicher Für und Wider hineinzerren läßt, sondern durch alles hindurchgeht wie der Geist wachgewordenen Lebens selber, während sein Herz schon in stummer Sprache die Worte redete, die er noch nicht in Laute zu übersetzen vermochte, — ja die er vielleicht in all seinen Gesängen, die wie keine zuvor die transparente Kraft der Andeutung entfalteten, dennoch niemals ganz übersetzt hat, wie er denn selber, in dem „Lied von der rollenden Erde“, die Worte preist, die keine Worte der Menschensprache sind, sondern die lautlos in Erde und Himmel und Welten wie in den Zügen eines Mundes oder in einer

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Gebärde ruhen. Ja, noch in späteren Jahren konnte er von dem Gefühl des ewig Unaussprechlichen so überwältigt werden, daß er jene weh-grimmigen, vom herrischen Gelächter äußerster Einsamkeit durchschütterten Strophen schrieb, die ich dieser Einleitung als Motto vorangestellt habe, — Gelächter, das zu hören uns von dem wahren Wesen all seines Dichtens mehr offenbart, als alle wohlgeordnete Betrachtung. Denn was anderes lacht darin, als dieselbe Kraft, die im All zugleich schafft und zerstört, die nach Gestalt ringt und in der Gestalt selber, ja in der höchsten, die sie zu bilden vermochte, der leiblich-seelischen Menschengestalt selber, jubelnd, wild, selig das Gestaltlose grüßt? Und so erst verspüren wir jenen von tiefster Bedingtheit bebenden Klang in Whitmans wunderbarem Alltagspathos, der aus dem Wagnis stammt, trotzdem Worte zu bilden, in Worte das Unfaßbare zu fassen.

Wir fühlen im Steigen dieser Werdejahre, wie die Hüllen, die die starken, saftstrotzenden Knospen seiner Dichtung noch umschließen, von verhaltener Triebkraft beben und bereit sind, über Nacht aufzubrechen, wenn noch die letzte warme Zeugungswelle über sie haucht. Und sie kam mit dem Frühling des Jahres 1848.



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SÜDLICHE GLUT


O magnetischer Süden!

O magnetischer Süden! o gleißender würziger Süden! mein Süden!
O feuriger Sinn, o üppiges Blut, Triebkraft und Liebe! Böse und Gut! O mir so lieb! . . .
Wiederum gleite ich in Florida auf durchsichtigen Seen, ich gleite auf dem Okeechobee, ich streife durch das Hügelland oder durch liebliche Lichtungen oder dichte Forste,
Ich sehe die Papageien in Wäldern, ich sehe den Melonenbaum und den blühenden Eisenholzbaum;
Wiederum, an Deck meines Küstenschoners, segle ich an Georgia hin und segle an Carolina hin,
Ich sehe, wo die immergrüne Eiche wächst, die gelbe Pinie, der duftende Lorbeerbaum, die Zitrone und Orange, die Zypresse, die zierliche Zwergpalme,
Ich fahre an rauhen Vorgebirgen vorbei und biege in den Pamlico-Sund durch schmale Zufahrt und schaue ins Land hinein;
O die Baumwollstaude! Die sprießenden Reis-, Zuckerund Hanffelder!
Die dornenbewehrte Kaktee, der Lorbeerbaum mit großen weißen Blüten,
Die Bergkette in der Ferne, die unberührte Üppigkeit, die alten Wälder, beladen mit Misteln und hängenden Flechten,
Der Harzduft und das ernste Dunkel, die schauernde Stille der Natur (hier in diesen dichten Sümpfen trägt der Freibeuter seine Flinte und hat der Flüchtling seine versteckte Hütte).
O der fremde Zauber dieser nur halb erforschten, halb undurchdringlichen Sümpfe, durchwimmelt von Reptilen, widerhallend vom Bellen des Alligators, von den traurigen Lauten der Nachteule und Wildkatze, und von dem Schnarren der Klapperschlange,
Der Spottvogel, der Gaukler Amerikas, der den ganzen Vormittag singt und singt durch die mondhelle Nacht,
Der Kolibri, der wilde Truthahn, der Waschbär, das Opossum;
Ein Kornfeld in Kentucky, das hohe, geschmeidige, langblättrige Korn, schlank, schwankend, hellgrün, gefiedert, mit herrlichen Ähren, jede wohlgeborgen in ihrer Hülse;
O mein Herz! o zärtliche, wilde Schläge, ich kann sie nicht aushalten, ich will fort! . . .
O unbezwingbare Sehnsucht! O ich will wiederkehren nach Alt-Tennessee und nie wieder wandern.



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Obwohl die Eigentümer des „Daily Eagle“ der Richtung der Demokratischen Partei angehörten, die die Rechte der Einzelstaaten um jeden Preis gewahrt wissen wollte und also jeden Eingriff der Union in die Sklavenfrage als eine Herausforderung des Südens betrachtete, war Whitman dennoch nicht gewillt, aus seiner Stellung zu dieser immer brennender werdenden Frage ein Hehl zu machen. Die daraufhin erfolgende Kritik der Eigentümer der Zeitung an seiner Gesinnung beantwortete er mit einer Kündigung, so wenig er auch materiell in der Lage war, einen sicheren Posten leichthin aufzugeben.

Den leidenschaftlichsten und dichterisch bedeutsamsten Ausdruck hatte er seinem Abscheu gegen die Sklaverei in einem Gedicht „Blutgeld“ gegeben, das in der „Tribune“ erschienen war, unterzeichnet „Paumanok“. Hier löste er sich zum erstenmal aus herkömmlichen Versmaßen und goß seinen Grimm in freie Rhythmen, und zum erstenmal klingt hier ein Stimmton, der die kommende Dichtung Whitmans verkündet, noch ringend, gleichsam mit einer schweren Zunge, die erst reden lernt, aber doch deutlich vernehmbar. Das Gedicht wurde in späteren Jahren in den Sammelband der Prosaschriften Whitmans, in einen kleinen Anhang von Jugendarbeiten aufgenommen. Das glühende Gefühl Whitmans für die Leiden der Sklaven kommt in den „Grashalmen“ des öfteren zu leidenschaftlichem Ausdruck, dann freilich von jedem Beigeschmack der Aktualität befreit.

Das Gedicht lautet:


BLUTGELD


„Schuldig am Leib und Blute Christi“


1

Einst, als die Zeit erfüllt war,
Daß der wundervolle Gott, Jesus, sein Werk auf Erden beenden sollte,
Ging Judas hin und verkaufte den jungen Gottessohn
Und ließ sich bezahlen für seinen Leib.


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Fluch traf die Tat, noch ehe der Schweiß der krallenden Hand vertrocknet war,
Und Finsternis furchte sich über dem, der das Ebenbild Gottes verschachert,
Wo er hing in der Luft, als schleuderte die Erde ihn von ihrer Brust
Und wiese der Himmel ihn zurück,
Von eigner Hand gehenkt.

Mit langen Schatten sind die Kreisläufte schweigend vorgerückt
Seit jenen alten Tagen, — und manch ein Beutel sackte indessen ein
Sein Sündengeld, gleich jenem für Marias Sohn.

Und immer noch zischt die Frage:
„Was wollt ihr mir geben, so will ich diesen Menschen an euch verraten?“
Und sie schließen den Handel und zahlen die Silberlinge.



2

Blick’ her, Erlöser,
Blick’ her, Auferstandener von den Toten,
Über die Wipfel des Paradieses;
Siehe dich selber immer noch in Banden,
Mühselig und beladen trägst du wiederum Menschengestalt,
Du wirst geschmäht, gegeißelt, in Ketten gelegt,
Gehetzt von der frechen Herde der andern,
Mit Stangen und Schwertern drohen die willigen Diener der Obrigkeit,
Wieder umringen sie dich, toll vor teuflischem Haß;
Die Hände der Menge strecken sich aus nach dir, wie Geierklauen,
Die Niederträchtigsten speien dir ins Gesicht, sie schlagen dich mit den flachen Händen;
Wund, blutig und gefesselt ist dein Leib,
Zu Tode betrübt ist deine Seele.

Blutzeuge der Qual, Bruder von Sklaven,
Mit deinem Preis ist deines Ebenbildes Preis noch nicht bezahlt,
Und immer noch schachert Ischariot.




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Im Januar 1848 schied Whitman aus seinem Redaktionsposten, und im Februar desselben Jahres* geschah es, daß er eines Abends im Foyer des alten Broadway-Theaters einem Herrn aus dem Süden vorgestellt wurde, der ihm von der Gründung einer neuen Zeitung, dem „Crescent“, in New Orleans sprach und ihn kurzerhand als Mitherausgeber engagierte.

Je wacher und leidenschaftlicher in Whitman das Gefühl der Zugehörigkeit zu der Rasse seiner Neuen Welt geworden war und die alte, nun ins Seelisch-Menschliche übertragene Pionierlust, in und mit dieser Rasse hier auf riesigem, jungfräulichem Kontinent das Neuland des Menschen zu entdecken und zu erobern, aus diesem vielgestaltig-kraftstrotzenden Schöpfungslehm die höheren, vollkommenen Söhne und Töchter dieser Neuen Welt und somit der ganzen Erde zu schaffen, um so stärker mußte es ihn verlocken, nun auch jenen so ganz andersartigen, mächtigen Teil dieser amerikanischen Heimat kennenzulernen, der in den Südstaaten der Union verkörpert war.

Je mehr ihm durch eben jene Kraft des Staunens die Welt des Stoffs zum Sinnbild wurde, das von geistiger Unendlichkeit durchleuchtet ist, das heißt mit anderen Worten, je tiefer er alle Erscheinungen liebte um des Wunders ihrer Existenz willen, je ergreifender und wonnevoller ihm alle Wesen und Dinge aufleuchteten als traumhaft farbige, faßbare, bewegte, leidende und beseligte Realität inmitten der ewigen, einigen Realität des Unsichtbaren, — um so tiefer mußte ihn ein weiterer Schritt in diese leibhaftige Erscheinungswelt erschüttern, zumal in einen Teil dieser Welt, der mit aller blühenden Schöpfungspracht, mit neuen Farben und Düften, neuen Klängen, Gebärden und Charakteren, mit neuer Sonnenkraft und Zeugungsfülle sich vor ihm auftat.

Denn der Süden der Vereinigten Staaten war vom Norden ebenso weltverschieden, wie etwa die Länder des südlichen Mittelmeers von Norddeutschland sind, ja in manchem Sinne wohl noch mehr.

2Die Jahreszahl ist umstritten. Whitman selbst gibt in seinen autobiographischen Notizen einmal das Jahr 1848, einmal das Jahr 1849 für seinen Aufenthalt in New Orleans an.



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Whitman fuhr aus dem noch rauhen Februar seiner Zone in den üppigsten Frühling hinein.

Es bedarf kaum eines Hinweises, mit wie ganz anderem Gefühl ein Mann eine eigene Reise über einen Teil dieser Erde empfindet, der gewöhnt ist, sich der Weltraumslage und der täglichen und jährlichen Bewegung dieser Erde bewußt zu sein. Wenn er auf dem Ohio entlang durch die erst neubesiedelten Staaten Ohio, Indiana, Kentucky und Illinois, die noch von Urwaldfrische gleichsam dampften und dufteten, in den Vater der Gewässer, den Mississippi hineinfuhr, so breitete sich das ganze Leben dieses gewaltigen Stromes vor seiner Seele aus, der mit seinen reichen Nebenströmen das Ackerland von halb Amerika bewässert und den er als die wahre Schlagader der Neuen Welt ansah, um die sich das innerste Leben einer herrlichen Menschenzukunft gruppieren müßte. Die geographische Größe rief ebenbürtige geistige und dichterische Größe zuerst noch dunkel und drangvoll in ihm zum Wettstreit auf, — irgend etwas ganz Neues, Unmittelbares, Erobererstarkes, alle älteren Kulturen Fortführendes, Vollendendes, oder wenigstens ihnen Gleichwertiges.

Mit solcher Werde-Unruhe mischte sich andere Bewegtheit, persönlicher, heißer, dämmriger: vielleicht altes wallisisches Blutsfieber von den Ahnen her, das die gelassene Leidenschaftlichkeit seiner Natur zum ersten Mal mit heißerem Würzen durchbrannte. Die alles Sein lockende und lösende Kraft des Südens strömte ihm entgegen. Die Wonnen, die starken Naturen mit Wehen nahen, verkündeten sich seiner Seele von ferne, seiner Seele, die nicht anders konnte, als sich allem öffnen, was von draußen nach Einlaß und von drinnen nach Auslaß drängte. Eine Luft schlug ihm entgegen, in der tausend bisher noch nicht entfaltete Sprossen und Triebe sich plötzlich mit unbändiger Lust regten und streckten, und in der ihn die Ahnung von der Macht überwältigte, die ihm von nun an das Leben alles Lebens werden sollte, die Urkraft des Weltalls, das beseelte Mysterium aller Neugeburt, die Macht des Geschlechtes, der Zeugung.

Seine Unruhe fand einen noch befangenen, zahm gereimten und gewissermaßen lehrhaften Ausdruck in einem Gedicht, das er während der Fahrt auf dem Mississippi schrieb und in dem er den „Strom der Jugend“ anruft und den Steuermann, der auf ihm

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das Schiff lenkt, vor üppigem Erschlaffen und sorgloser Wollust warnt.

Im schöpferischen Werdegang öffnen sich plötzlich Sphären, die mit einem Male eine Heimatluft um den Genius atmen und in denen alles, was sich bisher auf keine Weise sagen oder gestalten ließ, nun mit der Erstlingsfrische und dem geheimnisvollen, vieldeutigen, herben Zauber Gestalt annimmt, mit dem es im Innersten erahnt und geschaut wurde.

Die Dinge behalten denselben Namen, aber er klingt anders. „Baum“ ist nicht mehr „Baum“, „Hand und Mund“ nicht mehr „Hand und Mund“, „Herz“ nicht mehr „Herz“; Wonnen der Neugeburt beginnen zu walten.

In eine solche Sphäre trat Whitman offenbar mit diesem Frühling 1848 ein.

Sie stand under dem Zeichen einer Liebe, deren Stärke und Glut wir nur eben aus dieser ihrer Wirkung auf seine Dichterkraft und aus einigen wenigen Anzeichen ahnen können, da er selbst bis an seinen Tod den Schleier des Geheimnisses darüber gebreitet hat. Weder vornoch nachher ist uns von einem Herzenserlebnis Whitmans etwas bekannt, und es scheint in der Tat, als ob dies die einzige große Leidenschaft seines Lebens gewesen ist; wie ja denn auch das Gesetz der Einmaligkeit über all seinem Wesen und Schaffen zu walten scheint: der allesumspannenden Einmaligkeit, die wie in einer großen Umarmung sich mit dem Dasein vermählt. Denn es sei schon hier gesagt, daß seine Dichtung, nachdem sie einmal ihre Ausdrucksform gefunden hatte, sich in einem mächtigen vulkanischen Ausbruch verschleuderte, dem zwar immer wieder noch Feuerströme folgten, die jedoch ebensogut nur gleichartige Teile der ersten Glut hätten sein können. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir nicht frühere und spätere Epochen an seinen Gesängen gut zu unterscheiden vermöchten. Jedoch gehört dazu schon einen ziehmlich genaue Kenntnis Whitmans; eine Einteilung des Schaffens in verschiedene, jeweils in sich geschlossene, aufbauende Ringe und Kreise, wie etwa die aus Goethes Werk sich ergebende, ist bei ihm nicht denkbar. Die Maschen seines zuerst nur 95 Seiten starken Buches waren so weit gewebt, daß er die vielen noch folgenden Gesänge in sie verteilen konnte. Er sang das eine große, freilich vielfältige Thema, das im Grunde

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weder Anfang noch Ende hat. So konnte er denn auch etwa an den Schluß der dritten Auflage von 1860 bereits das Gedicht „Lebwohl“ stellen, das wie der Abschied eines sterbenden Greises klingt, obwohl er es als Vierzigjähriger schrieb, und das er auch in den ganz späten Auflagen der „Grashalme“ ohne irgendeine störende Wirkung mit Fug wiederum an den Schluß stellen durfte und stellte. Er zog die Umrisse seines Werkes von vornherein so weit und geräumig, als hätte er einen visionären Vorausblick über sein gesamtes Schaffen gehabt.

Das New Orleans von damals war ein Gemisch aus Frankreich, Spanien, Venedig und Amerika.

In weicher, üppiger Luft lag es, halb modern, halb altertümlich, an den Golf von Mexiko gedrängt, mit seiner katholischen Kathedrale, die von tausend wirren Ziegeldächern, Galerien und Höfen umlagert und von einer Fülle südländischer Blumen und Bäume umduftet war. Musik und Gesang, weiche kreolische Laute lagen in der Luft. Priester wandelten in langen Gewändern durch die Straßen, in denen sich ein Durcheinander von Pflanzern, Händlern, Abenteurern drängte. In strengerer Abgesondertheit schloß sich die vornehmste Aristokratie der Neuen Welt zusammen. Nirgends in den Staaten lebte ein so feudaler Kastengeist wie hier, — gemildert durch die Weichheit der Zone, durch die allgemeine Fröhlichkeit, die sich in bunter Romantik mit Tänzen, Karnevals, Duellen, Liebesabenteuern austobte. In der Gesellschaft wurde viel französisch gesprochen. An der Seite der Stadt jedoch, die nach dem Mississippi hin lag, brodelte das Schifferund Matrosenviertel, mit zahllosen Spelunken, Kneipen und Spielhöllen, eine wilde, von Verbrechern durchlungerte Welt. Und hin und her in der Stadt trieb eine verwegene Künstlerund Literatenbohême ihr leichtsinniges Wesen.

Aus einigen spärlichen mündlichen und brieflichen Andeutungen Whitmans geht nun hervor, daß er hier in dieser bewegten, schönen Stadt eine Frau traf, die er ebenso leidenschaftlich liebte wie sie ihn.

Wer es war und in welchen Kreisen er sie kennen lernte, ob in der Gesellschaft oder im Volk, wissen wir nicht. Die meisten Biographen nahmen bisher an, es sei eine Dame der südlichen Aristokratie gewesen, deren Liebe zu einem Journalisten und

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Handwerker aus dem Norden ein so ungeheuerlicher Bruch mit den Anschauungen ihrer Klasse war, daß an eine Heirat nicht zu denken war. Whitman reiste nach drei Monaten plötzlich aus New Orleans ab und kehrte in den Norden zurück; und diese fluchtartige Abkehr wird gedeutet als Folge etwa des Einschreitens der Verwandten der Dame, denen etwas von ihrem Verhältnis zu Whitman zu Ohren gekommen war. Das lebenslange Schweigen des Dichters über alle Einzelheiten dieses tiefgreifenden Erlebnisses, das so sehr im Widerspruch steht zu seinem sonstigen freien Aussprechen aller Dinge, die ihn bewegten, wäre dann als eine vielleicht von den Verwandten geforderte, vielleicht auch freiwillige Rücksichtnahme zu erklären. Neuere Biographen glauben keinen Grund für eine solche Deutung zu sehen und meinen, diese Geliebte habe ebensogut eine Frau aus dem Volk sein können, die ihn, wie so viele Hunderte in New York, eben nur als „Walt“ kannte und liebte, ohne zu fragen und etwas anderes von ihm zu fordern, als Gegenliebe. Aus dem einen, ja wohl einzigen Gedicht Whitmans, das einem persönlichen, besonderen Liebeserlebnis gilt und das zweifellos auf die Zeit in New Orleans zu deuten ist, nämlich dem Gedicht „Einst kam ich durch eine volkreiche Stadt“ (in den „Kindern Adams“) ergibt sich in jeder Hinsicht auch keinerlei bestimmte Deutung. Es spricht nur für die Stärke seines Gefühls und fast noch mehr des Gefühls der Frau. Es gibt ein paar Äußerungen Whitmans, die mit aller Bestimmtheit aussprechen, daß er noch einige Male in den Süden zurückkehrte. Nun ist uns aber sein Leben nach der Veröffentlichung der „Grashalme“ (1855) so bis in alle Einzelheiten bekannt, daß wir von diesen Besuchen wissen müßten, wenn sie nach 1855 stattgefunden hätten. Wir können sie also schlechterdings nur in die Jahre zwischen 1848 (49) und 1855 unterbringen, die weniger offen vor uns liegen. Da es unter anderem auch durch Whitmans eigene Aussage bekannt ist, daß er sechs Kinder hatte, nimmt man an, daß er also in jenen Jahren des öfteren seine Geliebte wiedersah. Ob das gerade zu jener ersten Deutung passen würde, es habe sich um eine von den Verwandten streng behütete Dame der Gesellschaft gehandelt, lasse ich dahingestellt. Neuere Biographen neigen zu der Annahme, diese sechs Sprößlinge stammten gewiß nicht von derselben Mutter. Vor allem glauben sie das aus der Stelle eines Briefes Whitmans an den ihm befreundeten

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englischen Kritiker Addington Symonds zu erkennen, wo Whitman schreibt: „Ich habe sechs Kinder gehabt — zwei davon sind gestorben — habe ein lebendes Enkelkind im Süden, einen feinen Buben, der mir gelegentlich schreibt — Umstände (Rücksichten auf die Vermögenslage der Kinder) haben uns intimere Beziehungen unmöglich gemacht.“ Es scheint, mit anderen Worten, daß den Kindern ein gewisses Vermögen entzogen worden wäre, wenn Whitmans Vaterschaft anerkannt worden wäre; ein Umstand, der zugleich gewisse törichte Vorwürfe entkräftet, Whitman habe sich, ähnlich wie Rousseau, nicht um seine Kinder gekümmert. Aus der Wendung „habe ein Enkelkind im Süden“ schließen nun jene neueren Kritiker, daß er auch noch andere Enkelkinder im Norden gehabt habe, also Kinder von einer oder mehreren anderen Frauen. Andrerseits scheint mir grade dieser Hinweis auf Vermögensumstände denn doch sehr stark gegen die Annahme zu sprechen, jene Frau sei irgendein anonymes Weib aus dem Volke gewesen.

Wie dem auch sei, — wer immer sich tiefer in Whitmans Werdegang einfühlt, wird in der Liebe zu dieser südlichen Frau das eigentlich einzige erschütternde Herzenserlebnis des Dichters empfinden müssen; alles übrige kann getrost weiterer biographischer Forschung überlassen bleiben*.

Whitman verließ also New Orleans, nachdem er das ganze vielfältige Leben der Stadt in sich aufgenommen hatte, am 25. Mai, zur Freude seines fünfzehnjährigen Bruders Jeff, den er als Helfer in der Druckerei mitgenommen hatte und dem das südliche Klima schlecht bekam.

So kurz die Zeit gewesen war, so fuhr er doch als ein anderer wieder den Mississippi hinauf und durch den Missouri, dann nach dem jungen Chikago, durch die großen Seen Michigan, Huron und Erie bis zum Niagarafall und in das südliche Kanada, und schließlich auf dem Hudson wieder nach New York zurück. Die Fahrt dauerte fünf herrliche Sommerwochen, in deren Glanz viele helle, aufblühende Städte an den Ufern an ihm vorüberzogen, im Hintergrunde immer die riesigen, von Fruchtbarkeit strotzenden Siedelländer.

*Während ich diese Zeilen in Druck gebe, wird soeben ein Buch des New Yorker Professors Emmory Holloway angekündigt, das neues Material zu dieser Frage bringen soll. Es liegt zur Zeit noch nicht vor.



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Im ganzen war er fast vier Monate von New York-Brooklyn weggewesen und hatte siebzehn Staaten der Union mit eigenen Augen gesehen, so daß sie „Teil von ihm“ wurden, gleichwie alles, was das Kind erblickte, „das ausging jeden Tag“. Mit der unvergänglichen Nachglut des Südens im Blut kehrte er heim nach Manhattan.



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FRUCHT

Komm, sagte meine Seele,
Laß uns nun solche Verse schreiben für meinen Leib (denn wir sind eins),
Daß, sollt’ ich unsichtbar nach meinem Tode wiederkehren,
Oder in andern Sphären, lange lange hin,
Ich ewiglich mit freudigem Lächeln weitersingen mag,
Für irgendeine Schar von Freunden neu anstimmend
(Im Einklang mit der Erde Boden, Bäumen, Winden, stürmischen Wogen),
Ewig und ewig zu meinen Versen mich bekennend, —
Gleichwie ich jetzt und hier zum erstenmal,
Zeichnend für Leib und Seele, meinen Namen vor sie setzte:
Walt Whitman.

Anläßlich des Krieges gegen Mexiko hatte sich die demokratische Partei endgültig gespalten; die Richtung, die gegen Ausdehnung der Sklaverei auf die eroberten mexikanischen Gebiete stimmte, war ausgeschieden. Ihre Mitglieder, zu denen auch Whitman gehörte, nannten sich jetzt „Freiland-Demokraten“. Die Grundsätze dieser Richtung vertrat Whitman in einer Tageszeitung, „Freeman“, die er selber gründete und in Brooklyn herausgab. Sie ging aber schon nach einem Jahr wieder ein, wahrscheinlich weil der Herausgeber von allzuviel andersartigen Ideen erfüllt war, um sie erfolgreich zu leiten. So entschloß Whitman sich kurzerhand, die journalistische Tätigkeit an den Nagel zu hängen, und da sein Vater just um diese Zeit zu kränkeln anfing, trat er in sein Geschäft ein, das darin bestand, kleine Holzhäuser in Brooklyn im Rohbau zu errichten und auf Fertigstellung zu verkaufen. Bei dem schnellen Wachstum der Stadt war das ein einträgliches Geschäft, und Whitman war bald auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden.

Wenn es nun zwar wohl auch eine etwas verklärende Deutung übereifriger Bewunderer ist, zu sagen, das Geldverdienen sei ihm zuwider gewesen, und er habe, um der Armut treu zu bleiben, seine Bautätigkeit bald wieder eingestellt, so ist doch soviel wahr,

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daß ein höheres Interesse dieses ersprießliche Handwerk während der folgenden Jahre immer mehr in den Hintergrund drängte und ihn so beanspruchte, daß er, unbekümmert um Gewinn oder Verlust, jederzeit dem Drang nach Muße und Freiheit nachgab, nicht immer zur Freude des besorgten, ein wenig verbitterten Vaters.

Dieses Interesse war nichts Geringeres, als der feste Entschluß, dem amerikanischen Volke, das ihm nun auf seiner Reise in leibhaftiger Breite, Frische und Vielfältigkeit nahe gekommen war, den geistig-dichterischen Ausdruck zu geben, der seiner Eigenart und Jugendkraft gerecht wurde und der gleichsam die Bibel einer durch und durch modernen, demokratischen Menschheit darstellen sollte. Mit allen bewußten Sinnen richtete er die Kräfte dieser sieben Jahre, die noch bis zum Erscheinen der „Grashalme“ vergingen, auf dies Ziel.

Dieser Drang, die Wesenheit seines Volkes geistig darzustellen und gleichzeitig durch diese Darstellung die höchsten Kräfte in ihm zu erwecken, war die natürliche Emanation seines starken, nach Ausdruck ringenden Gefühls von dem Wunder und der Erstmaligkeit seines eigenen Seins, in das er ja, mit verwandtem Fleisch und Blut, alle die tausend Erscheinungen und Regungen, Freuden und Leiden der Rasse aufgesogen hatte und immer weiter Tag für Tag aufsog.

Der heiße Adel leidenschaftlicher Liebe, vielleicht zugleich mit der Schwermut der Entsagung, die ihn aber nicht niederdrückte, sondern noch höher in die Sphäre des Allgemeinen hob, mag ihn noch ungeduldiger aus dem Tagesbetrieb der Zeitungsredaktion hinausgedrängt haben durch die Fülle der neuerwachten Empfindungen, die nach Zeit und Ruhe verlangten, um durchgefühlt und zur Reife gebracht zu werden. Man fühlt, wie eine Dichtung, die so ganz aus dem Seienden, Verweilenden stammt, in diesen sich zur Erfüllung steigernden Jahren alles andere an sich reißen und auftrinken mußte. Der Zimmermannsberuf brachte schon mehr Muße und Beschaulichkeit; die feste, schlichte Gegenständlichkeit der Handarbeit, der Aufenthalt in frischer Luft, die reale Zugehörigkeit zum leiblichen Leben und Werden der Stadt selber, die er bedingte, förderten den inneren Zusammenschluß des Gerüstes der Gedanken. Jedesmal, wenn ein Holzbau fertig war, gönnte sich

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Whitman eine oft wochenlange Ferienzeit, während der er sich in die Natur zurückzog, um auf der Insel herumzustreifen und am Strande in der Sonne zu liegen, zu baden, zu lesen und zu deklamieren. Hier erprobte er die ersten Versuche zu seinen Gesängen an der Natur selber. Er suchte in ihnen den Rhythmus, der dem der See antwortete.

Auch bei der Arbeit hatte er immer ein Buch oder eine Zeitschrift oder Zeitung in der Tasche. Er war sein Leben lang ein eifriger Zeitungsleser. Sie vermittelte ihm das Gefühl von realer Vielheit, von lebendigem Geschehen, aus ihr hörte er das dumpfe Brausen der Menge und ihres Ineinanderbrandens, das er so liebte, jenes „enmasse“, dem er sich und seine Dichtung verschwor. Er las die alten Klassiker, Äschylos und Sophokles, Plato, las Dante und Shakespeare und Ossian, den Don Quichote und die Nibelungen, und was ihm sonst an Büchern in die Hände kam. Von früher Jugend an waren ihm „Tausendundeine Nacht“ und die Balladen Scotts lieb und vertraut. Er selber sagt, er sei in jüngeren Jahren so recht ein alles verschlingender Bücherfresser gewesen; eine Feststellung, die vielleicht ein wenig übertrieben ist.

Gleichzeitig las er eifrig, wenn auch freilich ohne jedes System, naturwissenschaftliche und philosophische Werke. Wissenschaft und Philosophie empfand er — immer aus der innersten Sphäre reiner Daseinsschau heraus — durchaus nicht als Gegensatz zur Poesie, vielmehr als nährend und fruchtbar für sie. Die Wissenschaft machte ihm die erschaute Welt nur noch reicher und vielfältiger, die Philosophie bedeutete ihm Vereinheitlichung des Vielfältigen. Die Zweiheit von Selbst und Nichtselbst, von Subjekt und Objekt wurde ihm lebendig zusammengehalten durch das wahre „Ich“, durch den Weltgeist, der Subjekt und Objekt gleicherweise durchflutet. In diesem Sinne ist die sich durch seine Gesänge hindurchziehende Dreiheit: „Ich, meine Seele und mein Leib“, „seltsames Trio“, zu verstehen. Für diese aus seinem lebendigen Sein geborene Anschauung fand Whitman die mit Leidenschaft begrüßte Bestätigung in dem Kern der Philosophie Hegels. Das innerste Prinzip dieser Philosophie ist die Versöhnung der Gegensätze. Jedes endliche Ding ist es selbst und doch nicht es selbst; denn dadurch, daß es in Beziehung steht zu dem, was es begrenzt, trägt es das Element seiner Auflösung in sich. Die Seele kann nicht durch die

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Materie vernichtet werden, denn die Materie ist nur eine Objektivation der Seele. Das Böse ist böse nur für unsere Anschauung; für das „Absolute“ sind Leid und Tod nur notwendige Stufen im ewigen Fortschritt. Das Böse ist der Schatten des Guten. Die ewige Wahrheit trägt es mit sich fort, um es endlich ganz im Guten aufgehen zu lassen. Im Bereiche der Menschheit sind unsere Körper nur ein Teil der objektiven Inkarnation Gottes. Da die Seele unteilbar ist, ist das, was unsern Körper und Geist beseelt, zugleich Allseele. Dies ist bei Whitman gemeint mit der mystischen Indentifikation [sic] seines „Ich“ mit dem Absoluten; und hierin liegt der Grund zu der Gleichstellung von Seele und Leib. Seele und Leib, beide Gott-Substanz, bilden im Meere der Unendlichkeit eine Einzelidee, die zugleich absolut und individuell ist.

Diese ganze Anschauung, deren weiterer Verzweigung ich hier nicht nachgehe, ist bei Whitman durchaus nicht systematisch ausgebaut; sie blitzt nur im großen Strom seiner Ich-Gesänge hie und da in kronkreten [sic] Worten auf, die mit unbekümmerter Unmittelbarkeit etwa aus Hegel oder Schelling oder griechischer Philosophie übernommen sind, und rauscht nur groß und weit und wortlos hinter allem. Denn die „verzehrende Lust“, von der er „rasend“ ist, ist nicht das Verlangen, einen philosophischen Gedankenaufbau zu errichten, sondern seine Wesenheit selber mit mystischer Kraft zum Ausdruck zu bringen, in der die Wirklichkeit, der lebendige Traum des Seins pulsiert. Das Wunder der „Identität“, das Wunder des Absoluten, des „wahren Ich“ im individuellen Ich, der ineinander verschlungenen Endlichkeit und Unendlichkeit lebt in ihm, klopft im Herzschlag jeder Sekunde, schaut, hört, fühlt, riecht, denkt, jubelt, leidet in ihm und allen seinen Sinnen. Die Worte, nach denen er ringt, sind Andeutungen auf die ewig lautlosen, ewig wahren Worte; er sucht jedes von ihnen so ganz mit dem Arom seiner eigenen staunenden Wesenheit zu durchtränken, daß durch sie, durch ihr leidenschaftliches Gedränge oder durch ihre zarteste, bebende Vereinsamung in irgendeinem hingeflüsterten Satz die Sphäre heraufbeschworen werde, in der allein erst das wahre Verstehen dessen, was er meint, möglich ist: die Sphäre einer tief natürlichen Ekstase, jener Ekstase, die uns alle angesichts des unerhörten Wunders unseres Daseins täglich und stündlich in Bann halten müßte und von der aus uns jegliche Alltagsgleichgültigkeit,

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jede Beruhigtheit in der Sphäre fragwürdiger Vertrautheit mit heute und morgen eigentlich als das größte und dumpfste Wunder erscheinen müßte.

Daher auch die immerwährende Hindeutung darauf, daß er ganz etwas anderes sei, als seine Leser vielleicht zunächst denken mögen; daß er ihnen ständig und mit jedem Wort entgleite, aber dennoch „irgendwo“ ruhig und gelassen auf sie warte. Denn das, was da wartet, ist eben das mystisch-natürliche Bewußtsein vom wahren, allgemeinen, absoluten Ich, das im Leser sowohl wie in ihm selber lebt und zu dem hinzuführen der ganze Sinn seines Dichtens ist. Daher ist es auch so schwer, etwas über Whitman auszusagen außerhalb der Sphäre, die er selber eben erst schafft und die erst fühlbar macht, worum es sich eigentlich handelt. Daher die Transparenz seiner Worte, das seltsam Erregende, Erstmalige, Neugeborene in und unter ihnen. Daher auch die besondere, erschütternde Gewalt des Wortes „Liebe“, das alle seine Gesänge durchtönt; der Liebe, die nichts anderes ist, als eben die bebende Wärme und das alles Zeugens und Gebärens frohe Zugehörigkeitsgefühl zu der im Unendlichen schwebenden, vom Unendlichen durchfluteten Leibhaftigkeit, das sich zu seiner höchsten, zartesten, feurigsten Intensität steigert im Kameradschaftsgefühl. Der bedeutende englische Kritiker und Gelehrte John A. Symonds schrieb: „Whitman ist in der Tat im höchsten Grade verwirrend für die Kritik. über ihn reden ist wie über das Universum reden . . . Er gleicht dem Universum, nicht nur, weil er so weit und umfassend ist, sondern weil er ungreifbar, entweichend, auf den ersten Blick widerspruchsvoll und in gewissem Sinne formlos ist.“ („Walt Whitman“, Seite 33.) Alles ist ihm die Wesenheit, das Arom, der Daseinszauber seines Buches; am liebsten wäre es ihm, der Leser, der Liebende, der Kamerad trüge es bei sich in der Rocktasche, so daß es an seiner Hüfte ruhte und nur recht nahe bei ihm wäre; denn es ist kein Buch, „wer dies berührt, berührt einen Mann“. Es ist auch nicht in die Zeit eingeschlossen; Jahrhunderte und Jahrtausende, rollende Kreisläufte sind wesenlos im ewig seienden Fluten der Wahrheit. Die ewige Wiederkehr ist die ewige Gegenwart.

Dr. Richard M. Bucke, der erste und immer noch grundlegende Biograph Whitmans (und andere Betrachter nach ihm) möchte es so deuten, als ob dieses universale Daseinsgefühl Whitman um

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diese Zeit in jäher, mystischer Erleuchtung eines Tages überkommen hätte, an jenem Sommermorgen wahrscheinlich, dessen Erleben Whitman im fünften Satz des „Gesang von mir selbst“ in lächelndem Zwiegespräch mit seiner Seele nachtastet, zu der er redet:


Ich gedenke, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigen Sommermorgen,
Wie du dein Haupt quer über meine Lenden legtest und dich leise über mich kehrtest
Und das Hemd streiftest von meinem Brustbein und tauchtest deine Zunge in mein entblößtes Herz
Und hinaufreichtest, bis du meinen Bart fühltest, und hinabreichtest, bis du meine Füße hieltest.

Alsbald erhob und breitete sich um mich der Friede und das Wissen, das höher ist als alle Beweisgründe der Erde,
Und ich weiß, daß die Hand Gottes die Gewähr für meine eigene Hand ist,
Und ich weiß, daß der Geist Gottes der Bruder meines eignen Geistes ist,
Und daß alle Männer, die je geboren, auch meine Brüder sind, und die Weiber meine Schwestern und Liebsten;

Und daß der Richtkiel der Schöpfung Liebe ist,
Und zahllos Halme aufgerichtet oder geneigt auf den Feldern,
Und Ameisen braun in den winzigen Löchern an ihren Wurzeln,
Und moosiger Schorf der Schlupfwinkel von Würmern, Steinhaufen, Hollunder, Königskerzen und Scharlachbeeren.

Diese Biographenart, eine solche mit dem ganzen Wesen von Kind auf emporwachsende Empfindungsund Bewußtseinskraft in eine bestimmte Stunde der Erleuchtung zu drängen, scheint mir jedoch etwas allzu programmatisch, selbst wenn man es so deutet, daß mit dieser Stunde nicht der Inhalt, wohl aber die letzte Intensität dieser Offenbarung geboren worden sei. Die Intensität Whitmans ist ein Werden von Tag zu Tag, in ihrer Einheit immer lebendig, nur immer weiter ausgreifend, in sich hinein und in die Welt umher; und die Empfindungskraft des Kindes angesichts der

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nächtlichen See und im Lauschen auf den Liebesund Todesgesang des Vogels („Aus der ewig schaukelnden Wiege . . .“), ist an Wesen und Stärke dieselbe, wie die einer solchen sommerlichen Seelenstunde des Mannes. Auch daß etwa das Erwachen der Ausdruckskraft, die Geburt der Worte in diese Stunde zu verlegen sei, wäre eine engherzige Deutung; seine eigenste Sprache wuchs Whitman in all diesen Jahren langsam, in vielen Versuchen und Mühen heran und war kein vom Heiligen Geist jäh herabgeschicktes Zungenlallen, sondern ein in strenger Arbeit errungenes Kunstmittel, das er immer wieder und wieder dem, was er innerlich klingen hörte, immer reiner anzupassen suchte.

In völliger Verkennung Whitmans hat man auch bei uns — irre gefÜhrt durch schlechte übertragungen — von dem „rohen Golde“ geredet, das Whitman gleichsam wild und formlos um sich her schleudere. Wenn er selber sagt, er bringe nur den Stoff zu neuen Gesängen, so meint er natürlich etwas ganz anderes, viel Tieferes, nicht etwa, daß er diesen Stoff in roher Form brächte. Es ist ein rechtes Armutszeugnis, wenn gewisse Kritiker es für nötig halten, darauf hinzuweisen, daß Whitman mit früheren, wohlgereimten Gedichten und auch mit einigen, sich metrischer Form wieder annähernden Altersgesängen seine Fähigkeit zu kunstgerechter Form bewiesen habe, daß also doch so etwas wie Absicht in der Freiheit seiner Rhythmen liegen müsse *. Whitman selber weist in einem seiner Prosaaufsätze Reim und Metrik als Kunstmittel für die neue demokratisch-kosmische Dichtung, die er einleitet, ausdrücklich zurück, da nur die freie rhythmische Sprache sich der unendlichen Bewegtheit der neuen Themen anzupassen vermöge.

Das Werdende in ihm erfüllte Whitman von Jahr zu Jahr ausschließlicher. Es konnte geschehen, daß er lohnende Bauaufträge

**Es würde hier zu weit führen, im ganzen und einzelnen auf die Frage der Form Whitmans einzugehen. Ich hoffe, soweit es überhaupt möglich ist, in meiner übertragung das wunderbar Atmende im Rhythmus dieser Gesänge, das jäh Hineilende, überstürzende, dann wieder wie atemlos Innehaltende, in zartem Verweilen sich dämmrig-zärtlich bis an alle Fernen des Seins Ausbreitende, und all die hunderfältigen Lautfärbungen, Tonfälle vom Schrei bis zum Flüstern einigermaßen unverdorben wiedergegeben zu haben. Ich weise im übrigen hier nur auf die ausgezeichnete Kritik an Whitmans Stil und Form hin, die Basil de Sélincourt in seinem Buche „Walt Whitman, Eine kritische Studie“ (London 1914) gegeben hat.



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unberücksichtigt ließ und einfach davonging, seinen Gedanken nach. Die Familie lebte in auskömmlichen, aber doch knappen Verhältnissen. Die Krankheit des Vaters wurde immer ernster. Drei der Brüder, George, Jeff und Edward, halfen mit verdienen, und die Mutter und Walts Lieblingsschwester Hannah schalteten im Hause. Der älteste Bruder scheint als Arbeiter auswärts gelebt zu haben, und die zweite Schwester Mary war vermutlich schon verheiratet. Die wachsende Gleichgültigkeit Walts gegen die Bedürfnisse des Tages wird sicherlich oft mit Sorge und Unmut betrachtet worden sein, wenn auch die immer gleiche Liebe ihn umgab und man immer noch in den meisten Angelegenheiten ihn um Rat fragte.

Im Jahre 1853, zwei Jahre vor dem Tode des Vaters, machte Whitman mit ihm einen Besuch in Huntington, damit er dort noch einmal sein altes Heim sähe.

Im Frühjahr 1855 gab er die Zimmerei endgültig auf, um sein Manuskript abzuschließen, und im Frühsommer ging er in eine kleine Druckerei, wo er es mit eigener Hand setzte. Anfang Juli, wenige Tage bevor der Vater starb, war er damit fertig. Am 6. Juli zeigte er es in der „New York Tribune“ an. Es kostete zwei Dollars, obwohl es nur ein schmaler Band von 95 Seiten war, ziehmlich groß im Format, seegrün gebunden, mit dem goldgedruckten Titel „Grashalme“ auf dem Einband. Diese Ausgabe gehört heute zu den kostbarsten Seltenheiten.

Die Familie kümmerte sich um das Ereignis nicht sonderlich und würde sich auch wohl nicht darum gekümmert haben, wenn der Tod des Vaters nicht alle Gedanken und Gefühle beherrscht hätte. Man kann sich die Stimmung selbst etwa der liebevollen Mutter gegen dieses „Werk“ vorstellen, dem zuliebe ihr Walt während der letzten Monate zu einem rechten Faulenzer geworden war, der am Morgen aufstand, wann es ihm paßte, zum Essen zu spät kam und oft tagelang kaum zu sehen war.

Das Buch bestand aus einem langen Vorwort oder Manifest über die neue Dichtung und den neuen Dichter (siehe Prosaschriften!) und zwölf Gedichten gleichsam als Beispielen dafür. Der Verfasser war nicht genannt, nur prangte gegenüber dem Titelblatt das seither berühmte Bild, auf dem Whitman in Gürtel und Hemd, mit breitem Schlapphut, die eine Hand in der Tasche, die andere leicht

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in die Hüfte gestützt, in lässiger Haltung zu sehen ist, — das „rowdy-Porträt“, wie empörte Kritiker es nannten. Es wäre verfehlt, in dieser Aufmachung des Buches eine Pose zu sehen, wie Unverständige es getan haben; vielmehr ist sie der Ausdruck einer amerikanisch-kindlichen Unmittelbarkeit und Resolutheit, vielleicht nicht ganz frei von einem Beigeschmack jener dort üblichen Art von Reklame, die den zu überzeugenden gleichsam am Rockknopf faßt und nicht locker läßt. Liegt ja doch auch in Whitmans Dichtung selber in einem undliche höheren, vergeistigten Sinne etwas von diesem unmittelbaren „Herankriegen“ des Hörers, von diesem direkten Anreden im allernatürlichsten Tonfall der Welt, so daß zum Beispiel Basil de Sélincourt einen gewissen Kreis dieser Gesänge als „conversational poems“, etwa als „Gesprächsgedichte“ bezeichnet.

Die einzelnen Gedichte hatten keine Sondertitel. Das erste und größte, in der nächsten Auflage „Walt Whitman“ und späterhin „Gesang von mir selbst“ genannte, bildete den wesentlichen Hauptteil des Buches. Unter den übrigen waren besonders bedeutungsvoll „Die Schläfer“, die „Gesichter“ und „Es war ein Kind, das ausging jeden Tag“. Wir sehen hier wiederum jene Weitmaschigkeit der ganzen Anlage, denn die zuletzt genannten Gesänge rückten später viel weiter hinter neueingeschobene zurück.

Whitman hatte erwartet, sein Buch würde als Erfüllung oder wenigstens als verheißungsvoller Versuch zur Erfüllung der zweifellos damals lebendigen Sehnsucht nach einem ur-amerikanischen Dichter begrüßt werden, als Beginn einer Loslösung von europäischer Literatur, der Amerika bisher nichts Eigenartiges entgegenzustellen hatte, außer etwa in gewissem Grade die Schriften und Gedichte Emersons, der aber selbst einmal, als man ihn als neuen amerikanischen Dichter ansprach, mit den Worten abgewehrt hatte: „Der neue amerikanische Dichter wird ganz anders aussehen!“

Wenn also Whitman auch auf Widerspruch, ja Empörung gewisser Leute gefaßt war, so hatte er doch eines nicht erwartet: Gleichgültigkeit. Gerieten nun auch einige Zeitungskritiker dermaßen in Wut über das Buch, daß sie den Verfasser als entsprungenen Tollhäusler bezeichneten, der öffentlich gepeitscht werdem müsse, und anderes mehr, so verharrten die meisten doch

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nur in geringschätzigem Schweigen, und das Publikum selber kümmerte sich kaum um das grasgrüne Monstrum.

Die Neue Welt, die in ihrer Existenz und deren Formen selber einen Komplex neuer Ideen darstellt, ist dennoch neuen Ideen, wenigstens geistigen, nicht günstig gesinnt. Es fehlt ihr an einer Menschenklasse, die ihrem Charakter und ihrer Tradition nach auf neue Horizonte begierig ist und sich mit Lust auf den Marsch begibt, wenn sie von irgendeinem Sehenden verkündet werden. Walt Whitman selber wurde in breiterem Maße und mit Leidenschaft erst von England und danach von Deutschland und Frankreich her anerkannt, und noch heute hat Amerika im großen und ganzen nichts Besseres zu tun gewußt, als ihn durch mechanische Verherrlichung unschädlich zu machen.

Es wäre natürlich ganz verkehrt und kurzsichtig, etwa, wie es geschehen ist, Whitman einen Vorwurf daraus zu machen, daß just auch das breite Volk, an das er seine Dichtung vor allem gerichtet wissen will, wohl am allerwenigsten zu seiner Leserschaft zu rechnen ist. Denn das Gewaltig-Volkstümliche, an das er sich wendet, ist ebensogut ein Teil seines Wesens, und bei Schöpfungen von solchem Ewigkeitsgehalt kann man schlechterdings nicht fragen: wem sind sie gesungen oder geschrieben? sondern sie entstehen und dauern in der Welt und im All und strömen ihre Wirkung aus, wie ein Weltkörper sein Licht ausströmt.

Was Whitman an Zukunftskraft und Jugendfrische und Stoff zu erhöhter Demokratie—einer Gemeinschaft voll entfalteter, selbstbewußter und selbstbeherrschter, liebevoller Menschen — in Amerika empfindet, war und ist zweifellos vorhanden; sonst hätte das Verwandte in ihm nicht mit solcher Inbrunst sich dieser Wesenheit zugewendet. Daß er in seinem Ich etwas zum höchsten Menschlichen Gesteigertes, freudig Gottbegeistertes daraus macht, was zunächst über jene Wesenheit hinausgeht und von ihr nicht mit der brüderlichen Lust aufgenommen wurde, die Whitman erwartet hatte, ist eine andere Frage, die mit dem Wert und der Macht seiner Dichtung nichts zu tun hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß auch der Begriff Amerika für ihn ein Symbol, oder besser ein „Idol“ ist, das wahre Urbild der leibhaftigen Erscheinung Amerika. Kaum je vor ihm hat jemand so erbarmungslos und klar die Schäden und Schwächen Amerikas erkannt und gebrandmarkt,

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wie er etwa in seinen „Demokratischen Ausblicken“. Dennoch blieb sein Glaube an die tieferen Kräfte seiner Rasse unerschüttert, weil er selber ja dieser Rasse war und fühlte, daß das Neue, Zukunfthafte in ihm eben doch wieder ursprünglich amerikanisch war. Jeder Genius wirkt in und mit dem Stoff seiner Rasse und Zeit und erhebt sich ins Zeitlose nur aus ihr heraus.

Whitman war erfüllt von dem Gedanken, daß der wahre Dichter, wie er ihn begriff, in keinerlei Gegensatz zu dem lebendigen Leben in Fleisch und Blut steht, daß sein Dichten gar nicht etwa mehr oder wertvoller ist, als das reine Dasein gesunder, froher, tätiger, liebender Menschenkinder selbst und daß er sein erhabenstes Gedicht und seinen reichsten Wohllaut im eigenen Körper, in den „stummen Linien seiner Lippen und seines Gesichts und zwischen den Wimpern seiner Augen und in jedem Gelenk und jeder Bewegung“ tragen müsse. War freilich auch ein lebhafter Ehrgeiz und Verlangen nach Anerkennung in ihm lebendig, das ihn sogar zu manchem ungeduldigen Schritt drängte, den er besser nicht getan hätte, so gab ihm jene Überzeugung doch Ruhe genug, um die literarischen Kritiken mit Gleichmut über sich ergehen zu lassen. „Im ganzen bekannten Universum“, sagt er in der herrlichen Vorrede zur Erstausgabe, „lebt ein wahrhaft Liebender, und das ist der größte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Glück oder Unglück, und empfängt täglich und stündlich seinen köstlichen Lohn.“ — „Als mein Buch“, erzählte er in späteren Jahren einem Freunde, „allenthalben einen solchen Sturm von Wut und Schmähungen wachrief, machte ich mich davon, an das Ost-Ende von Long-Island und verbrachte den Spätsommer und den ganzen Herbst — den glücklichsten meines Lebens — in der Nähe von Shelter

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Island und Peconic Bay. Dann ging ich wieder nach New York zurück mit dem verstärkten Entschluß, in dem ich auch nie wieder wankend wurde, mit meinem dichterischen Unternehmen auf meine Weise fortzufahren und es, so gut ich könnte, zu Ende zu führen.“

Ein Amerikaner jedoch, und nicht der schlechteste, wurde sogleich von dem Geist dieser „Grashalme“ tief ergriffen: und das war Emerson: Emerson, der selber in so vieler Hinsicht ähnliche Gedanken in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht hatte, wenn auch nicht mit der Kraft persönlicher Verwirklichung dessen, was er mit Worten klarzumachen suchte. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß Emersons Bücher Whitman den letzten Antrieb zur Gestaltung seiner Ideen gegeben hatten. Im einzelnen auf diese Wirkung einzugehen, würde hier zu weit führen. Genug, zu sagen, daß eben jene Kraft Whitmans, allen seinen Worten die geheimnisvoll erregende Wirklichkeit einzuflößen, die aus dem Zauber seines Seins kam, Emerson fehlte und durch seine mehr intellektuelle Art nicht ersetzt werden konnte.

Emerson also richtete aus seinem Heim in Concord bei Boston am 21. Juli 1855 jenen berühmten Brief an Whitman, der so lautete:

„Werter Herr, — ich bin nicht blind gegen den Wert der wunderbaren Gabe Ihrer „Grashalme“. Ich halte sie für die außerordentlichste Probe von Geist und Weisheit, die Amerika noch je beigebracht hat. Sie zu lesen, macht mich sehr glücklich, denn große Kraft macht uns glücklich. Das Buch begegnet sich mit der Forderung, die ich seit jeher gegen unsere anscheinend so unfruchtbare und karge Natur erhebe, in dem Sinne, daß zuviel Handarbeit oder ein allzu wässriges Temperament unsern westlichen Geist gedunsen und gemein macht. Ich beglückwünsche Sie zu Ihren freien und tapferen Gedanken. Ich habe große Freude daran. Ich finde unvergleichliche Dinge unvergleichlich gut gesagt, just so, wie es richtig ist. Ich finde jene Kühnheit der Behandlung darin, die uns so entzückt und zu der nur eine starke Empfindung begeistern kann.
Ich grüße Sie zum Beginn einer großen Laufbahn, hinter der indessen irgendwie schon ein weites Feld der Vorbereitung liegen muß, nach solch einem Start zu urteilen. Ich rieb meine


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Augen ein wenig, um zu sehen, ob dieser Sonnenstrahl keine Täuschung sei; aber der solide Geist des Buches ist eine leibhaftige Gewißheit. Es hat das Beste, was ein Buch haben kann, nämlich es stärkt und ermutigt.
Ich wußte bis gestern abend, als ich es in einer Zeitung angezeigt fand, nicht, ob ich den Namen als wirklich und gültig der Post anvertrauen könnte. Ich habe den Wunsch, meinen Wohltäter zu sehen, und fühlte mich lebhaft versucht, meine Arbeiten zu unterbrechen und nach New York zu kommen, um Ihnen meine Wertschätzung auszusprechen.

R. W. Emerson.“

Emerson, der damals 52 Jahre alt war, hatte diesen Brief nicht in einem ersten Impuls, sondern nach reiflicher Überlegung mehrerer Tage geschrieben. Er schickte auch Leute, die ihn in Concord besuchten, nach Brooklyn, um Whitman kennenzulernen, mit den Worten: „Unter uns ist ein Mann erstanden.“ Ein Wort, das an den späteren Ausspruch Abraham Lincolns erinnert, als ihm Whitman gezeigt wurde: „Well, er ist ein Mann.“

Einer dieser Sendlinge Emersons, Mr. M. Conway, der Whitman im September 1855 aufsuchte, hat einen Bericht darüber für seine Freunde geschrieben, der zwar für unseren Geschmack ein wenig feuilletonistisch ist, aber doch ein lebhaftes und durchaus wahrheitsgetreues Bild vermittelt.

„Es war“, erzählt Conway, „eines Sonntags im Hochsommer, als ich durch die nahezu endlosen, eintönigen Straßen pilgerte, die in das „fischförmige Paumanok“ hinausführten, und der Weg, den man mir gewiesen hatte, führte zu dem allerletzten Hause vor der großen Stadt, — einem kleinen, zweistöckigen Holzhaus. Auf mein dreimaliges Klopfen öffnete eine stattliche alte Dame die Tür, just weit genug, um mich sorgfältig betrachten zu können, und fragte nach meinem Begehren. Ich hatte sogleich den Eindruck, daß seine Mutter — denn als diese gab sie sich zu erkennen — besorgt war, es handle sich um einen Polizeiagenten, der nach ihrem Sohn suchte wegen seines verwegenen Buches. Schließlich jedoch deutete sie nach einer öffentlichen Promenadenanlage hin, in deren Mitte ein Hügel lag, und sagte mir, ich würde ihren Sohn dort finden. Es war ein außerordentlich heißer Tag, das Thermometer zeigte fast 100° (Fahrenheit), die Sonne glühte herab, wie sie nur auf dem

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sandigen Long Island glühen kann. Die Anlage hatte keinen einzigen Baum oder Schutz, und ich dachte bei mir, daß wahrlich nur ein leidenschaftlicher Feueranbeter an einem solchen Tage hier zu finden sein könne. Zuerst konnte ich nirgends ein menschliches Wesen gewahren; aber als ich mich eben wieder zum Weggehen wenden wollte, sah ich, auf den Rücken gestreckt und gerade in die furchtbare Sonne hineinschauend, den Mann, den ich suchte. Mit seiner grauen Kleidung, seinem graublauen Hemd, seinem eisengrauen Haar, seinem dunkeln, sonnverbrannten Gesicht und bloßen Hals lag er auf dem braun-weißen Gras — denn die Sonne hatte das Grün ausgebrannt — und glich so der Erde, auf der er ruhte, daß er wie ein Teil von ihr aussah und von einem Vorübergehenden leicht übersehen werden konnte. Ich näherte mich ihm, nannte meinen Namen und den Grund, weshalb ich ihn hier aufsuchte, und fragte ihn, ob er die Sonne nicht einigermaßen heiß fände? — „Durchaus nicht zu heiß,“ war seine Antwort; und er gestand mir, daß dies einer seiner Lieblingsplätze und seine Lieblingslage sein, um „Gedichte zu machen“. Er ging darauf mit mir in sein Haus und führte mich durch die engen Flure in sein Zimmer. Ein kleines Zimmer, ungeführ [sic] 15 Fuß im Quadrat, mit einem einzigen Fenster, das auf die öde Einsamkeit der Insel blickte; ein schmales Bett, ein Waschtisch mit einem kleinen Spiegel darüber, ein Tisch aus Fichtenholz mit Feder, Tinte und Papier darauf; ein alter Stich, Bacchus darstellend, hing an der Wand, und gegenüber ein ähnlicher von Silen: dies bildete die sichtbare Umgebung Walt Whitmans; offenbar war nicht ein einziges Buch in dem Zimmer. . .

Wir verbrachten den Rest des Tages damit, auf Staten Island umherzustreifen und zu „schlendern“, wo wir Schatten und einen meilenweiten, herrlichen Strand hatten. Beim Baden wurde ich durch eine gewisse Erhabenheit des Mannes berührt, die mich an das Bacchusbild in seinem Zimmer denken ließ. Ich sah jetzt, daß die Sonne sein Gesicht und seinen Hals rotbraun überzogen hatte und daß sein Körper von heller Frische war, rein und edel, die Gestalt auffällig zugleich durch ihre feinen Linien und durch jene Anmut der Bewegung, deren Träger ein wohlgebildeter und wohlgefügter Knochenbau ist. Sein Kopf war ein reines Eirund; sein (braunes) Haar, stark mit Grau gemischt, war kurz geschnitten und bildete samt dem Bart einen seltsamen Gegensatz zu der fast kindlichen

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Fülle und Heiterkeit seines Gesichts. Diese Heiterkeit indessen kam aus den stillen, lichtblauen Augen, und über ihnen zogen sich drei oder vier tiefe Querfurchen, die das Leben gegraben hatte. Irgendwelche Inbrunst gewahrte ich erst an ihm, als er ins Wasser kam, das er mit der Begeisterung eines Liebenden umarmte. Wenn er über Dinge sprach, die ihn tiefer interessierten, wurde seine immer milde und klare Stimme langsamer und seine Lider hatten die Neigung, sich über seine Augen herabzusenken. Man konnte durchaus in jedem Augenblick die Wirklichkeit jedes Wortes und jeder Bewegung des Mannes fühlen, und zugleich das überraschende Zartgefühl eines, der mit seiner Feder freier war, als selbst Montaigne.

Nachdem ich mich mit Walt verabredet hatte, ihn im Laufe der Woche wiederzutreffen und mit ihm durch die Straßen New Yorks zu schlendern, ging ich, und konnte diese Nacht fast gar nicht schlafen vor lauter Gedanken an meine neue Bekanntschaft. Er hatte mich so magnetisiert, mich so mit etwas gleichsam Undefinierbarem erfüllt, daß es mir damals schien, als bestände die einzige Lebensweisheit darin, ein blaues Hemd und eine Bluse anzuziehen und in Mannahatta und Paumanok umherzustreifen, — „zu schlendern und meine Seele zu Gast zu laden“, um die Worte meines neuen Freundes zu gebrauchen. Die Zeit wurde mir sehr lang und der Anblick der glänzenden Stadt matt, während ich auf die nächste Zusammenkunft wartete, voll Spannung, ob er mir beim Wiedersehen noch ebenso groß erscheinen würde. Ich fand ihn an dem festgesetzten Morgen in einer Brooklyner Druckerei beim Setzen eines Aufsatzes der „Demokratischen Revue“, der für die Überlegenheit von Walt Whitmans Dichtung über die Tennysons eintrat und den er (da er alles Für und Wider ganz tat) als Anhang zu seiner nächsten Auflage abdrucken wollte. Er trug immer noch die Arbeiterkleidung, in der er, wie er sagte, aufgewachsen war und die beizuhalten er bequem fand. Es wurde mir klar, als ich mit ihm durch die Straßen ging und auf der Fähre fuhr, daß er ein Fürst incognito unter seinen Bekannten der niederen Klasse war. Alle Augenblicke kam einer auf ihn zu, ergriff begeistert seine Hand und lachte und plauderte (er selber aber lachte nicht ein einziges Mal, ja ich habe ihn in der Tat nie auch nur lächeln sehen). Da ich neugierig war, ob Leute dieser Klasse irgendwie

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seinen Wert zu schätzen wüßten, nahm ich einen Arbeiter in gerippten Hosen beiseite, den ich mit ihm hatte sprechen sehen, und fragte ihn: „Wissen Sie, wer der Mann dort ist?“ — „Das ist Walt Whitman“. — „Kennen Sie ihn schon lange?“ — „Viele Jahre.“ — „Was für ein Mensch ist das?“ — „Ein erstklassiger Kerl ist Walt. Keiner kennt Walt, aber alle haben ihn gern.“ . . . Ich fragte noch mehrere andere, fand aber keinen, der irgend etwas von seinem Buch wußte, obwohl alle stolz darauf waren, mit ihm bekannt zu sein. Unvergleichlich war die Mischung von Unbekümmertheit und scharfer Beobachtung in ihm, während wir so durch die Straßen schlenderten.

Im Tombs-Gefängnis besuchten wir die Gefangenen, und das Zutrauen und die Redseligkeit, mit der sie zu ihm kamen und ihm ihre Kümmernisse ausschütteten, als ob er ein Mann in Amt und Würden wäre, war ganz seltsam. An einem Fall nahm er besonderen Anteil. Der Mann, gegen den ein Verfahren wegen eines geringfügigen Verbrechens schwebte, war in eine sehr schlechte und ungesunde Zelle gesperrt worden. Nachdem er ihn angehört hatte, machte Walt kehrt und ging geradenwegs zu dem Gefängnisdirektor, erstattete ihm Bericht und schloß: „Nach meiner Meinung ist es eine verdammte Schande.“ Der Direktor war zuerst verblüfft über dieses Auftreten eines hergelaufenen Mannes in Arbeiterkleidung, dann betrachtete er ihn von Kopf bis zu Fuß, als überlegte er, ob er ihn verhaften solle, wobei der Ankläger ruhig dastand und dem Direktor mit strengem Freimut in die Augen sah. Walt siegte in diesem Blickduell, und ohne ein weiteres Wort rief der Direktor einen Beamten und befahl ihm, den Gefangenen in einen besseren Raum zu bringen.“

Diese Kameradschaft Whitmans mit den Gefangenen von New York, insbesondere auch des großen Zuchthauses Sing-Sing, ist durchaus eine Tatsache. Die eigenartige persönliche Macht, die später während des Krieges auch alle Ärzte und Lazarettbeamten bewog, ihn frei und nach seinem Belieben überall aus und ein gehen zu lassen, obwohl er keinerlei Amt oder Posten hatte, waltete von jeher in ihm.

Der Lebensbeschreibung Dr. Buckes entnehme ich noch einige andere persönliche Berichte über Whitmans damalige Art und Erscheinung.



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„Whitmans Erscheinung pflegte viel Aufsehen unter den Passagieren zu erregen, wenn er auf das Fährboot kam. Er war gute sechs Fuß hoch, mit dem Körperbau eines Gladiators, ein grauer, üppiger Bart mischte sich mit dem Haar seiner breiten, leicht entblößten Brust. In seinen wohlgewaschenen, karierten Hemdsärmeln, die Hosen oft in die Stiefelschäfte gesteckt, den edlen Kopf von einem riesigen schwarzen oder hellen weichen Filzhut bedeckt, ging er einher mit angeboren majestätischem Schritt, ein echtes Vorbild von Natürlichkeit und Unabhängigkeit. Ich glaube kaum, daß die Art, wie er sich damals kleidete, absichtlich exzentrisch war; er hatte einen tiefen Widerwillen gegen alles Auffällige und allen Schein, und ich kann mir denken, daß er einfach das anzog, was handlich, sauber, sparsam und bequem war. Seine markante Erscheinung rief indessen trotzdem die verschiedensten Fragen bei den Passagieren, die ihn nicht kannten, wach.“

„In der Pennsylvania Avenue oder der siebenten oder vierzehnten Straße, oder vielleicht an einem Sonntag auf dem Vorstadtweg nach Rock Greek oder auf den Hügeln von Arlington oder an den Ufern des Potomac kann man einer kraftvollen Gestalt begegnen, die mit festem, aber gemächlichem Schritt einhergeht, sechs Fuß hoch, gekleidet in Blau oder Grau, mit gelbgrauem Schlapphut, breitem Hemdkragen, grauweißem, vollem, welligem Bart, mit einem Gesicht, rot wie ein Apfel, blauen Augen und mit einem Aussehen von animalischer Gesundheit, das eher auf Jagd und Schiffahrt als auf ein Amt im Ministerium oder auf den Arbeitstisch eines Schrifstellers schließen läßt. In der Tat, der Mann, den wir beschreiben, holt sich in seiner Dichtung, seinen Lebensformen, ja selbst in seiner Philosophie seine Kräfte offenbar aus einer ständiger [sic] Beziehung zu den Einflüssen von Meer und Himmel, Wäldern und Steppen und ihren Gesetzen und zu den Menschen, die in Einklang mit ihnen leben, während weder die üblichen Salons der Gesellschaft noch die Sphäre gelehrter Bibliotheken ihm etwas anhaben können.“

„Walt Whitmans Kleidung war jederzeit äußerst einfach. Er trug gewöhnlich bei gutem Wetter einen hellgrauen Anzug aus guter Wolle. Das einzig Besondere an seiner Kleidung war, daß er niemals eine Kravatte trug, sondern immer Hemden mit sehr breitem Umlegekragen, deren vorderer Knopf fünf oder sechs Zoll

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tiefer als üblich saß, so daß die Kehle und der obere Teil der Brust freiblieb. Im übrigen kleidete er sich durchaus gediegen, sauber, schlicht und unauffällig. Alles, was er trug, und überhaupt alles an ihm, war jederzeit peinlich sauber. Seinen Kleidern mochte man vielleicht (wie es in der Tat der Fall war) ansehen, daß sie viel getragen waren, oder sie mochten sogar zerrissen und durchgescheuert sein, aber sie waren nie schmutzig. In der Tat, ein köstliches Arom von Sauberkeit war immer eine der Besonderheiten des Mannes; es war seinen Kleidern, seinem Atem, seinem ganzen Körper, seinem Essen und Trinken, seinem Gespräch zu eigen, und jeder, der auch nur eine Stunde mit ihm zusammen war, mußte spüren, daß es seinen Geist und sein Leben durchdrang und in Wahrheit der Ausdruck einer Reinheit war, die ebensogut physisch wie moralisch und moralisch wie physisch war.“

„Lethargisch bei einem Interview, passiv und aufnehmend, ein bewundernswerter Zuhörer, niemals in Hast, voll der Haltung eines, der Muße genug hat, allezeit in vollkommener Ruhe, schlicht und geradezu im Umgang, voll Liebe für das einfache, gewöhnliche Volk, „einer, der Rohen und Gebildeten auf gleiche Weise begegnet“, mäßig, keusch, milde, liebevoll und herzlich, von vielen Freunden geliebt, mit einer sommerlich-väterlichen Seele, die aus all seinem Betragen und aus jedem Blick hervorscheint, ist er nicht im geringsten der „Barbar“, für den ihn gewisse Leute so gern hielten. Peinlich wie ein Brahmine von hoher Kaste in bezug auf seine Nahrung und seine persönliche Sauberkeit und Ordnung, gut gekleidet, mit grauer, offener Brust, mit einer tiefen, sympathischen Stimme und einem freundlichen, lebhaften Blick, macht er den Eindruck besten Bluts und bester Herkunft. Er erinnert einen an die „ersten Männer“, die „Anfänger“; er hat das primitive Aussehen eines, der im Freien lebt, — nicht so sehr durch vielen Aufenthalt in frischer Luft, wie durch angeborene Rasseneigenschaft, — ein Aussehen, das mit Erde, Meer und Gebirge verwandt ist, und er wird, wie jüngst ein Vorkämpfer seiner Sache schrieb, „gewöhnlich für einen tüchtigen Handwerker oder Güterpacker oder Schiffer oder sonst irgendeinen Arbeiter von Qualität genommen.“ Seine Physiognomie zeigt höchst ausgesprochene Züge, Züge nach wahrhaft antikem Schnitt, wie sie aus modernen Gesichtern fast verschwunden sind, erkennbar an dem starken, breiten Ansatz seiner Nase, seinen

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hohen, geschwungenen Brauen und an dem Fehlen jeglicher Wölbung seiner Stirn, — ein Gesicht, das sich dem Typus griechischer Statuen annähert. Er bedeutet nicht Intellekt allein, sondern Leben; und man fühlt, daß sein Schaffen sich mehr durch Einfühlen und Aufsaugen, als durch angestrengte intellektuelle Vorgänge vollzieht, — durch die Ausströmung von Kraft viel mehr, als durch ihre direkte und totale Anwendung.“

„Jahrelang haben Tausende von Menschen in New York, Boston, New Orleans und später in Washington einen Mann von auffallender, männlicher Schönheit — einen Dichter — von machtvoller und ehrwürdiger Erscheinung gesehen, wie ich selber ihn vor zwei Stunden erst gesehen habe: im Einklang, sozusagen, mit den Straßen unserer amerikanischen Städte und wie geschaffen für diesen Hintergrund und diese Umgebung ihrer flutenden Bevölkerung und ihrer weiten und reichen Fassaden; einen Mann, groß, gelassen, herrlich gebaut; meist in die lässige, grobe und immer malerische Tracht des Volkes gekleidet . . . und mit unbekümmertem, stolzem, Schritt über das Pflaster schreitend, Sonnenlicht und Schatten um sich her. Den dunklen Schlapphut, den er meistens trägt, hielt er, als ich ihn sah, in der Hand, da es sehr heiß war; reiches Licht, wie ein Maler es gewählt haben würde, lag auf seinem bloßen, majestätischen, homerisch großen Haupt und auf seinen starken Schultern und gab ihm die Erhabenheit antiker Skulpturen. Ich sah sein Gesicht, klar, stolz, fröhlich, blühend und zugleich ernst; die Brauen von edlen Furchen überschrieben; die Züge kräftig und wohlgeformt, mit festblickenden, blauen Augen; die Brauen und Lider von jener reinen Bogenform, die man selten sieht, außer an den antiken Büsten; das reiche Haar und der wollige Bart ganz grau, wodurch das jugendliche Aussehen des erst Fünfundvierzigjährigen einen Anstrich von Alter bekommt; die Einfachheit und Reinheit seiner Kleidung, die billig und schlicht, aber fleckenlos ist, von dem schneeweißen, umgeschlagenen Hemdkragen bis zu den blankgeputzten Stiefeln, und einen leisen, frischen Hauch ausströmt; die ganze Gestalt von Männlichkeit wie von einem Nimbus umgeben und in ihrer vollkommenen Gesundheit und Kraft den erhabenen Zauber eines starken Menschen atmend.“

Die Wiederholung derselben Eindrücke in diesen Berichten bezeugt ihre Stärke. Manches darin mag etwas übertrieben betont

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klingen. Aber solcherlei Aussagen über einen ergreifenden, großen Menschen sind eben befeuert von dem unaussprechlichen Gefühl der in Worten nicht zu fassenden Gewalt der Person, und wir mögen daran denken, wie wir etwa vor einem großen Kunstwerk, das wir bisher nur aus bewundernden Beschreibungen kannten, von seiner Schlichtheit und Selbstverständlichkeit erschüttert werden, wenn wir ihm leibhaftig gegenüberstehen. In ähnlicher Weise müssen wir solche Beschreibungen in die Sphäre Whitmans selber projizieren, um ein wahres Gefühl seiner Wesenheit zu bekommen.

Aus dieser außerordentlichen Wirkung seiner Persönlichkeit heraus, an die er seit jeher gewöhnt war und in deren Unmittelbarkeit und täglichem Verströmen er lebte, müssen wir auch die kräftige Ungeduld verstehen, die ihn angesichts des Mißerfolges seines Buches dazu drängte, sich gleichsam persönlich dafür einzusetzen und es gewissermaßen dem Publikum in die Hand zu zwingen, — so gelassen auch in höherem Sinne Whitman dem Schicksal seine Dichtung vertraute und seine Zuhörerschaft ebensogut in den Jahrhunderten der Zukunft wußte, wie in der Gegenwart. Sein amerikanisch-robustes Tagesgefühl rief die Instinkte persönlichen Eintretens für seine Sache wach, die ihm ja bewußterweise Sache der Menschheit war. Ich schicke dies voraus, weil Whitman aus der Art, wie er im Jahre 1856 die zweite Auflage auf den Markt brachte, in einem trivialeren Sinne nicht unberechtigte Vorwürfe gemacht worden sind.

Die neue Ausgabe war um zwanzig Gesänge vermehrt. Vor allem erschien darin das gewaltige „Begrüßungsgedicht“ aller Völker der Erde, „Salut au monde“, das „Lied von der rollenden Erde“, „Gesang bei Sonnenuntergang“, der „Gesang vom Beil“ und zwei Gesänge, die den Kern der in den nächsten Jahren voll gestalteten „Kinder Adams“ bildeten und zum erstenmal das Thema Geschlecht mit aller Kühnheit anschlugen.

In einem Anhang druckte Whitman jenen Brief Emersons ab, und zwar, was von Gegnern meist verschwiegen wurde, auf Drängen von C. A. Dana, dem Herausgeber der „New York Sun“, einem nahen Freunde Emersons. Ferner fügte er einen offenen Antwortbrief an Emerson bei, der freilich zu den unglücklichsten Äußerungen Whitmans gehört, und setzte überdies auf die Rückseite des Buches die Worte Emersons: „Ich begrüße Sie zum Beginn einer großen Laufbahn. — R. W. Emerson.“



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Alles in allem eine nicht sehr würdige Art von Selbstankündigung, die denn auch aus der nächsten Ausgabe sofort wieder verschwand. Die Behauptung, Emerson sei dadurch aufs tiefste verstimmt gewesen, ist unrichtig. Seine Beziehung zu Whitman blieb bis zuletzt sehr herzlich; er besuchte ihn wiederholt und sprach sich freimütig über diejenigen neuen Gedichte aus, mit denen er nicht einverstanden war.

Die Ausgabe erregte naturgemäß viel mehr Aufsehen und auch einen noch viel wilderen Sturm der Entrüstung, der besonders jenen Keimgesängen der „Kinder Adams“ galt. Ursprünglich war alles für einen großen Absatz des Buches vorgesehen, aber die New Yorker Buchhändler zogen sich vor der öffentlichen Meinung zurück, und so blieb das Buch, nachdem das erste Tausend verkauft war, vergriffen.

In seinem natürlichen Drang nach Wirkung auf sein Volk, der aus dem Gefühl und der Erfahrung von der Kraft seiner Persönlichkeit entsprang, stiegen nun alte Gedanken wieder in Whitman empor, die ihn seit dem Erwachen des Sinns für die Gesamtheit der amerikanischen Staaten bewegt hatten, Gedanken, die darin gipfelten, als Redner selber vor das Volk zu treten, frei von jeder Partei, lediglich als Verkünder der uramerikanischen Wesenheit, die ihm der Keim der Zukunftsmenschheit war. Die politischen Wolken waren inzwischen immer finsterer geworden; die Erschütterungen, die die ganze Union zu zerreißen drohten, machten sich von Tag zu Tag drohender fühlbar. Gegen sie die ganze einigende Macht einer lebendigen amerikanischen Persönlichkeit einzusetzen und das Ziel mit allen Strahlen seines Geistes und Gefühls zu beleuchten, um dessentwillen seinem tiefen Glauben nach diese Neue Welt in die Erscheinung getreten war, — das mußte einen Mann seiner Art zu einer Zeit und in einem Volke, wo jeder, der sich berufen fühlte, nach Führerschaft greifen durfte, im Innersten verlocken. Er schrieb damals, nach dem Ausspruch seiner Mutter, ganze Stöße von Vorträgen und Betrachtungen über die Redekunst, in denen er ein Bild von dem großen Volksredner entwarf, das dem gewaltigen Bilde des wahren Dichters entsprach, das er in der Vorrede zur Erstausgabe der „Grashalme“ verkündet hatte. Der Redner erscheint hier als ein Prophet, von Inspiration durchglüht, von dem Geist des Augenblicks geschüttelt, wie die alten großen

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Quäkerprediger, deren Macht er ja als Knabe gespürt hatte; die volle, fast hypnotische Macht der Persönlichkeit selber müsse die Rede vorbereiten und tragen und der ganze Körper müsse lautlos, rein und feurig mitreden. In einem dieser Entwürfe spielt er mit Humor auf die Gepflogenheit an, auf sich selber aufmerksam zu machen, worin er ja nicht unerfahren sei; aber anders gehe es nun offenbar einmal nicht, wenn er das Gehör Amerikas erzwingen und es zur Selbsterkenntnis führen wolle.

Unversehens aber wuchs ihm die Welt des eigenen Seins in andere, neue Tiefen und auch das äußere Geschehen führte ihn zu immer süßeren und stärkeren Geheimnissen des Daseinswunders, die alle seine Kräfte in ein inneres Verweilen bannten.



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KAMERADSCHAFT UND KRIEG

Lang, zu lang, Amerika,
Bist du auf ebenen, friedlichen Wegen gegangen und hast nur aus deinen Freuden und deinem Gedeihen gelernt,
Nun aber, o nun gilt es, aus Todesängsten zu lernen, vorwärts immer, ringend mit Grauen des Schicksals, ohne zu wanken,
Und zu begreifen nun und der Welt zu zeigen, was deine Kinder en masse in Wahrheit sind,
(Denn wer außer mir hat bis jetzt begriffen, was deine Kinder en masse in Wahrheit sind?)

Seit dem Jahre 1856 war Abraham Lincoln, zuvor Rechtsanwalt im Staate Illinois, dann Kandidat für die Senatorenwahl dieses Staates, als Vorkämpfer der neugregründeten Freilandpartei immer mehr in den Gesichtskreis Amerikas gerückt. Obwohl er jedoch die Sklaverei für den gefährlichsten Feind der Föderation hielt, war er doch der Ansicht, daß, gerade um der Einheit der Staaten willen, die Stimmung zugunsten ihrer Abschaffung in den Südstaaten selber geweckt und ein gewaltsamer Eingriff vermieden werden müsse; und als im Jahre 1859 John Brown seinen berühmtesten Einfall in Virginia machte, um die Sklaven gegen ihre weißen Herren aufzuhetzen, verurteilte Lincoln diesen Gewaltstreich durchaus und billigte die Hinrichtung Browns. Trotzdem wurde Lincolns Persönlichkeit eben durch das leidenschaftliche Eintreten für die Erhaltung der Union immer mehr für die Südstaaten die Verkörperung der anmaßenden Ansprüche des Nordens, und als er nach mancherlei wilden Redeschlachten endlich im November 1860 zum Präsidenten gewählt wurde, war das für den Süden das Signal zur Erklärung der Sezession, und zwar unter der Führung des Staates Karolina, der von jeher der Feind der föderativen Macht gewesen war.



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Gegen Ende Februar 1861 zog Lincoln, von einer ungeheuren Menschenmenge empfangen, in Washington ein, und dabei sah ihn Whitman zum erstenmal.

Er hatte inzwischen sein gelassen-waches Großstadtund Landleben weitergeführt. Er verkehrte um diese Zeit unter anderem in einem Kreise der Bohême New Yorks, deren Hauptquartier Pfaffs Deutsches Restaurant am Broadway war, wo er besondere Freundschaft mit der geistvollen und schönen „Königin“ dieses Kreises, Ada Clare, schloß. Berühmte Gäste kamen, um ihn kennenzulernen, unter anderem Thoreau, der damals sein Werk „Walden“ veröffentlicht hatte und von Emerson zu Whitman geschickt worden war. Der kleine, scheue Mann, dessen Naturinbrunst im Grunde Weltflucht war, fühlte die Größe Whitmans, ohne sich in seine alles Leben umfassende Wirklichkeitsfreude finden zu können; er begriff Whitmans Liebe zur Masse, zum gewöhnlichen Volk und dem Gewühl der Städte nicht. Er fand ihn „ganz außer dem Bereich seiner Erfahrung“, „verwirrend, seltsam, überraschend“, „irgend etwas Großes und Kolossales“, und sagte von ihm: „Er ist Demokratie“.

Der Mystiker Bronson Alcott kam, ebenfalls von Emerson geschickt, und wurde von Whitmans Persönlichkeit ganz und gar überwältigt. „Er ist“, schrieb er, „der leibhaftige Gott Pan.“

Die zweite Auflage der „Grashalme“ war nun schon seit drei Jahren vergriffen, und Anfang 1860 trat Whitman mit dem jungen, tatkräftigen Bostoner Verlag Thayer & Eldridge in Verbindung, um die dritte Auflage vorzubereiten, da inzwischen wesentliche neue Gesänge und Zyklen geschaffen waren. Er fuhr selber nach Boston, um die Korrektur zu besorgen. Während dieses Aufenthaltes traf er häufig mit Emerson zusammen, mit dem er herzliche Freundschaft schloß. Whitman selber hat uns (siehe Prosaschriften) einen kurzen Bericht über das denkwürdige Gespräch hinterlassen, das er eines Tages im Februar im Stadtpark von Boston, unter den alten herrlichen Ulmen auf und ab wandelnd, mit ihm hatte — und das den Gedichten galt, die in der zweiten Auflage soviel Unwillen erregt hatten, den Gesängen vom „elektrischen Leib“, die nun in der neuen Ausgabe, zu einem großen Zyklus „Kinder Adams“ erweitert, wieder erscheinen sollten. Diese neue Ausgabe sollte die erste, von einem großen Verlage herausgebrachte und gewissermaßen

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das endgültige Bekenntnis Whitmans für einen viel größeren Leserkreis und auf Jahre hinaus werden. Das bestimmte wahrscheinlich Emerson, noch einmal alle Gründe der Besonnenheit und Skepsis wie eine wohlgeordnete Armee gegen den Dichter ins Feld zu führen, um ihn von der Veröffentlichung dieser Gesänge abzubringen, die für viele das Buch unlesbar machen würden. Als er endlich nach zwei Stunden mit der Frage schloß: „Was haben Sie zu alledem zu sagen?“ antwortete Whitman: „Nur, daß ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich doch entschlossener fühle als je, an meiner eigenen Theorie festzuhalten und sie zu betätigen.“ — „. . . worauf wir“, sagt er vergnüglich, „weggingen und ein gutes Mittagessen einnahmen.“ —

Die dritte Auflage, als Bostoner Ausgabe bekannt, war die bis dato am schönsten und würdigsten ausgestattete. Die neu hinzugekommenen Gesänge waren vor allem „Von Paumanok kommend“, „Aus der ewig schaukelnden Wiege“, „Kinder Adams“, „Calamus“ und, an den Schluß des Buches gestellt, das „Lebwohl“.

Ohne die flutende Einheit Whitmans, die im grenzenlosen Gottbewußtsein lebt, auf eine schematische Folter strecken zu wollen, können wir doch das „offene Geheimnis“ jener Drei-Einheit gleichsam als Index über sein Werk stellen, die er in dem neuen „Paumanok“-Gedicht zusammenfaßt:

Mein Kamerad!
Zwei Erhabenheiten sollst du mit mir teilen, und eine dritte, die die andere unschließt und noch leuchtender ist, als sie:
Die Erhabenheit der Liebe und Demokratie, und die Erhabenheit der Religion.

Liebe, Demokratie und Religion — und, sie alle tragend, gebärend, verwirklichend, das „Ich“, das „Selbst“, das Urund Grundwunder des im Einzelmenschen verkörperten Seins. Eines spielt ins andere hinüber, gleichwie die See zugleich Vielheit und Einheit ist. Denn anders als im eigenen Ich erleben wir uns selbst, die andern und die Welt und Gott nicht; nichts im ganzen Universum kann wichtiger sein, als das eigene Selbst. Es ist, um ein Gleichnis Whitmans zu gebrauchen, sozusagen die Sehkraft.

Nachdem zum erstenmal das Ich in dem großen, gleichsam mit dem Wellenschlag und Rhythmus der Unendlichkeit ergossenen „Gesang von mir selbst“ sich in aller Fülle ausgebreitet hatte,

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morgenfrisch durchblitzt von allem, was nur ein Mensch fühlen und schauen kann, voll Erinnerung, Gegenwart und ewiger Zukunft, hinausrauschend bis über die dunkle Schranke des Todes in das allgegenwärtig Geistige, — nachdem in diesem Traumgesang der Wirklichkeit, dessen Worte alle wie von der Morgensonne bestrahlte Blätter eines mächtigen und in Vielfältigkeit zarten Baumes leuchten, die Sphäre geschaffen war, in der alles in Wahrheit von jenem unbeschreiblichen Erstlingszauber glänzte, der uns in höchsten Stunden die Welt und unser Dasein in ihr zu Bewußtsein bringt, hob nun Whitman das blutvollste Wunder in diese neugeschaffene Sphäre empor, das er mit der ganzen Kraft und Frische seines eigenen Leibes erlebt hatte, das Wunder des Geschlechts, der Zeugung, der Vaterund Mutterschaft. Wie von feierlich-paradiesischem Orgelpräludium umbraust, hebt er an und steigt wie Adam in den Garten Welt aufs neue empor, von tausend Blitzen frischesten Gefühls umspielt, eine Geisterschar herrlicher Jünglinge und Mädchen ihm voraus, und Eva an seiner Seite oder hinter ihm. Was reine und frische Leiber von Mann und Weib auf dieser Erde am heißesten und beglückendsten durchschauert, ist auch der mächtigste Träger des Seelischen. Was den Einzelleib gleichsam zerschmilzt mit Lust der Hingabe und Empfängnis, ist zugleich höchstes Ich-Gefühl und höchster Gemeinschaftsdrang. Gleichwie in der mystisch-religiösen Ekstase sich, just durch die innerste Vertiefung in das Selbst, die Schranken des Selbst zum unendlichen Bewußtsein erweitern, so löst sich im Wunder des Geschlechts der zu seiner berauschendsten Lust gesteigerte Einzelwille in die Lust der Vereinigung mit dem leibhaftigen Wunder des „Du“. Die ganze Welt ist bestrahlt von dieser Lust, alle Wesenheiten, sichtbar und unsichtbar, stimmen ein in dieses gewaltige, innigste Du, alles leuchtet sich an, schmiegt sich aneinander, umarmt sich, gibt sich hin, erobert und empfängt. Der Himmel sprüht im Sonnenaufgang Zeugungsstrahlen über die hingegebene Erde, die Biene taumelt im Duft des Samens der Blüte, der Wind streicht liebkosend über den hingestreckten, bloßen Körper, Welle der See schmiegt sich in Welle, Grashalm drängt sich an Grashalm, Früchte duften und locken, Tier drängt sich an Tier, Vereinsamte betten sich in ihre eigene Sehnsucht und Glut, eine bloße Berührung sprüht Blitze, Sonnen kreisen um Sonnen, das

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Unsichtbare umarmt das Sichtbare, alle Glieder und Teile des Körpers atmen und schwellen im Drang ihres innersten Sinnes, alle so heilig wie Gebete, alle vom Willen des ewigen Wunders erfüllt, alle mitgerissen in der warmen, leuchtenden Flut des Seins und Werdens, alle berauschte Liebende und Kameraden in den Mutterräumen der Unendlichkeit. An der schmalen Pforte des Mutterschoßes drängen sich die Keime zu neuen Saaten herrlicher Mannheit und Weibheit: zu den neuen Empfindenden, Liebenden, Bewußten, in denen die Welt zu sich selber immer wieder in Seelenund Leibesschönheit erwacht, Augen aufschlägt, die schauen und glänzen. Alles ist Geburt und wieder Geburt. In herrlichen Müttern schwillt die Zukunft der Erde und Menschheit, Blitze der Zeugungskraft zucken über eine neue Welt, alles Böse fliegt wie Schatten mit, der im immer wachsenden Licht verweht, — hören wir Marschtakte, Freudenchöre einer alten Welt, feuertrunken, herbeikommen und brüderlich einmünden?

Aber nicht nur bacchischer Taumel dies, verzückter Tanz zur Feier der Mysterien, sondern vollste „Besonnenheit“ in jedem Augenblick des Seins, erwachtes Ruhen im „Jetzt und Hier“, alle zartesten und wildesten Empfindungen vereint, kein trübes, reuiges „Morgen“ mehr, kein schaler Nachgeschmack wie nach gewaltsamer Berauschtheit, kein Beiseiteschieben der schnöden Alltagswelt um des Ideals willen, sondern ein Bejahen alles Seienden und des Adels aller Erdund Naturgebundenheit, ein Schreiten und Wandeln immer fort und immer tiefer in das unvergänglich Wirkliche hinein: „Du mußt dich nun an das Blenden des Lichts und jedes Augenblickes deines Lebens gewöhnen.“ Ekstase wahrlich, wenn anders Ekstase befreite Bewußtheit heißt, Gefühl des Wunders, das uns in jeder Sekunde umgibt und erfüllt, Erlösung aus dem Schattenbann gespenstischer Wünsche, Ziele, Tätigkeiten, Ehrgeize, Sorgen, Vergnügungen: „Du bist! — mehr nicht! — jedwedem höchsten Gotte ist dies genug.“

Und diese Lust strahlt nicht nur um das empfangende, weibliche „Du“, zu dem dich alle magnetischen Blitze deines Leibes ziehen, sondern auch um das „Du“ des Mannes, des Kameraden, des Gefährten im „Garten Welt“; auch zu ihm strebt der Magnet, auch ihm legst du mit tiefer Lust die Hand in die Hand oder auf die Schulter oder um die Hüfte, dem reinen, wohlgestalteten,

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durchgeistigten Freunde. Nur „ätherischer“ noch, „gleichsam körperlos“, obwohl immer in der Wonne der Leiblichkeit; gleichsam das eigene Wunder der Mannheit im gleichgeschaffenen Adamsbruder liebevoll noch einmal erlebend, das „Zeichen der Mannheit“ mit ihm, im frischen Sinnbild in Waldestiefe am Sumpfrand gepflückter Kalmuswurzel, kühnen Phallussymbols, austauschend, in naturbeseeltem Rausch der All-Liebeskraft, in glühend-lächelnder Kameradschaft der hier auf Erden gemeinschaftlich Wandelnden und Fühlenden. Tiefer noch als im Empfängnistaumel des Weibes lebt hier im mitliebendem Gefährten der wache Erostraum, das Verstehen der Geistigkeit, der süßen und wilden Einsamkeit der Seele in aller Gemeinschaft, der Blutfülle männlichen Gedankens, der ewig das Unendliche ruhelos-freudig und zärtlich umspielt.

Daher blühen diese zart-feurigsten Liebesgesänge Whitmans, über denen das Zeichen „Calamus“ steht, gerader in einer Sphäre keuschester Einsamkeit. Sie klingen wie in hoher, stehender Sommerglut von den kühn geschwungenen Lippen eines panischen Gottes den Büschen und Blumen zugeflüstert. Es hieße sich an diesen Gedichten versündigen, wenn man, wie eifrige Maulwürfe es versucht haben, den Eros aus ihnen hinwegdiskutieren wollte; sie sind durch und durch davon durchbebt, genau so gut, wie die stille Luft des Nachmittags vor den Toren Athens, als Sokrates unter der Platane am Bach mit Phaidros redete. Und dennoch anders. Denn hier in diesem neuen Garten Welt redet ein Mann, der noch eben mit Worten von niegehörter Kühnheit und Lust die Zeugung und das Weib gefeiert hat, der noch mitten aus diesen Calamus-Gesängen heraus der „festverankerten, ewigen“ Liebe zum Weib, dem übermächtigen Verlangen nach der „Braut“ seinen leidenschaftlichen Gruß zuruft, dem es keinen größeren Stolz gibt, als die „Unbeflecktheit des Zeichens seiner Mannheit“, dem seine eigenen Gesänge sind wie „Sprößlinge seiner Lenden“, der den Samen ausstreuen will zu noch viel kühneren Republiken, der das Weib als Mutter verherrlicht hat, wie keiner vor ihm.

Und so spüren wir erst die wahre Dämonie und Macht dieser feurig-geflüsterten Calamus-Lieder, wenn wir uns bewußt werden, daß ihr Sänger in ihnen sich aus der panischen Stille des Waldes etwas holen will, was der Lebensnerv des ganzen Gemeinschaftslebens der Zukunft und aller Staaten und Städte sein soll, der

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Herzschlag wahrer Demokratie, das elektrisch zwischen allen eine wahre Gemeinschaft bildenden Männern Spielende, das jeden Einzelnen aus der Verkrampftheit der Eigensucht, Parteilichkeit, Gehässigkeit und Stumpfheit Erlösende, wie er es in seinen „Demokratischen Ausblicken“ verkündet: „Inbrünstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, persönliche und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erlöser aller Länder und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung für die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird. In der Entwicklung, dem Bewußtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradschaft (der Freundschaftsliebe, die der die Literatur jetzt beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegengewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vulgären amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum und werden meinen Schlußfolgerungen nicht beistimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all die Myriaden hörbarer und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas die Fäden männlicher Freundschaft, wie ein halbverborgener Einschlag, durchschimmern werden, warm und zärtlich, rein und süß, stark und lebenslang, in bisher unbekanntem Maße, — eine Kameradschaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und ihn gefühlsreich, muskulös, heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten Einfluß ausüben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingt eine solche liebende Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollständig und unnütz ist und unfähig zu dauern.“

So durchdringen und durchbluten sich die zwei jener Dreiheit: Liebe und Demokratie, und in ihnen die dritte, „Religion“, das heißt nicht anderes, als die aus der staunenden, freudevollen Bewußtheit des Selbst geborene, immer wache Beziehung zum Unendlichen, die ewige Spiritualität. „Bibeln“, schreibt Whitman in den „Demokratischen Ausblicken“, „mögen Überlieferung bringen und Priester mögen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen Wirken des einsamen Ich ist es vergönnt, in den reinen Äther der

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Anbetung einzugehen, die Höhe Gottes zu erreichen und mit dem Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen.“ So sehen wir die drei „Erhabenheiten“ in e i n e m Herzschlag vereint.

Je inbrünstiger eine Empfindung ist, um so tiefer verwandelt sie alle fragwürdige Verläßlichkeit und Gewöhnung in Traum, in Staunen und Wunder; und so sind gerade diese Calamus-Gedichte durchsetzt von den tiefen Zeilen, die der Traumhaftigkeit aller Erscheinungen gelten, und gerade in ihnen wird alles Erleben zur transparenten Farbigkeit vor der ruhevoll, warm und groß aufsteigenden Dunkelheit des Todes:

„O ich glaube, nicht für das Leben singe ich hier mein Lied der Liebenden, — für den Tod wohl muß es sein;
Denn wie ruhevoll, feierlich schwillt er empor in das Reich der Liebenden,
Tod oder Leben erscheint mir dann gleich, meine Seele mag sich nicht entscheiden,
(Obwohl ungewiß, glaube ich doch, daß die hohe Seele der Liebenden am innigsten den Tod willkommen heißt.)“

„Ich will die Worte sagen, die den Tod lustvoll machen;
So gib mir den Ton an, o Tod, daß ich danach stimme,
Gib mir dich selbst, denn ich sehe, daß du nun mir vor allen gehörst, und daß ihr untrennbar verschlungen seid, Tod und Liebe.“

Tod, nicht als ruhevoller Wellenschlag von Sein zu Nichtsein, sondern in verkrampfter Gewaltsamkeit, als Fieberzuckung verirrter Menschheit drohte über den Staaten, als sich diese Gesänge aus Whitmans Herzen lösten, und er selber und all seine Liebesund Lebenskraft sollte bald Brust an Brust mit ihm ringen.

An jenem Tag von Lincolns Einzug in Washington lastete dumpfes Schweigen über der begrüßenden Menge. Die Sache der Südstaaten hatte ihre Parteigänger bis tief in den Norden hinein in den Reihen der Demokratischen Partei, der zum Teil immer noch die Souveränität der Einzelstaaten als höchstes zu erhaltendes Gut erschien. Überdies war man sich bewußt, daß der Süden militärisch besser vorbereitet war; das Kriegsdepartement der föderativen Regierung hatte bisher in den Händen von Südländern

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gelegen. Auch war an sich der aristokratische Süden mehr an Befehlen und Gehorchen gewöhnt. Dagegen hatte der Norden freilich ein Element einzusetzen, das gerade in Amerika von höchster Bedeutung ist, nämlich die Idealität des Gedankens der Union, die seinen ins Feld ziehenden Söhnen jene fast religiöse, kreuzfahrerhafte Inbrunst mitgab, ohne die der amerikanische Soldat seine besten Fähigkeiten nicht enfalten zu können scheint.

Gegen Mitternacht des 13. April 1861 las Whitman, der gerade aus der Oper kam, das eben ausgerufene Extrablatt, das den tätlichen Ausbruch der Feindseligkeiten meldete. Ein Aufruf des Präsidenten zu den Waffen erfolgte am nächsten Tage, und die Jugend New Yorks folgte ihm in Scharen. Unter ihnen auch George Whitman, Walts um 10 Jahre jüngerer Bruder, der später Hauptmann und Oberst wurde.

Für Whitman, wie für viele andere, bedeutete dieser Krieg die Probe auf die Zukunft und Lebenskraft der Idee Amerikas und seine Einheit, für ihn noch in dem tieferen Sinn des Glaubens an die von ihm verkündete Demokratie der Menschheit. Die Hingabe vieler tausender bester Söhne des Landes um eine Idee wurde ihm im Laufe des Krieges immer mehr zum Beweis ihrer Fähigkeit, ein solches männliches Ideal wirklich zu erreichen. Sein Glaube, daß die eigentliche Kraft Amerikas in der unbekannten Masse, im breiten Volk, im „göttlichen Durchschnitt“ lebe, wurde durch das Massenerlebnis dieses Krieges genährt und bestätigt.

Das Fallen der Schranken individuellen Lebens bei höchster Anspannung der Einzelkräfte war ein Element, das ihn im Tiefsten ergriff, wenn er auch freilich jederzeit den Krieg nur als ein Fieber im Leibe der Staatsgemeinschaft empfand, eine Gewaltsamkeit, die nur erträglich wurde durch den Glauben an eine erhöhte Blüte wahrhaft menschlichen Friedens und Gedeihens, die ihm folgen müßte. Er sah im Geist eine Menschengemeinschaft so hoher und herrlicher Art, daß für sie die Probe auf den Tod nur wie der letzte, höchste Audruck gegenseitiger Liebe und kameradschaftlichen Zusammenhaltens gegen äußere Gewalten sein würde, aus Lust aneinander. Und das reale Erlebnis diese Krieges mußte ihm wie ein dumpfes Vorspiel zu solcher Gemeinschaft erscheinen, in dem jene höchste Kameradschaft ganz befreiter Menschen nur erst seine dämmrigen Blitze spann.



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Was aber dieser Krieg nicht brachte, brachte er selber in ihn mit. Die ganze Liebeskraft seiner Einsamkeit trug er in die Qualen und Ängste des wilden Bluthandels hinein, mit der Hingebungskraft eines wahrhaft großen Herzens sich an die realen Forderungen des Augenblicks verschwendend. Er bereitete sich mit fast sakraler Inbrunst auf etwas vor, das noch dunkel vor ihm lag, aber dessen opfervolle Größe er fühlte. Und wenn wir wissen, daß er in den vier Kriegsjahren als unablässiger Tröster, Pfleger, Lebensund Freudespender alle seine bisher unerschütterliche Gesundheit und seinen unvergleichlichen lebendigen Magnetismus Tag und Nacht an die Verwundeten und Sterbenden verschenkte, um schließlich als ein körperlich Gebrochener aus diesen furchtbaren Jahren hervorzugehen, so werden wir rückblickend die ergreifende Bedeutung der Zeilen fühlen, die er am 16. April 1861 in sein Tagebuch schrieb: „Ich habe an diesem Tag, in dieser Stunde, mich entschlossen, mir einen reinen, vollkommenen, wohltuenden, reinblütigen, starken Leib zu schaffen, indem ich alle Getränke außer Wasser und reiner Milch vermeide und auch alle üppigen Speisen und reichen Mahlzeiten, — einen edlen Leib, einen geläuterten, gereinigten, vergeistigten, ungeschwächten Leib.“ Fühlen wir hier nicht den erschütternden Willen, die Fragwürdigkeit der wirren Geschehnisse des Lebens durch eigene, höhere Inkarnation zu bezwingen? Größe und Adel und Liebe aus der dumpfen Verkrampftheit der Tatenwelt herauszuringen und erlösend in die eigene Brust zu nehmen?

Wahrlich nicht in der Haltung und im Geiste eines, der sich „opfert“! sondern mit derselben Lust, mit der er sich, aus seiner ungebrochenen, alles mitfühlenden Natur heraus an die von Gut und Böse durchbrauste Fülle des Großstadtlebens hingegeben hatte; mit demselben Liebesfeuer, mit dem er einsam unter Büschen und Blumen und Geistern von Kameraden im Wald, am Teichrand gewandert war und seine heißen Grüße geflüstert hatte; mit der Lust am Lebendigen und seinem rätselhaften, süßschaurigen Sein inmitten des Unsichtbaren, Unendlichen. Mit Opfergefühlen schon darum nicht, weil in solchem „Gürten seiner Lenden“ auch das Sichrüsten zu neuen Gesängen, zu neuer, gestalteter Vergeistigung des wirren Geschehens lag, weil er sich als den Einzigen fühlte, der das wahre, geistige Arom dieses Krieges und derer, die in ihm

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stritten und litten, in vergängliche Worte einzufangen berufen sei, seinen Sinn und seine Wesenheit einzuweben in das große Gewebe der Zukunft, an dem er spann.

Während der ersten Monate des Krieges blieb Whitman zu Hause bei der Mutter. In dieser Zeit entstand bereits ein Teil der „Trommelschläge“, Gesänge, die noch nicht das Arom persönlichen Miterlebens trugen, sondern mehr ein Widerhall der erschütterten, ersten Kriegsstimmung waren, des Aufbrausens jener freilich schnellverrinnenden Woge von Gemeinsamkeit, Hingabe, Begeisterung*. Als im Dezember 1862 George Whitman in der Schlacht bei Fredericksburg verwundet worden war, brach Walt an die Front auf und pflegte ihn zuerst im Feldlager am Rappahannok und später in einem der Washingtoner Lazarette. So begann die Tätigkeit des „Wundpflegers“, die bis zum Ende dieses überaus blutigen und wechselvollen Krieges und noch einige Zeit darüber hinaus dauerte.

Um die Ausmaße dieses Bruderkampfes einer zerrissenen Nation nur ungefähr anzudeuten, sei gesagt, daß die Armeen der Union zum Beispiel in der Schlacht bei Fredericksburg 13 000, bei Chancellersville 60 000 und auf den Schlachtfeldern in Virginia während des letzten Kriegsjahres über 100 000 Mann verloren; Zahlen, die an den damaligen Verhältnissen gemessen außerordentlich hoch sind. Dabei waren die Kämpfe von jener Erbitterung durchglüht, wie sie just in Bruderkriegen mit besonderer Wildheit zu toben pflegt. Mehr als einmal hing das Schicksal des Nordens an einem Faden, bis endlich Lincoln in General Grant den Mann fand, der die Sache der Union zum Siege führte. Am 3. April 1865 ergaben sich die letzten Truppen der Südstaaten an ihn. Am 14. April wurde Abraham Lincoln, der Amerika durch diese vier furchtbaren Jahre hindurchgesteuert hatte, ermordet. Er wäre auch ohne diesen tragischen Ausgang nicht wiedergewählt worden, denn trotz des Sieges war das Mißtrauen der großen Mehrheit der Amerikaner gegen eine übermächtige Zentralgewalt allzu elementar.

„Während meiner zwei Jahre in den Lazaretten und im Feld,“ schrieb Whitman 1864, „habe ich über 600 Krankenbesuche gemacht und bin bei etwa 18 bis 20 000 Verwundeten und Kranken

*Als Beispiel dieser schwächeren, vom Dämon weniger gesegneten Gesänge habe ich in Band II dieser Ausgabe nur die „Erzählung des Hundertjährigen“ gebracht.



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gewesen und habe ihnen Seele und Leib, wenigstens in einigem geringen Maße, in der Stunde der Not gestärkt.“ Er wohnte in Washington bei der befreundeten Familie O’Connor und brachte das Geld, das er brauchte, notdürftig durch Zeitungsbeiträge auf. Das meiste davon verwendete er darauf, allerhand Erfrischungen, Bücher, Schreibpapier, Tabak u.s.f. für seine Pfleglinge zu kaufen, auch warb er bei Freunden eifrig um Beiträge für diesen Zweck. Die Ärzte und Lazarettbeamten sahen, daß seine Gegenwart den Verwundeten wohltat und ließen ihn frei gewähren. Auf seine Besuche pflegte er sich sorgfältig vorzubereiten. Er wußte, daß seine wesentliche Heilwirkung auf der Gesundheit und reinen Ausstrahlung seiner ganzen Persönlichkeit beruhte, daß seine bloße, gelassene, liebeverströmende Gegenwart etwas war, was die armen Burschen mehr stärkte und ermunterte, als irgend etwas sonst. Er kräftigte sich in der freien Zeit durch lange Spaziergänge in der Natur, nahm jedesmal vor den Besuchen ein Bad und aß kräftig, wenn auch sonst seine Nahrung nur sehr sparsam und bescheiden war. „Walt, komm wieder!“ war der Gruß, der ihm in mancher Nachtstunde nachgerufen oder -geflüstert wurde. Die zärtliche und feurige Kameradschaft, die er in einer blühenden Menschengemeinschaft der Zukunft innerlich erschaut hatte, übte er hier in der zerstörten, leidvollen Wirklichkeit. „Ich glaube nicht,“ schrieb er an seine Mutter nach Brooklyn, „daß sich die Menschen je so geliebt haben, wie ich und diese armen Verwundeten und Sterbenden uns lieben.“ Er saß bei ihnen, legte Verbände an, wusch Wunden aus, las ihnen aus der Bibel vor, schrieb Briefe in die Heimat für sie und half ihnen in der letzten Stunde. Tag für Tag und in vielen Nächten. Er führte über seine Pfleglinge genau Buch und notierte die Bedürfnisse und kleinen Lieblingswünsche eines jeden. Und was mehr als alles war: aus jeder seiner Gaben, seiner Berührungen, jedem seiner Worte strömte die Zartheit und Liebe, die nur aus der Ganzheit und Reinheit von Leib und Seele strömen kann. In der Nähe des Todes blüht das Liebenswerte am Menschen mit geheimnisvoller Losgelöstheit auf, und wir fühlen gleichsam die Ströme weher und lustvoller magnetischer Kraft, mit der Whitman sich über diese Leidenslager beugte; fühlen das „duftende Gras seiner Brust“, das aus Kraft und Freude gesproßt war, sich in zärtlich-mütterlichem Hauch zum

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Leiden und zur Schwachheit neigen. Ohne Schwächlichkeit selber, ohne Sentimentalität, gelassen, lind, und so „elektrisch“, wie nur je eine Äußerung seiner höchsten Lust.

Das Tiefste dieser innigen Gemeinschaft mögen wir vielleicht ahnungsweise begreifen, wenn wir uns darauf besinnen, daß alles Verlangen Whitmans nach höherer, liebevollerer Menschheit und die dämmrigen Gestalten solcher Menschheit im Grunde in seiner Brust lebten, eingehüllt in die leuchtende Sphäre seines eigenen Seins und seiner eigenen Dichterkraft; und daß nun hier in der absondernden, druch den Tod von aller Herkömmlichkeit gelösten Sphäre des Nur-Menschseins, des Nur-Liebesbedürfens ein Etwas waltete, das, obwohl gewandelt, doch jener einsamen Sphäre der eigenen Innerlichkeit verwandt war. Der tiefe Drang Whitmans zu natürlichster Unmittelbarkeit, der sich schon in seinem vorherigen Leben und in dem ganzen, gradezu gerichteten Sprechton seiner Dichtung ausdrückte, fand hier in den durch Leiden gelösten und kindlich gemachten Seelen Widerhall und begierige Aufnahme. — Whitman selber war weit von jener Gesinnung entfernt, die um dieser Samariterdienste willen späterhin eine Art Heiligenschein um ihn verbreiten wollte: er wies all solche Verherrlichung übereifriger Freunde scharf zurück und weigerte sich noch in Alter und Krankheit, einem Gesuch um eine staatliche Rente für diese Tätigkeit in den Lazaretten zuzustimmen. Ebenso verfälscht ist die salbungsvolle Befriedigung, die einige angelsächsische Kritiker über diese seine Selbstaufopferung bezeigen, gleich als habe er dadurch seine vorherige „Ich-Besessenheit“ und Unbändigkeit wieder gut gemacht und den Ablaß durch sie verdient. Diese tätigen Liebesdienste waren ihm wehe Lust und waren eine natürlich Blüte seines ganzen, ungebrochenen Seins.

Während all dieser Jahre fand er immer noch Zeit, regelmäßig an seine Mutter zu schreiben. Aus diesen Briefen fühlen wir, wie tief und unablässig er mit ihr verbunden war. Der über Vierzigjährige spricht in ihnen wie ein Kind, das zum erstenmal von Hause weg ist, er beichtet der Mutter alle seine kleinen und kleinsten Nöte und Angelegenheiten, beschreibt ihr etwa genau den Zustand seiner Kleider, die Löcher und schadhaften Stellen, irgendwelche Neuanschaffungen, oder berichtet, unter Entschuldigungen, daß er es nicht früher getan habe, von dem Verkauf eines alten Rockes,

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den er nicht mehr habe tragen können, erzählt, was er morgens, mittags und abends zu sich nimmt, mit wem er verkehrt u.s.f. Er verfehlt auch nie, sich nach den Sorgen der Mutter zu erkundigen, nach den Geschwistern, den Geldangelegenheiten, und gibt Ratschläge bei Krankeitsfällen usw. Ein zärtlicher Humor leuchtet durch diese Briefe. Ab und zu sind Klagen vernehmbar über seine eigene Gesundheit, die allmählich durch die überanstrengung und durch den vielen Aufenthalt in einer vergifteten Atmosphäre zu leiden begann. Einmal zog er sich eine schwere Blutvergiftung an der Hand zu, die ihm fast den ganzen Arm gekostet hätte. Erste leichte Schwindelanfälle und vorübergehende Lähmungen beunruhigten den bisher an keinerlei Krankheit oder Schwäche Gewöhnten. Er litt schwer unter dem Malariaklima und der unmäßigen Hitze Washingtons. An besonders glühenden Tagen ging er mit Sonnenschirm und Fächer aus. Die Leiden des Krieges quollen im Sommer 1864 noch einmal in finsteren Giftwolken schwerer denn je in die von Verwundeten überfüllte Stadt. Es war das Jahr, in dem General Grant zum letzten Ringen den Oberbefehl übernahme. — „O Mutter,“ schreibt Whitman in diesen Tagen, „zu denken, daß wir nun bald wieder hier haben werden, was ich nun schon so oft gesehen habe, die schmerzbeladenen Fuhren und Züge und Bootsfrachten von armen, blutigen, bleichen, verwundeten jungen Männern. . Es ist schrecklich, daran zu denken. . Was für ein furchtbares Ding ist der Krieg! Mutter, es scheinen keine Menschen zu sein, sondern ein Haufen von Teufeln und Metzgern, die einander hinschlachten.“ Und eine Woche später: „Ich erschrecke wirklich vor dieser Welt. . . Ich bin zwei Monate lang zwischen Leiden und Tod gewesen, schlimmer als je. Das einzige Gute ist, daß ich ihren Qualen, ihren getrübten Seelen und ihren Leibern ein paar Sonnenblicke bringen konnte. — O es ist furchtbar und wird noch schlimmer, schlimmer, schlimmer!“ — Dazu kam die ständige Sorge um seinen Bruder George, der in allen größeren Schlachten dieses blutigen Endkampfes mitfocht, und um den er doppelt bangte im Gedanken an die Mutter. Die Zahl der Verwundeten, die irrsinnig wurden, stieg immer mehr. Freunde und ärzte drängten Whitman, für einige Zeit im Norden Erholung zu suchen. Er weigerte sich. Er schrieb an die Mutter, er könne den Gedanken nicht ertragen, nicht da zu sein, wenn etwa George verwundet

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nach Washington gebracht würde. Endlich aber warf ihn der glühende Mittsommer 1864 so darnieder, daß er seinen Posten verlassen mußte. Er kehrte nach Hause zurück, wo er sechs Monate lang blieb.

Während dieser Zeit legte er die letzte Hand an die „Trommelschläge“, die im folgenden Sommer in New York als Sonderausgabe gedruckt wurden. Die dritte, Bostoner Ausgabe der „Grashalme“ von 1860 war in etwa fünftausend Exemplaren verkauft und diesmal nicht mit einem solchen Entrüstungssturm aufgenommen worden. Aber der Kriegsausbruch hatte den jungen Verlag gezwungen, seine Tätigkeit einzustellen.

Auch in Brooklyn und New York konnte sich Whitman nicht enthalten, die Lazarette zu besuchen, und im Dezember 1864 kehrte er nach Washington zurück, vor allem, um etwas für seinen Bruder zu unternehmen, der inzwischen gefangen genommen worden war und in dem grausigen Wintergefängnis von Dannville schmachtete. Durch ein Gesuch an General Grant gelang es ihm, George zu befreien, der dann im Frühjahr trotz aller Leiden wohlbehalten nach Hause zurückkehrte.

Im Februar 1865 erhielt Whitman eine kleine, leidlich bezahlte Beamtenstelle im indianischen Büro des Departements des Innern, wo ihm der Umgang mit den Eingeborenen viel Freude machte.

Am 14. April, kurz nach Friedensschluß und nach dem Einzug der Truppen, wurde Lincoln im Theater ermordet. Whitman war zu der Zeit auf Besuch zu Hause und erfuhr den genauen Hergang des Ereignisses durch einen befreundeten Augenzeugen.

Wahrscheinlich hatte Whitman den Präsidenten nie persönlich kennengelernt. Aber er war ihm in Washington oft begegnet und hatte jedesmal Grüße einer besonderen, gegenseitigen Sympathie mit ihm ausgetauscht. Eine tiefe, vergeistigte Liebe zu dem hageren, ernsten Mann hatte Whitman seit langem erfüllt, in dessen gramzerfurchten Zügen sein Seherblick das kindliche Leuchten der Idealität erkannte. Nun hatte der vielbefehdete Führer, der das Opfer des Hasses gegen eine allzustarke Verkörperung der übermacht des Nordens und des Gedankens der Oberhoheit der Union über die Einzelstaaten geworden war, mit seinem Tode gleichsam die schwer errungene Einheit von Norden und Süden besiegelt. Für ganz Amerika erhielt seine Gestalt durch dieses tragische

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Ende die Weihe eines Sinnbildes, die sie für Whitman längst gehabt hatte.

Aus der ahnungsvollen Unruhe dieser Frühjahrstage und -nächte heraus, die der Ermordung Lincolns in der empfindlichen Seele Whitmans vorausgingen, aus dem weh-beseligen Wissen um die Wirklichkeit des „allesumhüllenden Todes“ und aus der mystisch-süßen Liebe zu der so im Dunkeln aufleuchtenden Welt der Lebenden heraus sang nun der selber im Innersten seiner freudestarken Wesenheit Erschütterte dem Ermordeten jene zartgewaltige Nänie, die einer seiner berühmtesten Gesänge wurde: das „Andenken an Präsident Lincoln“, worin er das schmerzlich-einsame Lied der Hermitdrossel, die in den Sumptzedern schlägt, und das holde Wunder des blühenden Flieders und den bleichen traurigen Glanz des Venusgestirns zu einem Weihelied für die „süßeste, weiseste Seele aller Völker und Länder“ verwebt und zugleich zu einem Loblied auf den Tod, so voll bebender Naturkraft und geheimnisvoll in die Nacht geschmiegter Innigkeit, daß wir, wie kaum irgendwo in aller Dichtung der Welt, gleichsam das Arom alles Seins und Vergehens wie einen feucht-würzigen Seeufergeruch atmen.

Hier, wie auch in den letzten Gesängen der „Trommelschläge“, schwingt ein Ton, der bisher nur hie und da, am deutlichsten in den verwandten „Calamus“-Liedern, aufgeklungen war: ein gestillter, schmerzlich-wonnevoller Ton, wie unter Sternen angeschlagen, in duftenden Nächten tiefster, schweigender Einsamkeit.

Weh, das in aller Lust Whitmans immer vibriert hatte und das nur stumpfere Ohren nicht herausgehört hatten, männlich-starkes Weh, das in jeder wahren Lust am Wunder des Daseins lebt, tönte nun voller und inniger mit. Es scheint, daß in jener Zeit die Saiten der Seele Whitmans so zum Zerreißen gespannt waren, daß er sie nut unter Schmerzen berühren konnte. Freunde haben erzählt, sie hätten ihn wohl von der Straße in irgendeine Allee oder unter einen Torbogen treten sehen, wo er dann ein Papier hervorzog und schrieb, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Wenn solche Berichte auch Übertreibungen Begeisterter sein mögen, so sind sie doch Auswirkungen der Schwingung einer Realität.

Um Whitmans immer wachsende Neigung zum Übersinnlichen wie sie sich in den Gedichten der letzten Epoche seines Lebens

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offenbart, voll zu verstehen, müssen wir uns immer aufs neue gegenwärtig halten, daß ihm das Übersinnliche nicht weniger wirklich war, als irgendeine sogenannte Wirklichkeit. Wenn er etwa in dem Gedicht an einen Freund, den er im Traum gestorben glaubte, ausspricht, die Toten seien überall gegenwärtig, die Stadt Mannahatta, Boston, Chikago, Philadelphia sei von Toten so voll wie von Lebenden, ja vielmals voller als von Lebenden, so ist ihm das eine Wahrheit, nicht weniger gewiß als seine Hand oder sein Auge. Oder wenn er, das Getriebe der Boote, Dampfund Segelschiffe von der Brooklyn-Fähre aus beschauend, sich selber als leibhaftigen Gefährten einer hier an derselben Stelle nach hundert Jahren ebenso wimmelnden Menschheit erblickt und voraussagt, so ist ihm das Wirklichkeit. „Ich steige“, ruft er im „Leb wohl“, „empor aus meiner Menschwerdung, wieder neuen Formen zu!“ Eine ewige Stufenfolge zieht sich durch alles Sein, und zugleich lebt das volle Wunder des Seins in jedem Zustand der sich bewußt werdenden Seele. Den Getrübten täuscht das Wirrsal von Gut und Böse, von Vergänglichkeit und Ewigkeit, aber der Reine sieht die Wahrheit.

Daß in solchem Schauen dennoch die Seele auch in Schmerzen erzittern kann, ja in Schmerzen, die tiefer erschüttern, als dumpfes Leid der im Alltag Gebundenen, von Schmerzen, die gleichsam überpersönlich an sich selber das Überwinden des Vergänglichen vollziehen, ist kein Widerspruch zur Wahrheit. In welchem Sinne eine Seele leidet, das ist immer wieder das Stigma ihrer Erlöserkraft an sich und anderen. „Denke an die Seele, nähre die Seele, übe die Seele“, ob in Leid oder Lust, ist vor dem Unendlichen und inmitten des Unendlichen eines. Die „Freude“, die Whitman verkündet, ist nichts anderes, als das immer Stärker-Werden der Seele in Allem, was durch sie hindurchflutet.

Der letzte Teil seines Lebens ist das Beispiel solchen Glaubens, nicht mehr oder weniger, als seine Jugend und Manneszeit es war; nur stiller, an eigenes Leiden geschmiegter und daher vielleicht noch weihevoller.

In die Zeit jenes gespannten Zustandes seiner Seele fiel ein kleinlich-brutales Ereignis, das Whitman freilich äußerlich mit voller Gelassenheit hinnahm. Der neu ernannte Chef seines Departements, Mr. Harlan, fand in Whitmans Pult, wahrscheinlich aufmerksam gemacht durch einen böswilligen Kollegen, das Manuskript für die

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neue Ausgabe der „Grashalme“, die Whitman vorbereitete. Harlan war Methodist, und man kann es begreifen, daß er über den Inhalt gewisser Gesänge so empört war, daß er sich zur sofortigen Entlassung des Verfassers entschied. Die Entlassung lautete ohne Begründung kurz: „Der Dienst Walter Whitmans aus New York als Beamter im Indianischen Büro ist von diesem Datum ab aufgehoben. — 30. Juni 1865.“

Der edelmütig-hitzige Freund Whitmans, O’Connor, ging sogleich zu dem ihm bekannten Kronanwalt Ashton, und dieser bewog Harlan zwar nicht, den Dichter in seinem Amte zu lassen, aber doch, ihn an Ashtons Departement zu überweisen. Auch sonst schadete das scharfe Vorgehen Harlans Whitman nicht, da er in Washington überall bekannt und beliebt war, seine „Grashalme“ aber so gut wie niemand gelesen hatte. Journalisten und Mitbeamte traten für ihn ein, und O’Connor selber veröffentlichte seine bekannte Schrift „The Good Gray Poet“ („Der gute graue Dichter“), in der er Harlan aufs schärfste angriff. Einige Zeit später gab ein anderer Freund, John Burroughs, die erste biographische Studie über Walt Whitman heraus. Whitman selber bereitete für das Jahr 1867 eine neue, die vierte Auflage der „Grashalme“ vor, die im Oktober dieses Jahres erschien. Sie enthielt wenig Neues, die „Trommelschläge“ waren noch nicht in sie aufgenommen; geringe Änderungen waren vorgenommen, Whitman schrieb an seine Mutter, er habe einige übertriebene Redewendungen und zwei oder drei ganze Stellen weggelassen.

In England hatte sich inzwischen W. M. Rossetti zum warmen Fürsprecher Whitmans gemacht und veröffentlichte nun einen Auswahlband der „Grashalme“, den Whitman nach einigen Bedenken gegen eine gekürzte Ausgabe seines in allen Teilen organisch gewachsenen Werkes dennoch gelten ließ. Diese Ausgabe gewann ihm einen ansehnlichen Kreis von Verehrern im Mutterland, zu denen Männer wie Tennyson, Dante Gabriel Rossetti, Swinburne, J. A. Symonds u.a. zählten. Vor allem eroberte sie ihm das Herz einer der bedeutendsten Frauen des damaligen England, der Witwe von Alexander Gilchrist, des berühmten Biographen von William Blacke, Anne Gilchrist, die sich sogleich von Rossetti ein Exemplar des vollständigen Werkes geben ließ und in einem leidenschaftlich-warmen Essay, „A womans estimate of Walt Whitman“, im

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besonderen für die verfehmten „Kinder Adams“ eintrat, wozu für eine englische Frau nicht wenig Mut gehörte. Sie trat auch in Briefwechsel mit Whitman selber (der allerdings fast ausschließlich von ihrer Seite bestritten wurde) und siedelte später mit ihren Kindern (im Jahre 1876) nach Philadelphia über, um in der persönlichen Nähe des verehrten Mannes zu leben.

Abgesehen von einer ganzen Reihe von Besuchern, die ihm sein wachsender Ruhm zuführte, lebte Whitman still und einfach in dem kleinen Kreise gelehrter und hochgebildeter Freunde, durch den er sich jedoch nicht an seiner alten Gewohnheit hindern ließ, mit schlichten Menschen aus dem Volk freundschaftlich zu verkehren. Vor allem datiert aus dieser Zeit seine bis an das Ende seines Lebens dauernde, innige, väterlich-zärtliche Kameradschaft mit dem jungen Irisch-Amerikaner Peter Doyle an, der nach dem Kriege, in dem er verwundet worden war, eine Stelle als Pferdebahnschaffner auf der Pennsylvania Avenue erhalten hatte. Whitman lernte ihn in einer stürmischen Winternacht kennen. Er kam grade von Burroughs und saß, in eine große, weißwollene Decke gewickelt, als einziger Fahrgast im Wagen. Der junge Schaffner, der draußen frierend und einsam stand, fühlte sich angezogen durch den Mann mit dem grauen Bart und dem sonnengebräunten Gesicht, trat in den Wagen und setzte sich zu ihm. Und Whitman fuhr, anstatt auszusteigen, die ganze Strecke noch einmal mit ihm, da sie soviel miteinander zu reden hatten. Seitdem kam Peter täglich nach beendeter Fahrt vor das Schatzhaus, in dem Whitmans Büro lag, und holte ihn zu Spaziergängen ab, bei denen sich oft die anderen Freunde anschlossen. Der junge Mensch war durch die Kriegsereignisse innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht; er schlug sich mit Selbstmordgedanken und dergleichen Gespenstern herum, und fand in Whitmans Wärme und Liebe den Halt seines Lebens wieder. Die Briefe Whitmans an ihn, die er später, als er Washington verlassen hatte, an ihn schrieb, füllen einen ganzen Band und sind unter dem alten Gedichttitel „Calamus“ erschienen. In dieser innigen Freundschaft bebte der starke väterlich-männliche Eros fort, der Whitman dazu befähigt hatte, die beste Kraft seines Lebens an die Hunderte und Tausende leidender Opfer des Krieges zu verströmen.

Die politische Entwicklung der Nachkriegsjahre war für Whitman eine tiefe Enttäuschung. Grant war zum Präsidenten gewählt

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worden, und der militärisch verdiente General erwies in den acht Amtsjahren seine völlige Unfähigkeit als Politiker. Anstatt, wie in Whitmans Geist gewesen wäre, die Herzen des Südens zu gewinnen und nun die wahre, innere Einheit der Union zu schaffen, wurde in radikal-republikanischer Übertreibung den aufständischen Weißen das Stimmrecht entzogen und den dafür gänzlich unreifen Negern verliehen, wobei Stimmenkauf und Korruption jeder Art ein immer schamloseres Wesen trieben. Wir können uns vorstellen, mit welchem Widerwillen der von der Idee einer Gemeinschaft freier, selbstbeherrschter, liebesstarker Menschen erfüllte Dichter etwa die Scharen der Schwarzen mitansah, die nach einem Wahlsieg „wie ebensoviel losgelassene wilde Bestien“ unter Waffen durch die Straßen tobten. Seit 1868 arbeitete er an einer Schrift, in der er die Umrisse wahrer Demokratie und somit wahrer Menschlichkeit zu entwerfen unternahm, jene gewaltige Bilanz der Gedankenfülle, die ihm im Kriege gereift war und die schließlich im Jahr 1871 als Sonderbroschüre unter dem Titel „Demokratische Ausblicke“ erschien. Trotz schneidendster Kritik an dem gegenwärtigen Zustand Amerikas, an seinem Dünkel, seiner geistigen und seelischen Holheit, seinem alle edle Besinnung erstickenden Materialismus, seiner kümmerlichen Literatur baut er dennoch auf die unerlösten Kräfte in der breiten, gesunden Masse und fordert und verkündet den großen Dichter, der den geistigen Ausdruck bringen soll für die Scharen edler, kraftvoller, stolzer Männer und tüchtiger Weiber, die allenthalben, unabhängig von dem korrupten Staats-, Gesellschaftsund Literaturbetriebe, anzutreffen sind, wenn man nur Augen hat, zu sehen. Der große Dichter soll selber nur ein Teil der Masse sein, mit ihr leben, mit machtvollen, schlichten Menschen aus dem Volke umgehen, ihre robuste Wesenheit in sich verkörpern und gestalten; frei von feudaler und kirchlicher Autorität und Tradition, genährt von der modernen Wissenschaft, leibhaftig erfüllt von der Gleichheit des Geistes Gottes in allen, soll er Angesicht zu Angesicht der herrlichen, frischen Welt der Menschen und Dinge gegenübertreten und sie deuten und neu schaffen und die Seele in Allen berühren, sie alle zu dem einzig beglückenden Bewußtsein ihrer Seele erwecken, ihres einmaligen, wunderbaren Selbst, das ins Ewige verkettet ist. Seine Sprache soll die der höchsten Natürlichkeit sein, ebenbürtig der Natur selber, ebenbürtig

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dem Unaussprechlichen. Den Menschen zu züchten, — das ist die Lösung des großen, jedoch nur scheinbaren Widerspruchs zwischen Individualismus und Gemeinschaft. Alle politischen Rechte und Freiheiten sind nichts, wenn nicht der freie, vollentfaltete Mensch geschaffen wird, der sie trägt und ausübt und dem Gesetz, das die Demokratie verkörpert, dem Gesetz der Entwicklung, die innere Freiheit gibt und warmen Glanz gegenseitiger, lebendiger Liebe und Kameradschaft. Die Demokratie soll nichts Geringeres sein, als die menschliche Sphäre, in der ihre Einzelnen miteinander leben, eine neue Erdenluft, die alle Umgangsformen, Sitten, Handlungen bestimmt und Wohlgefühl, Kraft, Schönheit, Güte, Gastlichkeit, Duldsamkeit lebendig zwischen Allen und von Allen zu Allen fluten läßt.

Da alle Neuschöpfung in Kunst und Leben nur aus der besonderen Wesenheit ihrer Rasse und ihres Volkes möglich ist, so muß aus Amerika das höchste Amerikanische entwickelt werden. „Das Höchste aber und die Krönung der Demokratie ist, daß sie allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter Länder zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer ältesten und jüngsten Völker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere Hälfte, die da ist Zusammengehörigkeit und Liebe, die verschmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Brüdern macht. Beide müssen lebendig gemacht werden durch die Religion (die einzige, würdigste Erhöherin von Mensch und Staat), die in die stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht. Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiöse Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schönheit und Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte, die geistige Frucht tragen, in volle Erscheinung getreten sind.“

„Im Herzen der Demokratie ruht das religiöse Element“: denn eben die einzig und allein aus stillster Einsamkeit und tiefster Versenkung der Einzelseele geborene mystische Einheit mit der göttlichen Allgegenwart, mit der Allseele wird in der erhöhten Gemeinschaft gleich ehrfürchtig-freier Seelen zu lebendiger Liebe und Freude, strahlend und widergestrahlt.



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Der ganze gewaltige materielle Aufschwung Amerikas ist dazu verurteilt, der furchtbarste Fehlschlag aller Zeiten zu werden, wenn nicht aus ihm sich solche Vergeistigung und Veredlung des Menschen emporringt; lieber in Niederlagen und Verlusten zur Erkenntnis der Seele geführt werden, als die Welt mit allen Gewalten der Materie beherrschen und seellos sein.

Freilich ist Whitman der letzte, nicht anzuerkennen, daß in einem vernünftigen, gesunden äußeren Gedeihen und maßvollem Wohlstand, der aber möglichst Allen zugute kommen muß, das physische Erdreich sozusagen liegt, auf dem der Typus von Menschen nach seinem Herzen sich am freiesten entwickeln kann. Verflucht aber die irrsinnie, Seele und Leib um ihr Bestes betrügende Hast nach Gewinn, das Zappeln in niederträchtig verzerrten Beziehungen von Mensch zu Mensch, das Herumhetzen in Geschäftshäusern, Salons, Klubs, Börsen u.s.f., das auch noch die Nächte zu schlaflosen Höllen macht und schließlich im gräßlichen Zähneklappern eines Todes ohne Würde und Majestät endet.

Der Krieg und seine eigenen tiefsten Erfahrungen inmitten der ungenannten Tausende sind ihm die Gewähr für das Vorhandensein einer stummen, freudigen Opferkraft in der breiten Masse dieses Volkes, die zu höherem Bewußtsein zu erwecken eben die heilige Aufgabe des wahren Dichters, Redners, Führers ist, der den innersten Sinn der Demokratie, des „göttlichen Durchschnitts“ erkannt hat.

Kühne, strenge und blühende Verkündung! Wohin gesprochen und von wem gehört? Von Amerika bislang sicherlich nicht.



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DUNKELHEIT UND HELLER ABEND

Willkommen, unaussprechliche Anmut sterbender Tage!

Und ich selber, o Tod, habe geatmet mit jeglichem Atemzug
In deiner Nähe und in dem stummen Gedanken an dich.

Gleichzeitig mit den „Demokratischen Ausblicken“ war die fünfte Auflage der „Grashalme“ erschienen, in die nun auch die „Trommelschläge“ eingereiht waren, und zwar waren sie, gleichsam zum Zeichen, in welchem tiefen Sinne Whitman die Erlebnisse des Krieges betrachtet wissen wollte, als Angelpunkt des ganzen Buches in die Mitte gestellt. Daneben veröffentlichte er ein kleines, 120 Seiten starkes Bändchen, das u.a. die Nänie auf Lincolns Tod enthielt und nach einem der schönsten und bedeutungsvollsten Gedichte „Durchfahrt nach Indien“ betitelt war. Hier deutete er den Plan an, gleichsam als rein spirituelles Seitenstück zu den „Grashalmen“ ein Buch Gesänge vom Übersinnlichen zu schreiben, und an anderer Stelle* verkündete er, daß er sich nun gereift fühle, die Gedichte zu schaffen, die das Programm der „Demokratischen Ausblicke“ verwirklichen und alle Staaten Amerikas Hand in Hand „in den ungebrochenen Kreis eines Gesanges“ führen sollten.

Aus solchen kühnen Plänen riß ihn der völlige Zusammenbruch seiner Gesundheit gewaltsam heraus.

Er hatte sich seit der Lazarettzeit nie wieder ganz erholt. In der letzten Zeit hatten sich die Anwandlungen von Schwäche,

*In der Vorrede zu dem Sonderabdruck eines Gedichtes „Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei“, das er auf Einladung der Vereinigten literarischen Gesellschaften von Dartmouth College im Sommer 1872 öffentlich sprach. Derlei Einladungen war er bereits einige Male gefolgt und tat es später noch wiederholt, bis in seine allerletzten Jahre.



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Schwindel und leichtere Erkrankungen bedenklich gemehrt. Am 23. Januar 1873 hatte er noch bis spät in den Abend hinein am Ofen in der Bibliothek des Schatzhauses gelesen, und sein schlechtes Aussehen war dem Pförtner aufgefallen. Nachdem er sich in seiner gegenüberliegenden Wohnung zu Bett begeben hatte, wachte er zwischen drei und vier Uhr morgens auf und fühlte, daß er Arm und Bein seiner linken Seite nicht bewegen konnte. Er blieb ruhig liegen, bis am Morgen Freunde kamen und den Arzt holten. Er hatte einen Schlaganfall erlitten.

Da die Zeitungen seinen Zustand übertrieben, schrieb er sogleich an seine Mutter, um sie beruhigen; er sei auf dem Wege zur Besserung und werde in ein paar Tagen wieder an seinem Pulte sitzen. Als er sich bei der Pflege seiner Freunde kaum etwas erholt hatte, bekam er die Nachricht vom Tode der Frau seines Bruders Jefferson, Martha, die er bedoners geliebt hatte. Trotzdem konnte er Ende März sich wieder an seine Büroarbeit begeben, obwohl lahm und von Schwächezuständen des Kopfes geplagt. Eine elektrische Kur tat ihm gut. Anfang Mai jedoch erkrankte seine Mutter, die von Brooklyn nach der kleinen Arbeitervorstadt Camden zu ihrem Sohn, dem Obersten George Whitman, und desssen Frau umgesiedelt war. Da es mit ihr nicht besser wurde, machte er sich, so leidend er selber war, am 20. Mai auf und fuhr nach Camden. Am 23. schon starb Louisa Whitman. Walt war bis zum letzten Augenblick bei ihr.

Er wurde von diesem Schlage bis ins innerste Herz getroffen. Als er voll Unrast sich wenige Tage später an die Küste begeben wollte, wohl zu der alten, geliebten Mutter See, hatte er einen schweren Rückfall und mußte sofort in das Haus seines Bruders zurückgebracht werden, — in dieses Städtchen, das er nun, abgesehen von einer späteren Reise, bis an sein Ende nicht wieder verlassen sollte.

Seine Freunde in Washington sorgten dafür, daß ihm sein Büroposten zunächst belassen wurde unter der Bedingung, daß er einen Ersatzmann stellte. Er erholte sich auch wieder so weit, daß er wenigstens zeitweise das Zimmer verlassen konnte. Aber dazwischen kamen immer wieder die langen, dunkeln Tage und Wochen, in denen er sich nicht von der Stelle rühren konnte und in denen sein Kopf jedes klare Denken und jede Führung

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versagte und die gräßlichen Schatten geistiger Umnachtung um ihn die Flügel regten. Die Freunde, die ihm hätten helfen können, waren fern. Bei seinem Bruder und dessen Frau fand er zwar liebevolle Fürsorge, aber keinerlei geistige Labung. Er mußte die Segel des Geistesschiffs, mit dem er just auf die „See des Unbekannten“ kühn wie ein Kolumbus der Seele hatte hinausfahren wollen, streichen. Er, der gewohnt war, seine eigene Fülle und Kraft zu verströmen, mußte sich nun mit letzten inneren Kräften an das bedrohlich schwindende Bewußtsein klammern, um sich über den Tiefen der Finsternis zu halten. Nur wer je in sich selber in äußerster Not, Einsamkeit und Schwäche um Seelenkraft und -halt gerungen hat, wird die pathetische Größe jenes „Dennoch“ begreifen, zu dem sich Whitman in diesen furchtbaren Jahren immer wieder emporrang.

Der Gedanke an die Mutter verließ ihn nie. „Piet, mein liebster Sohn“, schreibt er an Peter Doyle, „ich denke immer noch, ich werde durchkommen, aber die Zeit allein kann das entscheiden. Mutters Tod liegt mir noch immer auf der Seele, die Zeit lüftet diese Wolke nicht von mir.“ Und einen Monat später: „Ich habe das Gefühl, als ob ich wieder kräftiger werde und freier im Kopf — beinahe so, wie ich vor Mutters Tod war, — aber ich kann mich damit noch nicht versöhnen — es ist die große Wolke meines Lebens — nichts, was je vorher geschah, hat mich so getroffen.“ „Nichts, was je vorher geschah“ — wenn wir das, nach diesem gedrängten Bericht über sein Leben, durchdenken, werden wir die unendliche Kindesliebe spüren, die hier in verzweifelter Ohnmacht ringt. Nach Jahren setzte er gleichsam als Gedenkstein dieses Gedicht in die „Grashalme“:

Gleichsam an deinen Toren selber, Tod,
Am Eingang zu den grenzenlosen Dämmergründen deiner Herrschaft,
Für das Gedächtnis meiner Mutter, für die heilige Einheit der Mutterschaft,
Für sie, begraben und hingeschieden, doch nicht begraben, nicht geschieden von mir
(Ich sehe wieder das stille, gütige Antlitz, noch immer frisch und schön,
Ich sitze bei der Gestalt im Sarg,


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Ich küsse und küsse wiederum krampfhaft die lieben alten Lippen, die Wangen, die geschlossenen Augen im Sarg):
Für sie, das vollkommene Weib, tätig, geistig, mir von aller Erde, von Leben und Liebe das Teuerste,
Grabe ich eine Inschrift hier, bevor ich scheide, inmitten dieser Gesänge,
Und setze einen Grabstein hier.

Im Sommer 1874 wurde Whitman von einem neuen Chef seines bescheidenen Postens in Washington enthoben, was freilich vom Standpunkt der Behörde aus zu begreifen war, da er nun seit achtzehn Monaten krank war und keine Aussicht bestand, daß er in absehbarer Zeit sein Amt wieder würde übernehmen können.

Seine materielle Lage, die an sich bescheiden genug gewesen war, wurde dadurch bedenklich. Er hatte einige geringe Ersparnisse zurückgelegt, aber sie gingen nun rasch auf die Neige. Er war jetzt in klareren Stunden damit beschäftigt, seine Kriegstagebücher zur Herausgabe vorzubereiten, und schrieb auch kleine Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften, — ein Verdienst so recht von der Hand in den Mund. Der Ertrag der „Grashalme“ blieb immer noch sehr gering, und selbst um ihn wurde er, wie es zu jener Zeit noch möglich war, von den Buchhändlern zum Teil betrogen.

Trotz allem und allem aber rang er sich zu zwei seiner erschütterndsten Gedichte durch, in denen er das Leid in sinnbildliche Gestalt zwang: zu dem „Gebet des Kolumbus“ und dem „Gesang vom Rotholzbaum“, die das Vertrauen auf den göttlichen Plan und das „wahre Licht“ und den freudigen Untergang des Gegenwärtigen um des vollkommenen Zukünftigen willen verherrlichen.

Im Frühjahr 1876 begann sich der furchtbare Bann, der über ihm lag, allmählich zu lösen. Am 13. März war in der englischen Zeitung „Daily News“ ein Brief von Robert Buchanan erschienen, der die Vereinsamung und Verarmung des kranken Dichters warm und eindringlich beschrieb und weitgehende Teilnahme wachrief. Rossetti wandte sich an Whitman mit einer Anfrage, auf welche Weise seine englischen Freunde ihm am besten helfen könnten. Er antwortete würdig und schlicht und teilte mit, daß er eben eine neue Auflage, die sogenannte Zentenerausgabe der „Grashalme“,

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vorbereite, und wenn die Freunde ihm helfen wollten, so könnten sie es am besten dadurch, daß sie das Buch kauften. Darauf traf sofort eine überaus herzliche Antwort ein, samt einem größeren Barbetrag und der Liste zahlreicher Subskribenten. Das war eine gute Medizin, wie Whitman selber schrieb. Vor allem jedoch fand er in diesem Frühjahr den Weg zu dem Arzt, der ihn in Wahrheit, wenigstens soweit es möglich war, heilen sollte: zur Natur. Seine Gesundheit hatte sich so gebessert, daß er gegen Ende April aufs Land fahren konnte, auf die Farm einer befreundeten Familie Stafford, und hier sog er während sechs Jahren, in immer wiederholten Besuchen von Camden her, die Heilkraft der Stille und der Gemeinschaft mit Bäumen, Vögeln, Himmel und Bach in seinen noch immer halb gelähmten Körper ein. Von 1876 bis 1882 schrieb er hier jene von kindlich-panischer Einheit mit der Natur sanft leuchtenden Tagebuchblätter im Freien nieder, über denen das Wort Mark Aurels stehen könnte: Tugend ist eine lebendige, begeisterte Sympathie mit der Natur. Hier an dem klaren Timberbach, von Grillen umzirpt, von Schmetterlingen und Vögeln umflogen, saß, lag oder badete er in der Sonne, rang mit den schlanken jungen Baumstämmen, wie mit lebendigen Wesen, und nahm ihre elastische Kraft in sich auf. Klare Sternennächte, erhellt von den geliebten Fixsternbildern, die er alle bei Namen kannte, und von den wandelnden Planeten, gingen über ihm auf und atmeten ihm die alte, vertraute Luft der Unendlichkeit zu. Das reine Vertrauen zum Wunder der Wirklichkeit blühte wieder voll in ihm auf.

Es wäre falsch, sich Whitman in dieser Spätzeit seines Lebens etwa als einen durch Leiden Gezähmten, Resignierten zu denken. Das Kindliche in ihm, das immer ein starker Einschlag seines Wesens war, offenbarte sich vielleicht jetzt noch unmittelbarer in der sanften Lockerung des Alters. Aber allezeit blieb in ihm ein männlich Machtvolles, ein geheimnisvolles Feuer panischer Art, eine im Untergrund brennende Flamme einsamer Wildheit und Größe, die auf alle Besucher dieser Zeit eine irgendwie erschütternde Wirkung übte. Noch eben hatte er selber in der Vorrede zur Zentenerausgabe von der „furchtbaren, unwiderstehlichen Begier nach Sympathie“ gesprochen, die ihn durchglühte. Der glänzende junge englische Gelehrte Edward Carpenter, der ihn

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aufsuchte, schilderte ihn als höflich und von großer persönlicher Anmut, aber doch elementar und „adamitisch“ von Charakter: dreifach sich offenbarend, im magnetisch ausstrahlenden Geist des Mannes, in der umfassenden, in unsichtbaren Bereichen wohnenden Weite der Seele und zugleich in einer Art von furchtbarer Majestät, „als ob in ihm das Gericht sich offenbarte — eine zeusgleiche Erscheinung voll Donners“. Mrs. Gilchrist, die 1876 nach Philadelphia übergesiedelt und in deren Heim Whitman ein häufiger Gast war, selber eine herrliche, feurige Frau, sagte, wen dieses Element in Whitmans Wesen einmal erfaßt habe, für den gebe es kein Verbergen mehr vor der schrecklichen Flamme dieser Persönlichkeit. Dr. R. M. Bucke, selber ein Mann voll höchster Tatkraft und Energie, der nach einer abenteuerlichen Jugend ein bedeutender Arzt und Leiter einer Irrenanstalt geworden war und später die erste grundlegende Biographie Whitmans schrieb, schilderte seinen ersten Eindruck von Whitman als eine Art von „geistigem Rausch“, der auf Monate hinaus in ihm nachwirkte und ihm die Gestalt des greisen Dichters über menschliche Erscheinung hinaushob.

Whitmans Lebenskraft nahm in diesen Jahren ständig wieder zu; er ging in die Theater, besuchte Freunde und trug u.a. im Jahre 1879 in der Steck Hall in New York sein „Andenken an Lincoln“ vor. Und Mitte September desselben Jahres entschloß er sich, mit einigen Freunden eine große, sechzehnwöchige Reise über den Mississippi hinaus in den Westen bis zu den Rocky Mountains zu unternehmen. Er freute sich wie ein unbändiges Kind an der Fahrt in dem bequem-imposanten Schlafwagenzug und an der unermüdlichen Lokomotive, die sie durch die riesigen Strecken hinführte und der er schon vorher den feurigen Gesang ihrer Wesenheit, „An eine Lokomotive im Winter“, gedichtet hatte:

Dich für mein Rezitativ!
Dich in dem treibenden Sturm, wie jetzt, der Schnee, der sinkende Wintertag,
Dich in all deiner Rüstung, dein regelmäßiger Doppelpulsschlag, dein zuckendes Pochen,
Dein schwarz zylindrischer Leib, goldenes Messing und silbriger Stahl,


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Dein schweres Seitengestänge, gleichlaufende Zwillingsgestänge, wirbelnd, hin und her schießend an deinen Flanken,
Dein metrisches Keuchen und Brausen, bald schwellend, bald in die Ferne verhallend,
Dein großes, vorspringendes Licht ganz vorn,
Deine langen, bleichen, schwebenden Dampfwimpel, von zartem Purpur durchhaucht,
Die dicken, finsteren Wolken, aus deinem Schornstein gespieen,
Dein vielverklammerter Leib, deine Ventile und Federn, der bebende Blitz deiner Räder,
Der Zug dahinter, bald jäh, bald schlaff, doch unablässig vorwärts getragen;
Urbild der neuen Zeit — Sinnbild von Kraft und Bewegung — Puls du des Kontinents,
Einmal nur komm und diene der Muse und tauch in Gesang, so wie ich dich hier leibhaftig sehe,
Mit Sturm und schüttelnden Windstößen und wirbelndem Schnee,
Bei Tag mit warnender, läutender Glocke laut,
Bei Nacht mit schwingender Lampen stummem Signal.

Rauh-kehlige Schönheit!
Rolle durch meinen Gesang mit all deiner unbändigen Musik, deinen schwingenden Lampen bei Nacht,
Deinem tollen Pfeifengelächter, widerhallend, schütternd wie Erdbeben, alles aufstörend ringsumher,
Gesetz in dir selber ganz, fest deine eigene Spur verfolgend,
(Nicht schwächliche Süße tränenseliger Harfe in dir noch glattes Piano,)
Deine Trillerschreie von Felsen und Hügeln erwidert,
Hingejagt über die Steppen weit und über die Seen,
Zu den freien Himmeln uneingepfercht und froh und stark.

Noch einmal tauchte Whitman auf dieser Reise in weite, ihm bisher unbekannte, aber wie aus innerer Schau längst vertraute Bereiche der Neuen Welt. Fast in allen Städten, in die er kam, fand er alte Freunde aus der Kriegszeit, junge Männer, die er selber in den Lazaretten und Feldlagern gepflegt hatte und die inzwischen zu tüchtigen Handwerkern oder Farmern herangereift

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waren. Die zwei gewaltigsten Erlebnisse dieser Fahrt waren ihm die westlichen Prärien und das wilde, phantastisch zerklüftete Felsgebirge. Empfand er in der unter riesigen Lufträumen schweigenden Weite der Steppen das Element tiefsten, amerikanischen Charakters, ein Sinnbild ruhender Verschmelzung des Idealen und Realen, so rief sein Herz beim ersten Anblick des in vielgestaltiger Fülle gedrängten Hochgebirges, daß er hier gleichsam die Landschaft seiner Seele und das Gesetz seiner eigenen Gesänge gefunden habe. Diese in seiner riesigen Einheit brüderlich emporgeschichtete Mannigfaltigkeit, in der doch immer dieselben Formen, Felswand, Gipfel, Wildstrom, Schneefeld, sich unermüdlich wiederholten, war ihm das Abbild der Welt, die er selber geschaffen und in der er dieselben Gedanken immer wieder in hundertfacher Form wie eintönigen Adlerschrei wiederholt hatte. In St. Louis, im Herzen des Kontinents und des mächtigen Mississippitals, nahm er längeren Aufenthalt im Heim seines dorthin übersiedelten Bruders Jefferson. Hier schrieb er jene Tagebuchzeilen über eine „Literatur des Mississippitals“, die dieses „Vaters der Gewässer“ und dieses Tales würdig wäre, das sich breit, fruchtbar und nach Menschen rufend in die Zukunft öffnete. Er war des fast religiösen Glaubens, daß hier das wahre Zentrum neuer amerikanischer Menschheit sei, und prophezeite, daß in wenigen Jahrzehnten hier die wahre Hauptstadt der Union sich türmen würde. Wir fühlen in all seinen Tagebuchblättern dieser Zeit den Atem der wie Champagner berauschenden, klaren und leichten Luft dieser glücklichen Zone. In St. Louis besuchte er mit Vorliebe die Kindergärten, wie er denn zeit seines Lebens die Kinder vor allen liebte; und der riesige, weißbärtige Mann mit dem frischen Gesicht war bald unter dem Namen „Kris Kringle“, was etwa soviel wie „Weihnachtsmann“ ist, bei den kleinen Leuten bekannt und geliebt.

Neujahr 1880 kehrte er nach Camden zurück, immer wieder bei jeder Gelegenheit auf die geliebte Staffordfarm hinausflüchtend, an den Timberbach, dessen Plätschern ihm in die ersten Jahre der Gesundung geschwatzt hatte. Er besuchte Dr. Bucke und die von ihm geleitete Irrenanstalt in Südkanada und machte von da aus noch eine zweite kürzere Reise in dieses Land. Den Winter verbrachte er wieder in Camden und auf dem Lande und ging im Frühjahr nach Boston, wo er am 14. April wiederum sein

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„Andenken an Lincoln“ öffentlich vortrug. Er beschloß, von nun ab jedes Jahr eine solche Erinnerungsfeier an den Retter der Union zu halten, und führte das auch, mit wenigen Unterbrechungen, bis zuletzt aus. Im Hause Emersons verlebte er in einem der edelsten geistigen Kreise Bostons viele Stunden. Es war sein letztes Zusammensein mit dem Philosophen von Concord, der im Jahre darauf starb.

Die Bostoner Verlagsfirma Osgood and Co. trat an ihn heran mit Vorschlägen zu einer neuen, umfassenden (siebenten) Auflage der „Grashalme“. Auf diese Ausgabe setzte Whitman große Hoffnungen. Er vereinte in ihr den gesamten dichterischen Stoff der vorigen Ausgabe sowie der Broschüren, vor allem der „Durchfahrt nach Indien“, die u. a. das „Andenken an Lincoln“ enthalten hatte. Es wurde, abgesehen von der Ausgabe von 1860, die erste äußerlich würdige Ausgabe seines Werkes. Im Winter 1881 wurden etwa 2000 Exemplare abgesetzt. Anfang 1882 jedoch spielte ihm amerikanische Engherzigkeit wiederum einen argen Streich: der Distriktsanwalt von Boston verbot die Veröffentlichung auf Ersuchen einiger Agenten der „Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters“, falls nicht eine Reihe beanstandeter Stellen ausgemerzt würde. Da sich Whitman energisch widersetzte, zogen Osgood and Co. am 9. April die Ausgabe wieder ein, was ihnen allerdings heftige literarische Angriffe eintrug. Sie stellten jedoch Whitman die gedruckten Bogen und die Platten zur Verfügung, die er im Sommer der Philadelphier Firma David McKay übergab, die unverweilt eine neue, achte Auflage herausbrachte. Sie wurde in einem Tage verkauft und auch weitere Nachdrucke fanden so viel Nachfrage, daß Whitman am Jahresende einen Ertrag von 500 Dollar daraus hatte. Derselbe Verlag veröffentlichte noch im gleichen Jahre die gesammelten Tagebücher.

Weihnachten 1882 brachte ihm die besonders innige Freundschaft einer Quäkerfamilie aus Philadelphia, der Familie des reichen und frommen Glashändlers Pearsall Smith. Dessen Tochter Mary war von der Universität Neu-England mit dem begeisterten Entschluß nach Hause gekommen, Whitman persönlich kennenzulernen, obwohl ihre Eltern, denen Whitman bis dahin nur der Verfasser eines unmoralischen Buches war, sich einigermaßen entsetzt darüber zeigten. Der alte Smith fuhr jedoch mit dem Freimut des Quäkers

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eines Tages mit seiner Tochter in seiner schönen Equipage nach Camden hinaus und besuchte Whitman kurzerhand, und die Folge war ein jahrelanger, herzlicher Verkehr zwischen ihnen. Whitman nannte später Miß Mary nächst der 1885 verstorbenen Mrs. Gilchrist seine „treueste, lebende Freundin“. Das warme Licht jugendlicher Verehrung eines schönen Mädchens war wohl angetan, seinem alten, immer jungen Herzen wohlzutun, wie denn allezeit viel junges Volk kameradschaftlich mit ihm umging.

Die Erträge der beiden Philadelphia-Ausgaben ermöglichten ihm im März 1884, einen alten Lieblingsplan zu verwirklichen und sich ein bescheidenes zweistöckiges Häuschen in der Mickle-Street in Camden, nahe dem Hause seines Bruders, zu kaufen. Mrs. Mary Davis, eine brave Witwe, führte ihm die Wirtschaft und schuf ihm die behagliche Atmosphäre, die Whitman im Grunde so liebte. Es war seit jeher viel holländische Art in ihm und, bei aller Rücksichtslosigkeit gegen materielle Interessen, wenn es sich um Geistiges handelte, dennoch viel natürliche Neigung dazu, ein ordentlicher Haushälter seines Leibes zu sein. Er war für seine Person immer sparsam gewesen, so freigiebig er auch immer für andere bis an sein Ende blieb. Bis zuletzt führte er ganze Listen von Hilfsbedürftigen, denen er mit seinen kleinen Ersparnissen allezeit beisprang, mit der Selbstverständlichkeit und Kameradschaft, die jede Demütigung ausschloß, wie er selber auch Gaben seiner Freunde immer mit reinster Freude und Natürlichkeit annahm.

Der lange, still leuchtende Abend seines Lebens, der bis in das Frühjahr 1892 hineinglomm, ist arm an äußeren Ereignissen, obwohl gerade jetzt die Berichte über sein Leben anschwellen und fast jeden Tag und jede Stunde verzeichnen* Was er für das äußere Leben als wünschenswert und genügend erklärt hatte, besaß er nun: vier eigene Wände und ein Dach auf amerikanischem Boden, die geringen Einkünfte, die für die Notdurft des Lebens unerläßlich sind, und einen Sparpfennig auf der Bank. Bei ständig

*Ich verweise auf die breite und gewissenhafte Biographie von Henry Bryan Binns, die einzige bisher ins Deutsche übertragene (H. Haessel Verlag, Leipzig 1907, übersetzt von Johannes Schlaf). Es würde den Rahmen dieser kurzen Darstellung überschreiten, die Hunderte von kleinen Erzählungen, Erinnerungens, Anekdoten wiederzugeben, die alle sich in das Bild des greisen Whitman fügen — das Bild, in dem er volkstümlichem Gedenken so recht eigentlich erscheint.



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sinkenden Kräften des Leibes blieb er geistig rege, las viel, vor allem jetzt Carlyles Schriften, und nahm in kleineren Aufsätzen lebhaft Stellung dazu. Nachdem er einen Sonnenstich erlitten hatte und fast gar nicht mehr ausgehen konnte, schenkten seine Freunde ihm ein Wägelchen und Pferd. Das Fahren hatte er von jeher geliebt, und so kutschierte er nun täglich auf dem Lande umher, freilich nicht wie ein gemächlicher Greis, sondern immer in schnellster Karriere. Er vertauschte das erste Pferd, das ihm zu langsam lief, mit einem feurigeren. Seine Geburtstage pflegten die Freunde mit besonderen Festmahlzeiten zu feiern, bei denen er selber aus seinen Gedichten vorzutragen liebte und dabei auch jetzt mit besonderem Genuß und kräftig dem Champagner zusprach. Er sträubte sich allezeit dagegen, lebendigen Leibes etwa als eine Art von Heiligem mumifiziert zu werden. „Sprecht von mir“, trug er einigen jungen Besuchern aus England auf, „nicht als von einem Heiligen oder überhaupt etwas irgendwie endgültig Fertigem.“ Das Bewußtsein der elementaren Fülle und Gegensätzlichkeit in der Tiefe seines Wesens war bis zuletzt in ihm lebendig, jene naturhafte Vieldeutigkeit, die ihn von jeher gedrängt hatte zu den immer wiederholten Warnungsrufen seiner Gesänge, er sei nicht das, als was er vielleicht erscheine, er wirke vielleicht ebensoviel Böses wie Gutes, sein wahres Ich stehe hinter all seinen Worten: jene Bedingtheit, trotz der wahre Größe etwas auszusagen wagt. Der von dämonischem Wissen um die Vielspältigkeit der Menschenseele zerklüftete, freilich nicht naturhaft wiederum zusammengeschlossene, große dänische Denker Kierkegaard schreibt: „In einem Leben von siebzig Jahren alle möglichen Wesenheiten gehabt zu haben und sein Leben wie ein Musterbuch zu hinterlassen, das man zur gefälligen Auswahl aufschlagen kann, ist nicht so schwierig. Aber die eine Wesenheit voll und reich und dabei zugleich die entgegengesetzte zu haben und, indem man der einen Wesenheit das Wort und das Pathos gibt, da hinterlistig die entgegengesetzte unterzuschieben: das ist schwierig.“—„Hinterlistig unterzuschieben“ ist charakteristisch für Kierkegaard; für Whitman gilt, daß in ihm sich die verschiedenen Wesenheiten naturhaft als Eines ineinanderfügten, mit kindhaft elementarer Selbstverständlichkeit, immer in warmer, Kraft und Liebe ausströmender Einheit des Seins, die immer wieder und bis in die letzten Tage jene oft angedeutete,

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wunderbare Erregung in den Besuchern wachrief. Der englische Gelehrte Dr. Johnston schreibt, nach einer eingehenden Schilderung der Erscheinung des greisen, in seinem Armstuhl majestätisch sitzenden Dichters: „Aber sein Zauber lag nicht so sehr in diesen Einzelzügen als in seinem Gesamtwesen und in dem unwiderstehlichen Magnetismus seiner milden, aromatischen Gegenwart, die Gesundheit, Reinheit und Natürlichkeit auszuströmen schien und eine Anziehung auf mich übte, die mich in Wahrheit erstaunte, und eine Exaltation von Geist und Seele in mir wachrief, wie keines Menschen Erscheinung je zuvor. Ich fühlte, daß ich hier Angesicht zu Angesicht war mit der lebendigen Verkörperung alles dessen, was gut, edel und liebenswert an der Menschheit ist.“

Im November 1888 wurde Whitman aufs neue von einem Schlaganfall betroffen, der ihn dem Tode nahebrachte. Er verlor zum erstenmal für eine Zeitlang die Sprache. Mitten in dieser Krise fand er jedoch noch die Kraft, ein neues Bändchen, aus Gedichten und Prosa gemischt, die „Novemberzweige“, zu redigieren, kurze Gedichte, die alle „im frühen Kerzenlicht des Alters“ seine Vertrautheit mit Tod und Unendlichkeit in gestilltem Tonfall spiegeln. Alles, was er jetzt anrührte, bekam diese stille Transparenz und diesen Jenseitsschimmer. Im Jahr darauf war er noch einmal so weit gekräftigt, daß er dem Diner, das zu Ehren seines siebzigsten Geburtstages in einem großen Camdener Saal gegeben wurde, beiwohnen konnte, hinter einem riesigen Blumenstrauß fast verborgen und sich an seinem Champagner erfreuend. Im Oktober 1891 hielt der Philosoph Oberst Ingersoll in Philadelphia vor zweitausend Menschen einen Vortrag über Whitman, dessen Ertrag für den Dichter bestimmt war. Whitman war in seinem Rollstuhl dabei, und als Ingersolls Rede beendet und der mächtige Beifall verrauscht war, wandte er sich im Sitzen selber mit ein paar in ihrer Unmittelbarkeit wunderbaren Worten an die Zuhörer: „Da letzten Endes, meine Freunde,“ sagte er mit seiner merkwürdig jungen und wohllautenden Stimme, „das Wesentliche in dem seltsamen Zeugnis liegt, das wir persönliche Gegenwart und Begegnung von Angesicht zu Angesicht nennen, so bin ich hierher gekommen, um bei Ihnen zu sein und mich Ihnen zu zeigen und Ihnen mit meiner lebenden Stimme für Ihr Kommen und Robert Ingersoll für seine Worte zu danken. Und so, mit diesem kurzen Zeugnis meines

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Hierseins, und in solchem guten Willen und Dankbarkeit biete ich Ihnen meinen Gruß und Lebewohl.“

Das letzte Geburtstagsfest wurde in des Dichters eigenem Hause im Jahre 1891 gefeiert, bei dem Whitman einen Gedenktoast auf Emerson ausbrachte und trotz größter körperlicher Schwäche sich lebhaft an einem politischen Gespräch beteiligte, das seine nie erloschene Teilnahme am Schicksal Amerikas bezeugt. Er verurteilte darin aufs heftigste die protektionistische Doktrin „Amerika den Amerikanern“ und sprach für den Gedanken der gegenseitigen Abhängigkeit aller Völker, die einander in geistigem und wirtschaftlichem Austausch offenstehen sollten, da sie nichts anderes wären, als eine einzige Schiffsmannschaft an Bord. „Die letzte Wahrheit von der menschlichen Rasse“, sagte er, „ist die Solidarität der Interessen.“ — „Nach diesen Worten rief er nach seinem Rock und seinem Wärter, segnete alle und stieg langsam die Treppe hinauf.“ (H.B. Binns.)

Im Dezember veröffentlichte er das kleine gemischte Bändchen „Ade, Phantasie!“ sein „letztes Gezirp“, wie er es nannte (später in den „Grashalmen“ und „Prosaschriften“ enthalten), und endlich die zehnte Auflage der „Grashalme“, deren Druckbogen er auf dem Sterbebette las. Im Januar 1892 erschienen die „Gesammelten Prosaschriften“. Vor „Ade, Phantasie“ war das Bildnis wiedergegeben, das Whitman als Zweiundsiebzigjährigen zeigt, — „das Bildnis eines Patriarchen, gebeugt unter einer Weltwucht von Erfahrungen“ (H.B. Binns).

Neben diesen abschließenden Arbeiten an seinem dichterischen Werk widmete er sich dem Gedanken an sein eigenes Grabmal. Er selber machte den Entwurf dazu nach einer Zeichnung Blakes und ließ es im Herbst 1891 auf einem neuen Friedhof in der Nähe von Camden unter jungen Buchen und Nußbäumen auf seine Kosten errichten und ließ auch die Gebeine seiner Eltern herbeischaffen, die ihm zur Seite ruhen sollten.

Die Wintertage des neuen Jahres 1892 brachten ihm die letzte, mit immer gleicher Geduld ertragene Leidenszeit inmitten liebreicher Pflege seines Bruders und seiner Freunde, vor allem des jungen, ihm innig ergebenen Horace Traubel, der später der Verwalter seines literarischen Nachlasses und Begründer des „Walt-Whitman-Bundes“ wurde und von dem Whitman sagte, daß er

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ihm „unaussprechlich treu“ sei. In einer der letzten Nächte beugte sich Traubel über ihn, küßte ihn und sagte: „Geliebter Walt, du kannst dir nicht vorstellen, was du uns gewesen bist“, und er erwiderte schwach: „Noch ihr, was ihr mir gewesen seid.“ Er wurde zu seiner Erleichterung in ein Wasserbett gebracht und machte einen Versuch zu lachen, als er sich darin umwandte und das Wasser plätscherte. Während draußen kalter, grauer, tief verschneiter Winter alles umklammerte, löste sich sein Leiden in der letzten Wohligkeit des nahen Todes, und endlich, am 26. März, in der siebenten Stunde des Nachmittags, glitt er, Traubels Hand in der seinen haltend, ruhevoll und still in das Unbekannte hinweg. —

Am 30. März wurde Walt Whitman zu Grabe getragen. Ohne kirchliche Zeremonie — aber in der stillen Erhabenheit der Teilnahme Tausender. Als die Leiche noch aufgebahrt in dem kleinen Haus in der Mickle-Street lag, zog von elf Uhr früh bis zwei Uhr nachmittags ein Strom von Menschen an ihr vorüber, die dieses Antlitz noch einmal sehen wollten, einfache Leute aus dem Volk zumeist; ähnlich wie, in einer tragischeren Sphäre, die russischen Bauern jenes einsamen Dorfes und von weither an der Leiche Leo Tolstois stumm vorüberzogen; der Weg zum Friedhof war von trauernden Menschen gesäumt, und auf dem Friedhof selber, über den Hügel hin und bis an den Teich hinab, der ihn begrenzte, stand eine zahllose Menge, um den Worten Ingersolls und der anderen Freunde zu lauschen, die ihm den Gruß der „Liebe, die das Rätsel der Sterblichkeit überwindet“, nachsandten.



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PROSASCHRIFTEN


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VORBEMERKUNG

Walt Whitman pflegte seine Prosaschriften zum Teil in die Gedichtbändchen aufzunehmen, aus denen sich die „Grashalme“ in ihrer jetzigen Gestalt und der — nunmehr von ihnen getrennte — Prosaband der Standardausgabe 1891/92 entwickelten, die Whitman noch auf seinem Sterbebett redigierte und die in Philadelphia bei Mc Kay erschien. Nach seinem Tode ging sein Werk in den Verlag von Small, Maynard & Comp., Boston, über, wo 1897/98 die elfte Auflage der „Grashalme“ und der „Prosaschriften“ erschien.

Whitmans erste bedeutungsvolle Prosaschrift, die Vorrede zur Erstausgabe der „Grashalme“ (1855, Selbstverlag, Brooklyn, New York) verschwand bereits wieder in der zweiten Ausgabe von 1856 (New York, Selbstverlag), da ihr Inhalt größtenteils als „Steinbruch für neue Gedichte“ verwendet worden war.

1871 veröffentlichte Whitman seine umfangreichste und berühmteste Prosaschrift, die „Democratic Vistas“ („Demokratische Ausblicke“), zunächst als Sonderbroschüre (Washington, Selbstverlag), dann im zweiten Jahr innerhalb der fünften Auflage der „Grashalme“ (Washington, Selbstverlag).

1876 erschien gleichzeitig mit der sechsten Auflage der „Grashalme“ ein Bändchen, „Two Rivulets“ („Zwei Bächlein“), aus Gedichten und Prosa gemischt (Camden, Selbstverlag). Die darin enthaltenen Aufsätze gingen mit über in den 1882 erscheinenden, lediglich Prosa enthaltenden Band „Specimen Days and Collect“ („Tagebuchblätter“ oder eigentlich etwa „Mustertage und Gesammeltes“; Philadelphia, Mc Kay). In „Collect“ waren nun auch die „Demokratic Vistas“ [sic] sowie jene Vorrede zur Erstausgabe mitaufgenommen.



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1888 erschien ein wiederum aus Poesie und Prosa gemischtes Bändchen, „November Boughs“ (Novemberzweige“[sic]; Philadelphia, Mc Kay), und im gleichen Jahr, von Whitman selbst verlegt und vertrieben , ein Band „Complete Poems and Prose“. Endlich 1891, im Winter vor seinem Todesjahr, das gleichfalls gemischte Bändchen „Good-bye my Fancy“ („Ade, Phantasie“; Philadelphia, Mc Kay).

Unmittelbar vor seinem Tode redigierte Whitman dann die zehnte Auflage der „Grashalme“ (1891, Philadelphia, Mc Kay) und der „Gesammelten Prosaschriften“ (1892, ebenda) in je einem Band. Am 26. März 1892 starb er.

Diese Ausgabe letzter Hand enthält die Prosaschriften in dieser Reihenfolge: „Specimen Days“, „Collect“, „November Boughs“ und „Good-bye my Fancy“.

Ich habe die zeitlich jüngste Schrift, die Vorrede zur Erstausgabe, an den Anfang dieses ausgewählten Bandes gestellt und darauf gleich die „Demokratischen Aussichten“ folgen lassen, um diese kühn umrissene Gedankenwelt von Anfang an einheitlich und in aller Breite und Fülle wirken zu lassen.

Darauf folgen die Tagebuchblätter, zunächst die aus dem Sezessionskriege (1862–64) und danach die aus den Jahren 1876–82, die Whitman als halb Gelähmter auf Long Island, seiner Heimat, während langsamer seelischer, wenn auch körperlich nie völliger Gesundung im Wald, am Bach, an der atlantischen Küste und zum Teil auch während einer Reise in die Weststaaten niederschrieb.

Den Beschluß bilden einige Stücke aus den „Novemberzweigen“ und „Ade, Phantasie“, — nur wenige, da die meisten der in diesen beiden Bändchen enthaltenen Aufzeichnungen Themen behandeln, die uns ferner liegen, wie etwa eine Studie über Robert Burns, den Quäker Elias Hicks, über das spanische Element in Amerika oder persönliche Erinnerungen des greisen Whitman an Brooklyner und New Yorker Jugendeindrücke, wie etwa an das alte Bowery-Theater in New York u.a.m.

In die Kriegstagebücher habe ich Auszüge aus zwei Berichten Whitmans an den „Brooklyn Eagle“ und die „New York Times“ aufgenommen, sowie aus den Briefen, die er während dieser Zeit an seine Mutter schrieb. Sie sind dem Bande „The Wound Dresser“ („Der Wundpfleger“) entnommen, den Dr. R. M. Buke [sic] 1898 bei Small, Maynard & Comp., Boston, herausgab.

 H. R..“



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VORREDE ZUR ERSTAUSGABE DER GRASHALME
BROOKLYN, N. Y., 1855

Amerika verschließt sich nicht gegen die Vergangenheit und gegen das, was sie unter anderen Formen und politischen Zuständen hervorgebracht hat, auch nicht gegen die Idee der Kaste oder die alten Religionen, — es hört gelassen an, was die Vergangenheit ihm zu sagen hat, — es ist nicht ungeduldig, weil die träge Masse in der Literatur noch an Anschauungen und Formen hängt, aus denen das Leben, das sie einst erfüllte, geschwunden und in ein neues Leben in neuen Formen übergegangen ist, — es ist sehr wohl gewahr, daß der Leichnam allgemach aus den Eßund Schlafzimmern des Hauses hinausgetragen wird, — daß er just in der Tür noch ein wenig verweilt, — daß er für seine Zeit der Rechte war, — daß seine Tatkraft übergegangen ist, — es ist sehr wohl gewahr, daß der Leichnam allgemach aus den Eßund Schlafzimmern des Hauses hinausgetragen wird, — daß er just in der Tür noch ein wenig verweilt, — daß er für seine Zeit der Rechte war, — daß seine Tatkraft übergegangen ist auf den starken, wohlgestalten Erben, der jetzt naht und der für seine Zeit der Rechte sein soll.

Die Amerikaner haben von allen Völkern aller Zeiten der Erde wahrscheinlich die vollste dichterische Natur. Die Vereinigten Staaten selbst sind im Grunde das größte Gedicht. Die umfangreichsten und unternehmungslustigsten Staaten in der bisherigen Geschichte der Erde erscheinen zahm und ruhig neben ihrem viel größeren Umfang und Unternehmungsgeist. Hier endlich ist im Tun der Menschen etwas, was mit den gewaltigen Vorgängen von Tag und Nacht sich messen kann. Hier ist Tatkraft, aller Fesseln ledig, notwendigerweise blind für Besonderheiten und Einzelheiten, aber voll mächtigen Antriebs auf die Massen. Hier ist Gastlichkeit immer das Merkmal heroischen Geistes. Hier breitet sich die Fülle des Lebens, alles Kleinliche verachtend, unvergleichlich in der gewaltigen Kühnheit ihrer Menschenanhäufung, in ungehemmter

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und flutender Weite aus und verströmt ihren fruchtbaren, herrlichen Überfluß. Diesem Lande gehören die Schätze von Winter und Sommer, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn aus dem Boden wächst und Früchte von den Obstbäumen fallen und Fische in den Buchten schwimmen und Männer mit Frauen Kinder zeugen.

Andere Staaten sind verkörpert in ihren führenden Männern, — aber der Genius der Vereinigten Staaten offenbart sich nicht am besten oder reichsten in ihren Exekutivoder Legislativgewalten, noch in ihren Gesandten oder Schriftstellern, Universitäten, Kirchen oder Salons, auch nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern, — sondern immer und zumeist im gewöhnlichen Volk aller Staaten des Nordens, Südens, Ostens und Westens, auf ihrem ganzen mächtigen Gebiet. Die Größe der Nation wäre indessen nur ein Monstrum ohne eine entsprechende Größe und Großmut des Geistes ihrer Bürger. Weder dichtbewohnte Staaten, noch Straßen und Dampfschiffe, noch blühender Handel, noch Farmen, Kapital und Schulen können dem idealen Mann genügen, — und können auch dem Dichter nicht genügen. Ebensowenig können Traditionen genügen. Eine lebendige Nation kann sich allezeit selber ihr tiefstes Gepräge geben und kann sich die höchste Autorität auf dem einfachsten Wege schaffen: nämlich aus ihrer eigenen Seele heraus. (Als ob es nötig wäre, den Weg der Überlieferung des Ostens Generation um Generation zurückzutrotten! Als ob die Schönheit und Heiligkeit des gegenwärtig Vorhandenen hinter der des Mythischen zurücktreten müßte! Als ob die Menschen nicht in jeder Zeit sich ihr eigenes Gepräge geben könnten! Als ob die Erschließung des westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nordund Südamerika geworden ist, geringer wäre als der kleine Schauplatz der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!) Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt dem Wohlstand und der Verfeinerung der Städte, allen Segnungen von Handel und Landwirtschaft und aller geographischen Größe und dem Glanz äußerer Siege den Rücken, um sich zu weiden an dem Anblicke von leibhaftigen, vollentfalteten Menschen, oder eines vollentfalteten, unbezwinglichen, einfachen Menschen.

Die amerikanischen Dichter müssen Altes und Neues umschließen, denn Amerika ist die Rasse der Rassen. Die Ausdrucksform des

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amerikanischen Dichters muß transzendent und neu sein. Sie muß indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder erzählend. Seine Kraft ist auf viel Höheres gerichtet. Mögen die Zeiten und Kriege anderer Völker besungen und ihre Geschichte und ihre Charaktere dargestellt und in Verse gebracht werden. Anders der große Psalm der Republik. Hier ist das Thema schöpferisch und voll von Ausblicken in die Zukunft. Mag alles in flacher Gewohnheit, in Gehorsam und Gesetz erstarren, — der große Dichter erstarrt nie. Gehorsam knebelt ihn nicht, er ist Herr darüber. Unerreichbar hoch steht er und sendet die Strahlen eines konzentrierten Lichtes in die Runde, — er lenkt sie mit seinem Finger, — er siegt im Stehen über die schnellsten Läufer und überholt und überwältigt sie leicht. Er hält die Zeit, die auf den Wegen der Ungläubigkeit, Äußerlichkeit und Spottsucht irrt, durch seinen festen Glauben zurück. Glaube ist das Antiseptikum der Seele, — er durchdringt das einfache Volk und schützt es; — das Volk hört niemals auf, zu glauben, zu hoffen und zu vertrauen. Es liegt eine unbeschreibliche Frische und Unbewußtheit über einem ungebildeten Menschen, die die Macht des stolzesten gestaltenden Genies demütigt und ihrer spottet. Der Dichter erkennt mit unzweifelhafter Gewißheit, daß einer, ohne ein großer Künstler zu sein, doch ebenso geheiligt und vollkommen sein kann, wie der große Künstler.

Der größte Dichter übt oft seine Macht, zu zerstören und neu zu gestalten, aus, aber nur selten die Macht des Angriffs. Was vergangen ist, ist vergangen. Wenn er nicht neue, höhere Vorbilder aufstellt und sich nicht selber beweist durch jeden Schritt, den er tut, so ist er nicht, was er sein soll. Die bloße Gegenwart des großen Dichters bezwingt, — kein Verhandeln, Streiten oder sonst welche absichtlichen Bemühungen. Hier ist er vorbeigegangen! Sieh ihm nach! Da ist keine Spur von Verzweiflung oder Menschenhaß zu sehen, oder von List, oder Hochmut, oder von Schande der Abstammung oder Farbe, kein Wahnbild von Hölle, kein Bedürfnis nach einer Hölle: — sondern hinfort soll kein Mensch wegen seiner Unwissenheit oder Schwachheit oder Sünde verachtet werden. Der größte Dichter kennt nichts Kleinliches und Gemeines. Wenn er in etwas, das vorher als klein galt, seinen Atem bläst, so füllt es sich an mit der Größe und Lebenskraft des Universums. Er ist ein Seher, — er ist individuell, — er ist vollkommen in sich selbst, —

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die andern sind ebensogut wie er, nur, er sieht es, und sie nicht. Er gehört nicht zum Chorus, er macht nicht halt vor irgendeiner Vorschrift, er gibt Vorschriften. Was die Sehkraft für die andern Sinne ist, das ist er für die andern Menschen. Wer kennt das wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die andern Sinne bekräftigen sich einander, aber sie ist jedem Beweis, als nur dem durch sich selbst, entrückt und ist ein Vorläufer der Identitäten der geistigen Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen der Menschen, aller Instrumente und Bücher der Erde und allen Verstandes. Was ist noch wunderbar, was noch unwahrscheinlich, unmöglich, grundlos oder vag, — nachdem du einmal durch einen Spalt deiner Lider, nicht größer als die Narbe eines Pfirsichs, alle Nähe und Ferne in dich aufgenommen hast und der Sonnenuntergang und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle, zart und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, Stoßen oder Drängen?

Land und Meer, die Tiere, Fische und Vögel, der Himmel und seine Weltkugeln, die Wälder, Gebirge und Flüsse sind keine kleinen Themen, — aber die Menschen erwarten von dem Dichter mehr, als daß er nur die Schönheit und Würde weist, die allen stummen, leibhaftigen Dingen zu eigen sind, — sie erwarten von ihm, daß er den Pfad weise zwischen der Wirklichkeit und ihren Seelen. Männer und Frauen gewahren die Schönheit sehr wohl, — vielleicht ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von Jägern, Wäldlern, Frühaufstehern, Garten-, Obstund Feldbauern, die Liebe gesunder Frauen zur männlichen Gestalt, die Lust an der Seefahrt, am Pferdelenken, die Leidenschaft für Licht und Luft, —all das ist ein altes, mannigfaltiges Merkmal des unfehlbaren Schönheitssinnes und einer dichterischen Uranlage in Menschen, die im Freien leben. Sie brauchen nicht die Hilfe des Dichters, um wahrzunehmen. Das Wesen der Dichtkunst liegt nicht in Reim oder Gleichmaß oder in abstrakter Anrede der Dinge, noch in melancholischen Klagen oder guten Lehren, sondern es ist das Leben solcher Menschen und noch viel mehr und liegt in der Seele. Der Vorteil des Reimes ist, daß er die Saat eines noch lieblicheren und üppigeren Reimes ausstreut, und der Vorteil des Gleichmaßes, daß es sich selbst in seine eigenen Wurzeln überträgt, die in unsichtbarem Grunde ruhen. Der Reim und das Gleichmaß vollkommener Gedichte zeigen das freie Wachstum metrischer Gesetze an und

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sprossen aus ihnen so unfehlbar und ungezwungen wie Fliederblüten und Rosen aus einem Busch, und nehmen Formen an so fest wie die Formen von Kastanien und Orangen, Melonen und Birnen, und verströmen ihren Duft, der sich nicht in Form fassen läßt. Der Wohllaut und die Form der schönsten Dichtungen, Kompositionen, Reden oder Vorträge ist nicht unbedingt, sondern bedingt. Alle Schönheit kommt aus schönem Blut und einem schönen Gehirn. Wenn alles, was groß ist, in einem Mann oder einer Frau sich zusammenfindet, so ist es genug, und diese Tatsache wird durch das ganze Weltall hin in Geltung bleiben; aber die Künsteleien und Vergoldungen von Millionen Jahren werden nicht in Geltung bleiben. Wer sich Sorge darum macht, daß seine Gedichte reich verziert sind und schön klingen, ist verloren. Was du tun sollst, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, verachte Reichtümer, gib Almosen jedem, der dich darum bittet, stehe auf für die Unwissenden und Blöden, gib dein Einkommen und deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht über Gott, habe Geduld und Nachsicht mit den Menschen, nimm deinen Hut vor nichts Bekanntem oder Unbekanntem ab und vor keinem Menschen und keiner Anzahl von Menschen, — verkehre frei mit starken, schlichten Menschen aus dem Volke und mit jungen Leuten und mit Müttern von Familien, — prüfe alles nach, was du in der Schule oder Kirche oder aus irgendeinem Buche gelernt hast, und verwirf alles, was deiner eigenen Seele zuwider ist; und dein leibhaftiges Fleisch und Blut soll ein erhabenes Gedicht sein und den reichsten Wohllaut haben, nicht nur in Worten, sondern in den stummen Linien deiner Lippen und deines Gesichts, und zwischen den Wimpern deiner Augen, und in jeder Bewegung und jedem Gelenk deines Körpers. Der Dichter soll seine Zeit nicht auf unnütze Arbeit verschwenden. Er soll wissen, daß der Boden bereits gepflegt und gedüngt ist; andere mögen es nicht wissen, aber er soll es wissen. Er soll geradenwegs an die Schöpfung herangehen. Sein Vertrauen soll das Vertrauen aller Dinge, die er berührt, und alle Neigung an sich heranziehen.

Im ganzen bekannten Universum lebt ein wahrhaft Liebender, und das ist der größte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Glück oder Unglück, und empfängt täglich und stündlich seinen

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köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht, ist ihm nur Nahrung für das Feuer seines Suchens nach Vereinigung und Liebeslust. Niemand in der Welt hat eine solche Fähigkeit zur Freude wie er. Alles, was man nur vom Himmel oder von den Höchsten erwarten kann, empfängt er innig im Anblick der Morgendämmerung oder des Winterwaldes oder in der Gegenwart spielender Kinder oder wenn er seinen Arm um den Nacken eines Mannes oder Weibes legt. Seine Liebe hat vor aller anderen Liebe Muße und Raum noch über ihn selbst hinaus. Er ist kein zaghafter oder argwöhnischer Liebhaber — er ist zuversichtlich — er spottet der Entfernung. Seine Erfahrung, seine Schauer und Erschütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn wankend machen, weder Leiden noch Finsternis, weder Tod noch Furcht. Für ihn sind Klage, Eifersucht und Neid Leichen, begraben und verfault in der Erde, — er sah sie in die Grube fahren. Das Meer ist der Küste und die Küste des Meeres nicht sicherer, als er des Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schönheit sicher ist.

Der Genuß der Schönheit ist kein Spiel auf Verlust oder Gewinn, — er ist so unvermeidlich wie das Leben, so streng gesetzmäßig wie die Gravitation. Hinter dem Sehen liegt ein anderes Sehen und hinter dem Hören ein anderes Hören und hinter der Stimme eine andere Stimme, die in Ewigkeit suchen nach der Harmonie der Dinge mit dem Menschen. Diese verstehen das Gesetz der Vollkommenheit in allem, was auf Erden flutet und ruht, und wissen, daß es verschwenderisch und gerecht ist, daß es in jeder Minute von Licht und Dunkelheit und in jedem Fußbreit Erde oder Meer lebt, und in jeder Himmelsrichtung, und in jedem Geschäft oder Beruf und in allem, was auf Erden geschieht. Das ist der Grund, weshalb dem richtigen Ausdruck von Schönheit Bestimmtheit und Gleichgewicht zu eigen ist. Ein Teil muß nicht über den andern gestellt werden. Der beste Sänger ist nicht der, der das geschmeidigste und mächtigste Organ hat. Die wahre Lust an Gedichten wird nicht durch die erweckt, die das beste Versmaß haben und am schönsten klingen.

Ohne Anstrengung und ohne daß man im geringsten merkt, wie es geschieht, wirkt der größte Dichter durch den Geist eines oder aller Ereignisse und Leidenschaften, Szenen und Personen,

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die er schildert, mehr oder weniger auf den individuellen Charakter dessen ein, der ihn hört oder liest. Das in der rechten Art zu tun, heißt mit den Gesetzen wetteifern, die der Zeit nachstreben und folgen. Hierin muß aller Zweck und der Schlüssel zu allem liegen, — und der leiseste Hinweis ist der beste und letzten Endes der klarste. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt, sondern vereint. Der größte Dichter gestaltet das, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf ihre Füße. Er sagt zur Vergangenheit: Stehe auf und wandle vor mir, daß ich dich erkenne! Er lernt von ihr, — er stellt sich dorthin, wo die Zukunft zur Gegenwart wird. Der größte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen über Charaktere, Szenen und Leidenschaften, — er steigt zum Schluß noch höher und vollendet alles, — er läßt die höchsten Zinnen sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was jenseits von ihnen liegt, — er erscheint einen Augenblick leuchtend auf dem äußersten Rand. Wundervoll ist sein letztes halb verborgenes Lächeln oder Stirnrunzeln; durch diesen Blitz im Augenblick des Scheidens wird der, der ihn sieht, noch für viele Jahre später ermutigt oder erschreckt. Der größte Dichter predigt nicht Moral und gibt keine Regeln für die Anwendung von Moral; er kennt die Seele. Die Seele ist von dem grenzenlosen Stolz erfüllt, niemals eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen, als nur ihre eigene. Aber ebenso grenzenlos wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines gleicht das andere aus, und keines von beiden kann jemals übers Ziel schießen, solange es mit dem andern vereint ist. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Zwillingsbunde. Der größte Dichter hat dicht zwischen ihnen beiden gelegen, und sie leben in seinem Stil und in seinen Gedanken.

Die Kunst der Künste, der Ruhm der Darstellung und der Sonnenschein der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als Einfachheit, — nichts kann Übertreibung oder Unbestimmtheit wieder gutmachen.

Auf der Woge der Leidenschaft hinzutreiben, in gedankliche Tiefen zu tauchen und allen Gegenständen Ausdruck zu verleihen, das sind weder sehr gewöhnliche noch sehr ungewöhnliche Gaben. Aber in der Literatur mit der vollkommenen Geradheit und Unbekümmertheit der Bewegungen von Tieren, mit der Unantastbarkeit

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der Stimmung von Bäumen im Wald, von Gras am Wege zu sprechen, das ist der vollkommene Triumph der Kunst. Hast du einen gesehen, dem das gelungen ist, dann hast du einen Meister unter den Künstlern aller Völker und Zeiten geschaut. Nicht den Flug der grauen Möve über die Bucht, noch die feurige Ungeduld des Vollblutes, noch Sonnenblumen, die sich vom hohen Stengel neigen, noch die Erscheinung der Sonne in ihrem Lauf am Himmel hin, noch die Erscheinung des Mondes danach wirst du mit größerem Wohlgefallen betrachten als ihn. Der große Dichter hat eigentlich keinen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Verkürzung und der freie Kanal seiner selbst. Er schwört seiner Kunst: Ich will mich nicht aufdrängen, noch will ich in meinen Arbeiten Glätte oder Effekthascherei oder Originalität haben, die wie ein Vorhang zwischen mir und den andern hinge. Ich will nichts zwischen uns haben, nicht den üppigsten Vorhang. Was ich sage, bedeutet genau das, was ich sage. Meinetwegen mögen andere begeistern, verblüffen, bezaubern oder schmeicheln, — meine Zwecke sollen sein wie die von Gesundheit oder Hitze oder Schnee und sich ebensowenig wie sie um Belohnung kümmern. Was ich erlebe oder schildere, soll aus meiner Arbeit hervorgehen, ohne eine Spur meines Arbeitens. Du sollst bei mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.

Das alte rote Blut und der reine Adel großer Dichter erweist sich durch ihre Zwanglosigkeit. Ein heroischer Mensch übergeht und verläßt unbekümmert Sitte oder Vorbild oder Autorität, die ihm nicht passen. Unter den Kennzeichen der Bruderschaft von Schriftstellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Künstlern ersten Ranges ist keines schöner, als der schweigsame Trotz, der von neuen, freien Formen aus vorwärts schreitet. Wo man Dichtungen, Philosophie, Politik, Mechanik, Naturwissenschaft, Sitte, Kunsttechnik, würdige Nationaloper, Schiffbaukunst oder eine andere Kunst braucht, da wird immer und ewig derjenige der größte sein, der das größte ursprüngliche praktische Vorbild gibt. Die reinste Ausdrucksform ist die, die keine ihrer würdigen Sphäre findet und sich eine schafft.

Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen ist die: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr, was wir enthalten, enthaltet ihr; was wir genießen, könnt ihr genießen. Habt ihr gemeint, es könne nur

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einen Höchsten geben? Wir behaupten, daß es zahlreiche Höchste geben kann, und daß der eine den anderen ebensowenig ersetzt als ein Auge das andere, und daß die Menschen nur durch das Bewußtsein ihrer eigenen Hoheit gut und groß sein können. — Stürme und Zerstörungen, die tödlichsten Schlachten und Schiffbrüche, die wildeste Wut der Elemente, die Gewalt des Meeres, der Kreislauf der Natur, das Weh menschlichen Sehnens, Würde, Haß und Liebe, — worin glaubt ihr, liegt die Größe von all dem? Es ist jenes Etwas hier und überall — Herr über die Zuckungen des Himmels und den Anprall der See. Herr über Natur und Leidenschaft und Tod und alle Schrecknisse und Schmerzen.

Die amerikanischen Dichter sollen sich auszeichnen durch Großmut und Liebe und Ermutigung von Mitstrebenden. Sie sollen Kosmos sein, ohne Monopol oder Geheimnis, mit Freuden alles weitergeben — hungrig nach Ebenbürtigen Tag und Nacht. Sie sollen sich nicht um Reichtümer kümmern und Privilegien, — sie sollen selbst Reichtümer und Privilegien sein. Sie sollen wissen, wer der reichste Mann ist. Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht, Gleichwertiges aus dem größeren Vorrat seines eigenen Selbst entgegenstellt. Der amerikanische Dichter soll keine Kaste schildern, noch eine oder zwei Interessensphären, noch vorwiegend Liebe, noch vorwiegend Wahrheit, noch vorwiegend die Seele, noch vorwiegend den Körper, — auch soll er für die östlichen Staaten nicht mehr sein als für die westlichen, noch für die südlichen Staaten mehr als für die nördlichen.

Exakte Wissenschaft und ihre praktische Entwicklung ist für den größten Dichter kein Hindernis, sondern immer eine Ermutigung und Stütze. Anfänge und Erinnerungen sind dort, — dort die Arme, die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten, — dorthin kehrt er nach all seinem Gehen und Kommen zurück. Der Seemann und Reisende — der Anatom, Chemiker, Astronom, Geolog, Phrenolog, Spiritualist, Mathematiker, Historiker, Lexikograph sind keine Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihr Bau liegt dem Bau jedes vollkommenen Gedichtes zugrunde. Gleichgültig, was emporwächst oder ans Tageslicht kommt, sie gaben den Samen zur Konzeption, — aus ihnen kommen oder bei ihnen stehen die sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Eintracht sein soll

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zwischen Vater und Sohn, und wenn die Größe des Sohns die Ausstrahlung von der Größe des Vaters ist, dann soll auch Liebe bestehen zwischen dem Dichter und dem Mann der exakten Wissenschaft. Die Schönheiten der Dichtung sollen künftig den Schmuck und die letzte freudige Bestätigung der Wissenschaft bilden.

Groß ist der Glaube an das Gedeihen der Wissenschaft und an die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Hier zu weilen, hier sich zu bewegen, begeistert die Seele des Dichters, und doch bleibt sie stets Herrin ihrer selbst. Die Tiefen sind unergründlich und deshalb ruhig. Unschuld und Nacktheit kehren wieder, — sie sind weder anständig noch unanständig. Die ganze Theorie vom Übernatürlichen und alles, was damit verknüpft oder daraus abgeleitet ist, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen ist, was geschieht und was geschehen kann und soll: die Naturgesetze schließen alles in sich. Sie genügen für jeden einzelnen Fall, — keiner darf übereilt oder verzögert werden, — für besondere Wunder an Dingen oder Menschen ist kein Raum in dem weiten klaren System, wo jede Bewegung und jeder Grashalm und die Körper und Geister von Männern und Weibern und alles, was sie betrifft, unaussprechlich vollkommene Wunder sind, alle unter sich zusammenhängend und doch jede gesondert und an seinem Platz. Auch läßt sich die Annahme, als gäbe es in dem uns bekannten Universum etwas Göttlicheres als Männer und Weiber, nicht vereinen mit der Realität der Seele.

Männer und Weiber und die Erde und alles, was darauf ist, müssen so genommen werden, wie sie sind, und die Erforschung ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft soll nicht unterbrochen werden und soll mit völliger Unbefangenheit geschehen. Auf dieser Basis spekuliert die Philosophie, immer im Hinblick auf den Dichter, immer mit Rücksicht auf das ewige Streben aller nach Glück, niemals im Gegensatz zu dem, was für die Sinne und für die Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller nach Glück bildet den einzigen Kern gesunder Philosophie. Was weniger umfaßt als das, — was weniger ist als die Gesetze von Licht und astronomischer Bewegung — oder weniger als die Gesetze, die den Dieb, den Lügner, den Fresser, den Säufer in diesem und zweifellos auch in jenem Leben verfolgen — oder was weniger ist als weite Zeiträume oder langsame Verdichtung oder geduldiges Aufeinanderlagern von Erdschichten,

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— das hat keinen Wert. Alles, was Gott in eine Dichtung oder in ein philosophisches System bringen will, gleichwie als ein Geschöpf oder einen Einfluß, der bekämpft wird, hat gleichfalls keinen Wert.

Gesundheit und Einheitlichkeit charakterisieren den großen Meister, — wird in einem Prinzip gefehlt, so ist alles verfehlt. Der große Meister hat mit Wundern nichts zu tun. Er sieht seine eigene Gesundheit in der Gemeinschaft mit der Masse, — er sieht einen Mangel in besonderem Hervorragen. Vollkommene Gestalt wächst auf allgemeinem Boden. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen, ist groß, denn das heißt damit harmonieren. Der Meister weiß, daß er unbeschreiblich groß ist, und daß alle unbeschreiblich groß sind, — daß zum Beispiel nichts größer ist, als Kinder zu empfangen und gut zu erziehen — daß Sein gerade so groß ist wie Beobachten oder Erzählen.

Für das Werden großer Meister ist die Idee der politischen Freiheit unerläßlich. Freiheit findet Helden als Anhänger, wo immer Männer und Frauen leben, — aber sie findet keine treueren Anhänger und kein freudigeres Willkommen als bei den Dichtern. Sie sind die Stimme und die Verkörperung der Freiheit. Sie sind seit Urzeiten dieser großen Idee würdig, ihnen ist sie anvertraut, und sie müssen sie bewahren. Nichts hat den Vorrang vor ihr, und nichts kann sie einstellen oder erniedrigen.

Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaftigen Körper verdichtet sind und in der Lust an den Dingen, so besitzen sie den Vorteil der Echtheit vor aller Erfindung und Romantik. Wenn sie sich verströmen, so werden alle Dinge von Schauern Lichts überflossen, — das Tageslicht wird von fliegenderem Glanze erleuchtet, — das Einmaleins die seine, — das Alter die seine, — das Zimmermannshandwerk die seine, — die Große Oper die ihre, — der riesige, scharfgeschnittene New Yorker Klipper auf See unter Dampf oder vollen Segeln leuchtet in unvergleichlicher Schönheit, — die weiten, ineinander wirkenden Kreise der Regierung Amerikas leuchten in gleicher Schönheit, — und die gewöhnlichsten klaren Entschlüsse und Handlungen in gleicher Schönheit. Die Dichter des Kosmos schreiten durch alle Hindernisse und Barrikaden und Unruhen

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und Kriegslisten hindurch zu den Hauptprinzipien. Sie stiften Nutzen, — sie erlösen die Armut [sic] von ihrer Not und die Reichen von ihrem Hochmut. Du stolzer Besitzender, sagen sie, sollst nicht mehr gewinnen und genießen als irgendein anderer. Der Eigentümer der Bibliothek ist nicht der, der einen Rechtsanspruch auf sie hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. Jedweder, Mann oder Weib, ist Eigentümer der Bibliothek, der all die verschiedenen Zungen, Themen und Stilarten zu lesen vermag und sie ohne Mühe in sich aufnimmt, und den sie geschmeidig, stark, reich und weit machen.

Diese amerikanischen Staaten, stark, gesund und vollkommen, sollen kein Vergnügen an Verzerrungen der natürlichen Vorbilder haben und dürfen sie nicht zulassen. In Gemälden, Bildwerken oder Schnitzereien in Stein oder Holz, in Illustrationen von Büchern und Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Räume, Möbel oder Kleider schmücken oder auf Gesimsen oder Denkmälern stehen soll oder auf dem Bug von Schiffen oder sonst irgendwo vor Menschenaugen im Haus oder draußen, ist alles, was die rechtschaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, örtlichkeiten oder Umstände darstellt, ein abscheulicher Unfug. Die menschliche Gestalt vor allem ist so erhaben, daß sie niemals ins Lächerliche gezogen werden sollte. Übertriebene Ornamente zu einem Werk dürfen nicht geduldet werden, sondern nur die, die den vollkommenen Erscheinungsformen der freien Natur entsprechen und unwiderstehlich aus der Natur des Werkes selber quellen und zu seiner Vollendung nötig sind. Die meisten Schöpfungen sind am schönsten ohne Ornament. übertreibungen rächen sich an der Physiologie des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Gemeinwesen erzeugt und empfangen, wo die Vorbilder natürlicher Formen am Licht jedes Tages stehen. Der große Genius und das Volk dieser unserer Staaten darf nicht ins Romantische erniedrigt werden. Wenn wirkliche Geschehnisse richtig erzählt werden, bedarf es keiner Romane mehr.

Die großen Dichter sind kenntlich an dem Wegfall aller Kunstgriffe und an der Offenbarung vollkommener persönlicher Lauterkeit. Hinfort soll keiner von uns mehr lügen, denn wir haben erkannt, daß Aufrichtigkeit die innere und äußere Welt gewinnt, ohne jede Ausnahme, und daß noch nie, seit unsere Erde sich zur

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Weltkugel geballt hat, Betrug, Ränke und Verschlagenheit auch nur ein Körnchen von ihr, auch nur den Hauch eines Schattens an sich zu ziehen vermochten, — und daß ein falscher, kriecherischer Mensch sich auch hinter dem Reichtum und der Macht eines Staates oder der ganzen Staatenrepublik nicht zu verbergen vermag, sondern entdeckt und der Verachtung ausgeliefert wird, — und daß die Seele sich niemals narren läßt und nicht genarrt werden kann, — und daß der Wohlstand ohne die liebende Zustimmung der Seele nur eine stinkende Blähung ist, — und daß es noch nie ein Wesen gegeben hat, das von Natur die Wahrheit haßt: auf allen Kontinenten dieser Erde nicht und auf keinem Planeten und Satelliten, nicht in der Dunkelheit vor der Geburt, noch irgendwann im Wechsel des Lebens, noch irgendwo im Verborgenen oder im lebhaftesten Treiben, noch in irgendeiner Gestalt oder Umgestaltung.

Höchste Vorsicht und Klugheit, festeste organische Gesundheit, starke Hoffnungskraft, Liebe zu Frauen und Kindern, die Kraft, aus allem Nahrung zu ziehen, Störendes zu vernichten, Sinn für Kausalität und für die vollkommene Einheit der Natur, und die Fähigkeit, diesen selben Sinn auch auf die menschlichen Angelegenheiten anzuwenden, — all das wird an die Oberfläche des Weltbewußtseins heraufbeschworen, um Teil des größten Dichters zu werden, von seiner Geburt aus Mutterleib und von der Geburt seiner Mutter aus Mutterleib an. Klugheit geht selten weit genug. Man hielt den Bürger für klug, der auf soliden Gewinn bedacht war und für sich und seine Familie gut sorgte und ein ehrbares Leben führte ohne Schuld und Vergehen. Der größte Dichter sieht und würdigt diese haushälterischen Notwendigkeiten, wie er die Notwendigkeit von Essen und Schlafen sieht, aber er hat einen höheren Begriff von Klugheit und begnügt sich nicht damit, nur die Hand auf die Klinke der Pforte zu legen. Das wahre Wesen der Lebensklugheit besteht nicht darin, daß man sich das Leben behaglich gestaltet und zu Reife und Ernte führt. Es genügt, daß man, um unabhängig zu sein, eine kleine Summe als Sterbegeld auf die Seite legt, ein paar Balken um sich her und ein paar Schindeln über dem Kopfe hat auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer Erde und die paar Dollars verdient, die man jährlich zur Kleidung und Nahrung braucht. Aber eine traurige Lebensklugheit ist es, ein so erhabenes Wesen, wie den Menschen, an die jahrelange,

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bleiche Hast des Gelderwerbes hinzuwerfen, mit all ihren sengenden Tagen und eisigen Nächten, all ihren würgenden Enttäuschungen und heimlichen Ränken, mit ihrer ewigen Hetzjagd durch Geschäftsräume und Salons, oder schamlosen Prassen, wenn andere verhungern; mit all ihrer Gefühllosigkeit für Blüte und Duft der Erde, für Blumen und Luft und Meer, für die wahre Freude an den Frauen und Männern, denen du begegnest oder mit denen du zu tun hast, in Jugend und mittlerem Alter, und mit Krankheit und verzweifeltem Ekel am Ende eines Lebens ohne Erhebung und Unschuld (magst du es auch zu einer Rente von zehntausend Dollars im Jahre oder zu einem Sitz im Kongreß oder in der Regierung gebracht haben), und schließlich mit dem gräßlichen Zähneklappern eines Todes ohne Heiterkeit und Majestät. Das ist der große Selbstbetrug in der modernen Zivilisation und ihrem Streben, der die Oberfläche und die unleugbar an sich bedeutende Erscheinungsform der Zivilisation entstellt und ihre riesigen Züge, die immer schneller und schneller wachsen, mit Tränen feuchtet, da noch die Küsse der Seele sie nicht erreichen können.

Noch ist die rechte Erklärung nicht gegeben, was Klugheit sei. Die Klugheit bloßer Wohlhabenheit und Ehrbarkeit eines hochgeachteten Lebens ist zu schwach erkennbar für das Auge, um überhaupt beurteilt zu werden, da alle Maße von klein oder groß spurlos verschwinden bei dem Gedanken an die Klugheit, die die rechte ist für die Unsterblichkeit. Was ist die Weisheit, die den spärlichen Raum eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren ausfüllt, verglichen mit der Weisheit, die durch Jahrtausend sich breitet und zu bestimmten Zeiten mir gewaltiger Verstärkung und reicher Gegenwart wiederkehrt, mit den hellen Gesichtern von Hochzeitsgästen, die von überallher, soweit du sehen kannst, fröhlich auf dich zu eilen? Nur die Seele ist selbstherrlich, — alles andere steht in Beziehung zu dem, was nachfolgt. Alles, was ein Mensch tut oder denkt, hat seine Folgen. Klein oder groß, gebildet oder ungebildet, weiß oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank oder gesund, — alles was ein Mann oder Weib, vom ersten Atemzug bis zum letzten, Kraftvolles, Gütiges, Wahrhaftiges tut, ist sicherlich für ihn oder sie von Nutzen in der unerschütterlichen Ordnung des Weltalls in alle Ewigkeit. Die Klugheit des größten Dichters antwortet letzten Endes der Sehnsucht der übervollen

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Seele, weist nichts von sich, übergeht nichts aus Rücksicht auf sich oder andere, kennt keinen besondern Sabbat oder Gerichtstag, scheidet die Lebenden nicht von den Toten oder die Gerechten von den Ungerechten, ist zufrieden mit dem Gegenwärtigen, fügt zu jedem Gedanken und jeder Tat das entsprechende Gegenteil und kennt weder Vergebung noch Buße!

Die Probe darauf, ob er er [sic] der größte Dichter ist, muß er jetzt und heute bestehen. Wenn er sich nicht von der unmittelbaren Gegenwart wie von gewaltiger Meerflut durchströmen läßt, — wenn er nicht selbst die Gegenwart in übertragener Form ist und wenn ihm die Ewigkeit nicht offen steht, die alle Epochen, Schauplätze und Vorgänge, alle belebten und unbelebten Formen miteinander verschmilzt, die alle Zeiten umschließt, die aus ihrer unfaßbaren Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit in die dahingleitenden Erscheinungsformen des „Heute“ emportaucht und von den lenksamen Ankern des Lebens festgehalten wird, die das Fleckchen Gegenwart zum Übergang macht von dem, was war, zu dem, was sein wird, und sich in der Welle just dieser Stunde offenbart, — so mag er, der der größte Dichter sein wollte, noch einmal untertauchen in den allgemeinen Strom und seine Entwicklung abwarten.

Der letzte Prüfstein jeder Dichtung, jedes Charakters oder Werks bleibt immer derselbe. Der vorausschauende Dichter versetzt sich selbst um Jahrhunderte voraus und beurteilt alles Vollbringen unabhängig vom Wechsel der Zeit. überlebt er sie? Dauert er ungeschmälert fort? Wird derselbe Stil und das Streben des Genius nach solchen Zielen auch dann noch genügen? Ist der Marsch von zehn, hundert und Tausenden von Jahren willig nach rechts oder links abgewichen um seinetwillen? Wird er noch lange nach seinem Tode geliebt? Denkt der junge Mann und das junge Weib oft an ihn? und denken die Reifen und die Alten an ihn?

Eine große Dichtung ist für alle Zeiten Gemeingut und für alle Stände und Rassen, alle Klassen und Sekten, und für das Weib ebenso wie für den Mann und für den Mann ebenso wie für das Weib. Eine große Dichtung ist kein Abschluß für Mann oder Weib, sondern ein Anfang. Hat sich jemand gedacht, er könne sich endlich unter einer unanfechtbaren Autorität niederlassen, sich bei ihren Erklärungen beruhigen, diese sich zu eigen machen und völlig

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befriedigt sein? Zu keinem solchen Ziel führt der größte Dichter — er bringt weder Abschluß noch behagliches Ausruhen und Fettwerden. Sein Einfluß ändert sich, wie der der wirkenden Natur. Wen er mit sich nimmt, den führt er mit festem, sicheren Griff in lebendige, bis dahin unerreichte Regionen, — von nun an gibt es keine Ruhe mehr, — sie sehen den Raum und unaussprechlichen Glanz, der die alten Plätze und Lichter in tote Leeren verwandelt. Nun soll ein Mensch entstehen aus Aufruhr und Chaos, — der ältere ermutigt den jüngeren und unterweist ihn, — die zwei sollen furchtlos zusammen ausziehen, bis die neue Welt sich selbst eine Himmelsbahn schafft, selbstbewußt auf die kleineren Sternenbahnen schaut und durch die endlosen Kreise schwingt, um nie wieder stillzustehn.

Bald wird es keine Priester mehr geben. Sie haben ihre Arbeit getan. Ein neuer Orden wird kommen, und seine Mitglieder sollen Menschenpriester sein und jeder Mensch soll sein eigener Priester sein. Sie sollen ihre Inspiration in den realen Objekten von heute finden, die die Symptome der Vergangenheit und Zukunft sind. Sie sollen nicht die Unsterblichkeit oder Gott verteidigen wollen oder die Vollkommenheit der Dinge oder die Freiheit oder die köstliche Schönheit und Wirklichkeit der Seele. Sie sollen aus Amerika hervorgehen und Widerhall finden in aller Welt.

Die englische Sprache ist der großen amerikanischen Ausdrucksform günstig, — sie ist sehnig genug und geschmeidig und vollständig genug. Auf dem zähen Stamm einer Rasse gewachsen, die durch allen Wechsel der Verhältnisse nie ohne den Gedanken politischer Freiheit, den Lebensodem aller Freiheit, gewesen ist, hat sie Bestandteile von feineren, anmutigeren, zarteren und glätteren Sprachen in sich aufgenommen. Sie ist die mächtige Sprache des Trotzes, — sie ist das Idiom des gesunden Menschenverstandes. Sie ist die Sprache der stolzen und melancholischen Rassen und aller, die vorwärtsstreben. Sie ist die auserwählte Sprache, um Entwicklung auszudrücken und Glauben, Selbstachtung, Freiheit, Recht, Gleichheit, Freundlichkeit, Fülle, Klugheit, Entschiedenheit und Mut. Sie ist das Mittel, das das Unaussprechliche annähernd ausdrücken soll.

Keine große Literatur, keine Stilß oder Redekunst, keine Umgangssitten, kein gesellschaftlicher Verkehr oder Haushalt oder

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öffentliche Einrichtungen oder das Verhalten von Arbeitgebern gegen ihre Angestellten, kein Vorgang in der Exekutive oder in Heer und Flotte, in Gesetzgebung oder Rechtsprechung, keine Polizei, Schule oder Architektur noch Lieder und Vergnügungen können auf die Dauer dem eifernden und leidenschaftlichen Instinkt des amerikanischen Grundgefühls entgehen. Mag es vom Munde des Volkes ausgesprochen werden oder nicht, — es klopft im Herzen jedes freien Mannes und Weibes als lebendige Frage nach dem, was vergänglich ist oder was bestimmt ist, zu dauern. Ist es gleichbedeutend mit meinem Lande? übt es seine Wirkungen ohne schändliche Parteilichkeit aus? Ist es bestimmt für die immer wachsende Gemeinschaft von Brüdern und Geliebten, groß, fest vereint, stolz, edelmütig wie keine je zuvor? Ist es etwas frisch aus den Feldern Gewachsenes oder aus der See Gefischtes, für mich hier und heute? Ich weiß: was für mich, einen Amerikaner, in Texas, Ohio, Kanada antwortet, muß auch für jedes Individuum und jede Nation antworten, die mit zu meinem Stoff gehören. Ist das eine Antwort? Ist es bestimmt, die Jungen der Republik zu säugen? Löst es sich willig auf in der süßen Milch der Brüste der Mutter vieler Kinder?

Amerika rüstet sich in ruhiger Haltung und Wohlwollen für die Besucher, die sich angesagt haben. Nicht Intellekt wird ihre Beglaubigung sein und sie willkommen machen. Der Begabte, der Künstler, der Erfinder, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte, — sie alle werden nicht gering geschätzt, — sie kommen an ihren rechten Platz und verrichten ihr Werk. Auch die Seele der Nation verrichtet ihr Werk. Sie weist keinen zurück, läßt alle zu. Aber nur denen, die ihresgleichen sind, wird sie auf halbem Wege entgegengehen. Ein einzelner Mensch ist so herrlich wie eine Nation, wenn er die Eigenschaften hat, die eine herrliche Nation schaffen. Die Seele der größten, reichsten und stolzesten Nation mag wohl auf halbem Wege der ihrer Dichter entgegengehen.



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DEMOKRATISCHE AUSBLICKE

Die gewaltigste Lehre der Natur im ganzen Weltall ist vielleicht die Lehre von der Vielfältigkeit und der Freiheit; und so muß sie auch für Politik und Fortschritt der Neuen Welt gelten. Wenn jemand zum Beispiel gefragt würde, welches die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen dem politischen und allgemeinen Lebens Europas und Amerikas seien gegenüber der alten asiatischen Kultur, wie sie sich bis auf den heutigen Tag in China und der Türkei fortgeerbt hat, so könnte er die Antwort in John Stuart Mills tiefem Essay über „Freiheit in der Zukunft“ finden, wo zwei Hauptbestandteile oder Grundlagen für eine wahrhaft große Nation gefordert werden: erstens eine reiche Vielfältigkeit des Charakters, und zweitens freier Spielraum für die menschliche Natur, um sich in zahllosen, ja widerstreitenden Richtungen zu entfalten (was für die ganze Menschheit vielleicht etwas Ähnliches bedeutet wie die Einflüsse, die, auf grenzenlosem Feld, jene immerwährende Heilwirkung der Luft bewirken, die wir das Wetter nennen: jene unendliche Zahl von Strömungen und Kräften, Einflüssen, Temperaturen, sich kreuzenden Wirkungen, deren unablässiges Gegenspiel beständige Neubelebung und Vitalität bringt). Mit diesem Gedanken und allem, was notwendigerweise aus ihm folgt, will ich meine Betrachtungen beginnen.

Amerika, das die Gegenwart mit den gewaltigsten Taten und Problemen erfüllt und die Vergangenheit samt dem Feudalismus frohen Mutes in sich aufnimmt (da in der Tat ja die Gegenwart nur der gesetzliche Erbe der Vergangenheit ist, den Feudalismus inbegriffen), — Amerika zählt meines Erachtens für seine Rechtfertigung und seinen Erfolg (denn wer dürfte jetzt schon von

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Erfolg sprechen?) fast ausschließlich auf die Zukunft. Diese seine Hoffnung ist nicht unberechtigt. Wir sehen heute vor uns, wenn auch erst in ahnungsvoller Dämmer, eine zahlreiche, gesunde, gigantische Nachkommenschaft. Ich halte alles, was unsere Neue Welt bisher geleistet hat und was sie jetzt ist, für wesentlich unwichtiger als das, was sie in Zukunft erreichen wird. Als einzige von allen Nationen haben diese Staaten den Versuch unternommen, die lang, lang hinausgeschobenen moralisch-politischen Gedanken von Jahrhunderten, das republikanisch-demokratische Prinzip und die Theorie von Entwicklung und Vervollkommnung durch freiwillige Einrichtungen und Selbstvertrauen in Formen von dauernder Macht und Brauchbarkeit zu bringen, und zwar auf Gebieten, die an Weite mit den Maßen des physikalischen Kosmos wetteifern. Wer in der Tat außer den Vereinigten Staaten hat je in der Geschichte sich diese Gedanken in unbekümmertem Glauben zu eigen gemacht und steht auf ihnen, handelt nach ihnen und setzt sich für sie ein so wie sie?

Doch genug des Vorspiels. Laßt mich nunmehr den Grundton der folgenden Melodie anschlagen. Vorausschicken will ich nur noch dies: Wenngleich die einzelnen Teile dieser Schrift zu ganz verschiedenen Zeiten niedergeschrieben wurden und mir vielleicht vorgeworfen werden kann, daß sie teilweise einander widersprechen, — denn die große Frage der Demokratie hat, wie alle großen Fragen, ihre verschiedenen Seiten, — so fühle ich diese Teile doch in meinem eigenen Bewußtsein und in meinen überzeugungen harmonisch verschmolzen und möchte sie nur aus solcher Einheit heraus verstanden wissen, jede Seite, jede Forderung, jede Behauptung bedingt und gemäßigt durch die anderen. Man vergesse auch nicht, daß sie nicht das Ergebnis eines Studiums politischer Ökonomie sind, sondern des schlichten Menschenverstandes und vieler Beobachtungen und Wanderungen unter Menschen in diesen Staaten, in Krieg und Frieden dieser aufwühlenden Jahre.

Ich will nicht herumreden um die furchtbaren Gefahren des allgemeinen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten. In der Tat, ich schreibe, um diesen Gefahren, die ich zugebe, ins Auge zu sehen. Ich schreibe für die, in deren Geist die wechselvolle Schlacht tobt zwischen den demokratischen Überzeugungen und Bestrebungen und dem Bewußtsein von der Roheit, Lasterhaftigkeit und

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Launenhaftigkeit des Volkes. Ich werde die Worte Amerika und Demokratie als gleichbedeutende Ausdrücke gebrauchen. Das Ergebnis, um das es sich handelt, ist kein geringes. Die Vereinigten Staaten sind bestimmt, entweder über die glanzvolle Geschichte des Feudalismus hinauszukommen oder sich als den furchtbarsten Fehlschlag aller Zeiten zu erweisen. Nicht die mindeste Sorge habe ich um die Aussichten für ihren materiellen Erfolg. Ihren geographischen, Geschäftsund Produktionsmöglichkeiten ist eine triumphale Zukunft gewiß. In dieser Hinsicht wird die Republik sicherlich bald (wenn es nicht jetzt schon der Fall ist) alle bisher bekannten Beispiele überholen und die Welt beherrschen.

All das zugegeben, auch den unschätzbaren Wert unserer politischen Institutionen und des allgemeinen Wahlrechts (überhaupt sollen grundsätzlich alle Türen so weit wie möglich geöffnet werden!), sage ich dennoch aus einer viel größeren Tiefe heraus: um aus unserer westlichen Welt eine Nation zu schaffen, die allen bisher bekannten überlegen ist und alle Vergangenheit überwindet, brauchen wir vor allem eine starke, doch unbeargwöhnte Literatur, vollkommene Persönlichkeiten und Gesellschaftsformen, die ursprünglich und transzendental und der Ausdruck der Demokratie und des modernen Lebens sind, — ein Ausdruck, der bisher überhaupt noch nicht gefunden worden ist. Aus ihnen heraus muß zugleich eine neue Rasse von Lehrern und von vollkommenen Frauen entstehen, unerläßlich als Stamm für die Fortpflanzung einer Neuen Welt. Denn Feudalismus, Kastengeist und die kirchliche überlieferung schwinden zwar merklich aus unsern politischen Institutionen, aber halten die wichtigeren Gebiete der Erziehung, des sozialen Lebens und der Literatur, die die wahre Grundlage der Nation sind, auch in diesem Lande geistig in festem Besitz.

Ich sage, daß die Demokratie sich nicht selber einwandfrei rechtfertigen kann, ehe sie nicht ihre eigenen Formen von Kunst, Dichtung, Erziehung und Theologie findet und in einer gewissen Fülle entfaltet und alles Bestehende, alles, was irgendwo in der Vergangenheit unter entgegengesetzten Einflüssen entstanden ist, ausschaltet. Es erstaunt mich, daß so viele Stimmen, Federn, Geister in der Presse, in Hörsälen, in unserm Kongreß usf. intellektuelle Themen diskutieren, Finanzschwierigkeiten, Probleme der Gesetzgebung, Stimmrecht, Tarifund Arbeiterfragen und all die

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Geschäftsund Wohlfahrtsbedürfnisse Amerikas nebst Vorschlägen zur Abhilfe, die oft ernster Beachtung wert sind, — während ein Bedürfnis, eine tiefste Lücke besteht, die kein Auge zu bemerken, keine Stimme zu nennen scheint. Unser Grundbedürfnis in den Vereinigten Staaten von heute, im engsten, umfassendsten Anschluß an die gegenwärtigen Verhältnisse und an die Zukunft, ist eine Klasse und die klare Idee einer Klasse von einheimischen Autoren, eine Literatur, ganz anders und viel höher geartet als alle bisher bekannten: priesterlich, modern, fähig, sich zu messen mit den Möglichkeiten unserer Länder, die ganze Fülle amerikanischer Mentalität, amerikanischen Geschmacks und Glaubens durchdringend und ihr einen neuen odem einhauchend, ihr Entscheidungskraft verleihend; eine Literatur, die auf die Politik eine tiefere Wirkung ausübt als das oberflächliche Volkswahlrecht und letzten Endes auch von innen her und indirekt die Wahlen der Präsidenten und Kongresse beeinflußt, — die nach allen Richtungen ausstrahlt, würdige Lehrer, Schulen, Umgangsformen erzeugt und als größtes Ergebnis das schafft, was weder die Schulen noch die Kirchen und ihr Klerus bisher geschaffen haben und ohne das diese Nation ebensowenig dauernd und fest stehen kann wie ein Haus ohne Grundmauern: nämlich einen religiösen und moralischen Charakter unterhalb der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Grundlagen der Vereinigten Staaten. Denn, nicht wahr, lieber, ernsthafter Leser? — die Bewohner unseres Landes mögen allesamt lesen und schreiben können und allesamt das Wahlrecht besitzen, und doch kann es ihnen an der Hauptsache gänzlich fehlen — und diese will ich hier andeuten.

Das Problem der Menschheit in der ganzen zivilisierten Welt von heute ist, von genügend hoher Warte aus betrachtet, sozial und religiös und muß letzten Endes von der Literatur in Angriff genommen und behandelt werden. Nie war ein solches Bedürfnis nach etwas vorhanden wie hier in den Staaten nach dem Dichter der Moderne oder dem großen Literatus der Moderne. Zu allen Zeiten vielleicht ist der Kernpunkt jeder Nation, von dem aus sie am stärksten gelenkt wird und andere lenkt, ihre nationale Literatur, besonders ihre urtümliche Dichtungen. Vor allen älteren Ländern wird in Amerika eine große originale Literatur sicherlich die Rechtfertigung und Bürgschaft (in mancher Hinsicht die einzige Bürgschaft) der Demokratie werden.



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Nur wenige erkennen, wie die große Literatur alles durchdringt, allem Farbe gibt, Vielheiten und Individuen gestaltet und auf feinsten Wegen mit unwiderstehlicher Gewalt nach ihrem Willen aufbaut, erhält oder zerstört. Warum ragen in der Erinnerung über allen Nationen der Erde zwei besondere Länder empor, winzig an sich und doch unsagbar gigantisch, schönheitsstrahlend, säulenhaft? Unsterblich lebt Juda, und Griechenland unsterblich, in ein paar Gedichten.

Näher als das. Es ist nicht allen bewußt, aber es ist wahr, daß, wie der Genius Griechenlands samt aller Gesellschaftsund Persönlichkeitsbildung, aller Politik und Religion dieser wunderbaren Staaten auf ihrer Literatur und Ästhetik beruhte, daß, sage ich, ebenso späterhin die Literatur der Hauptträger des europäischen Rittertums, der feudalen, geistlichen, dynastischen Welt dort drüben war, ihr Knochenbau, der sie auf Hunderte und Tausende von Jahren zusammenhielt, ihr Fleisch und ihre Blüte trug, ihr Form und Richtung gab, sie abrundete und sie bewußt und unbewußt, in Blut, Rasse und Glauben ihrer Menschen, so durchtränkte, daß sie bis auf den heutigen Tag ihre Vorherrschaft erhalten hat, dem mächtigen Wechsel der Zeit zum Trotz, — die Literatur, die bis ins Mark drang, vor allem ihr bedeutendster Teil, ihre bezaubernden Lieder, Balladen und Gedichte.

Die Einflüsse, die nach dem bloßen Urteil der Sinne und Augen die Weltgeschichte prägen, sind, ich weiß es wohl, vor allem die Kriege, das Aufsteigen und Sinken der Dynastien, die Verschiebungen des Handels, wichtige Erfindungen, Schiffahrt, militärische und bürgerliche Regierungen, das Erscheinen machtvoller Persönlichkeiten, Eroberer usf. All das spielt natürlich eine Rolle; und doch wird vielleicht ein einziger neuer Gedanke, eine Idee, ein abstraktes Prinzip, ja, eine literarische Stilform, die für ihre Zeit paßt und von einem großen Autor in Form gebracht und in die Menschheit geworfen wird, im rechten Augenblick Veränderungen, Werden und Vergehen bewirken, weit stärker als die längsten und blutigsten Kriege oder der gewaltigste lediglich politische, dynastische oder kommerzielle Umsturz.

Kurz gesagt: wie es außer allem Zweifel ist, — wenn es auch nicht alle sehen, — daß eine Handvoll Dichter, Philosophen und Autoren ersten Ranges der gesamten Religion, Erziehung,

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Gesetzgebung, Gesellschaftsordnung usf. der zivilisierten Welt im wesentlichen Form und Bestand gegeben haben, indem sie die Atmosphäre bestimmten und schufen, aus der heraus jene entstanden sind, — so muß auch der innere, wahre demokratische Aufbau des amerikanischen Kontinents heute und in Zukunft von solchen Männern geprägt werden, und zwar mehr als je. Dabei ist eines wichtigen Unterschiedes zu gedenken: während im Altertum und Mittelalter die höchsten Gedanken und Ideale sich aus sich selbst heraus verwirklichten und Ausdruck und Verbreitung ebensosehr und vielleicht mehr durch andere Künste fanden, als durch die Literatur im eigentlichen Sinne, die der Masse der Menschen, ja sogar auch den meisten hervorragenden Menschen, verschlossen war, ist im Gegenteil die Literatur unserer Tage nicht allein inniger mit den Anforderungen der Zeit verbunden, sondern hat sich zu dem einzigen und allgemeinen Mittel zur moralischen Beeinflussung der Welt entwickelt. Malerei, Bildhauerei und Theater spielen offenbar keine unersetzliche oder auch nur wichtige Rolle mehr in den Auswirkungen und der Mittlerschaft des Intellekts, der lebendigen Nützlichkeit und selbst der hohen Ästhetik. Die Architektur hat zweifellos noch gewissen Fähigkeiten und eine wirkliche Zukunft. Die Musik, die große Verknüpferin, das Vergeistigste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Göttin, aber doch ganz menschlich, schreitet fort und behält ihre hohe Stellung; in einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts außer ihr zu geben vermag. Aber es ist unleugbar, daß in der Zivilisation von heute vor allen anderen Künsten die Literatur die Herrscherin ist, die lebendigen Nutzen wirkt, die den Charakter von Kirche und Schule gestaltet oder wenigstens fähig wäre, es zu tun. Rechnet man die wissenschaftliche Literatur hinzu, so ist ihr Wirkungskreis in der Tat ohnegleichen.

Ehe ich weitergehe, ist es vielleicht von Bedeutung, gewisse Punkte klarzustellen. Die Literatur baut ihren Weizen auf vielen Feldern, und die einen mögen gedeihen, während die andern zurürckbleiben. Was ich in diesen Ausblicken sage, gilt hauptsächlich für die imaginative Literatur, die Dichtung besonders, die der Grundstock aller Literatur ist. Im Bereich der Wissenschaft und auf dem Sondergebiet des Journalismus sind in diesen Staaten vielversprechende Anzeichen, ja vielleicht schon Erfüllungen voll

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höchsten Ernstes, voll Wirklichkeitskraft und Leben zu erkennen. Diese sind natürlich modern. Aber in dem Bereich der Einbildungskraft und innersten Wesenheit besteht für unser Zeitalter und unser Land das gebieterische Bedürfnis nach schöpferischer Kraft. Denn es ist nicht nur nicht genug, daß das neue Blut, der neue innere Bau der Demokratie lediglich durch politische Mittel, oberflächliches Wahlrecht, Gesetzgebung usw. belebt und zusammengehalten wird, sondern es ist mir völlig klar, daß seine Kraft unzureichend, sein Wachstum fraglich und sein wesentlicher Zauber unentfaltet bleiben muß, wenn dieses Neue nicht tiefer geht, nicht mindestens ebenso fest und warm in den Menschenherzen und ihrem Fühlen und Glauben Wurzel faßt, wie der Feudalismus oder die Kirchlichkeit zu ihrer Zeit, und wenn es nicht seine eigenen ewigen Quellen eröffnet, die je und je aus dem Mittelpunkt fluten. Daher halte ich es für möglich, daß, wenn zwei oder drei Dichter (oder auch Künstler oder Redner) wirklich amerikanischen Ursprungs am Horizont aufsteigen würden wie Planeten, Sterne erster Größe, die durch ihre Überlegenheit alles, was die einzelnen Rassen und Länder zu geben haben, zusammenschweißen würden, — daß diese den Vereinigten Staaten mehr Zusammenhalt und moralische Einheit (die Eigenschaft, die uns heute am nötigsten ist) geben würden, als alle ihre Verfassungen, alle Bande der Gesetzgebung und Rechtsprechung, alle bisherigen politischen, kriegerischen oder materiellen Erfahrungen. Es wäre von größtem Nutzen für die Staaten mit all ihrer Verschiedenheit des Klimas, ihrer Städte und Lebensformen usw., einen allen gemeinsamen, für alle typischen Besitzstand an Helden, Charakteren, großen Taten, Leiden, Glück und Unglück, Ruhm und Schmach zu haben; noch viel wichtiger aber wäre es für sie, eine geschlossene Gruppe machtvoller Dichter, Künstler und Lehrmeister zu besitzen, die für uns passen und der Nation Ausdruck verleihen und alles das in sich vereinen und wieder ausströmen würden, was allgemeingültig, eingeboren und allen gemeinsam ist, im Binnenland und an den Küsten, in Nord und Süd. Die Geschichtschreiber sagen von dem alten Griechenland mit seinen ewig eifersüchtigen Selbstregierungen, Städten und Staaten, daß die einzige positive Einheit, die es je besaß oder empfing, die traurige Einheit einer schließlichen gemeinsamen Unterwerfung unter fremde Eroberer war. Unterwerfung, Zusammenschluß solcher

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Art ist für Amerika undenkbar; aber die Furcht vor unversöhnbaren Konflikten im Innern und vor dem Mangel an einem gemeinsamen Gerippe, das alle zusammenhält, verfolgt mich beständig. Jedenfalls liegt für eine lange Periode der Zukunft die Notwendigkeit deutlich zutage, die Staaten in der einzig zuverlässigen Einheit, der moralischen und künstlerischen, zu verschmelzen. Denn ich sage: die wahre Nationalität der Staaten, die echte Union im Falle einer moralischen Krisis, ist und wird letzten Endes weder das geschriebene Gesetz sein, noch (wie man gewöhnlich glaubt) Selbsterhaltungstrieb oder gemeinsame finanzielle oder materielle Interessen, — sondern die Glut und Macht der Idee, die alles andere unwiderstehlich in sich verschmilzt und alle untergeordneten, beschränkten Unterschiede in der umfassenden, unbeschränkten Gewalt von Geist und Gefühl löst.

Man mag einwenden (und ich gebe die Stärke dieses Einwandes zu), daß ein allgemeines physisches Gedeihen und eine werktüchtige Bevölkerung, die sich allen materiellen Komfort des Lebens schafft, die Hauptsache und genügend sei. Man mag ins Feld führen, daß unsere Republik durch ihre Taten in Wahrheit heute die gewaltigsten Kunstwerke, Gedichte usw. hervorbringt, indem sie die Wildnis in fruchtbare Farmen verwandelt und Eisenbahnen, Schiffe, Maschinen usw. schafft. Und man mag fragen: Ist all das nicht in der Tat besser für Amerika als irgend welche Äußerungen des Rhapsoden, Künstlers oder Literaten?

Auch ich grüße diese Leistungen mit Freude und Stolz: und antworte dann, daß die Seele des Menschen nicht durch solche Dinge allein — nein, überhaupt nicht durch solche Dinge endgültig befriedigt werden kann, sondern nur auf ihnen und allen Dingen steht, wie die Füße auf dem Boden stehen und einzig dessen wahrhaft bedarf, was sich auf das Höchste: auf sie selbst allein richtet.

Aus solchen Erwägungen, solchen Wahrheiten heraus erhebt sich als Gegenstand dieser Ausblicke die wichtige Frage nach dem Charakter, nach einer ur-amerikanischen Persönlichkeit, für die die Kunst und Literatur Ausdruck und Echo ist und die, in Grenzen, die allen gemeinsam sind, mit allen in Wechselwirkung steht. Diesem Hauptpunkt haben die Denker der Vereinigten Staaten, sonst so scharfsinnig, entweder nur sehr schwache Beobachtung

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geschenkt, oder sie verharrten und verharren ihm gegenüber in Schlafsucht.

Ich für meinen Teil möchte auch die Politiker und Geschäftsleute unter meinen Lesern aufs eindringlichste warnen vor dem herrschenden Wahn, daß die Begründung freier politischer Einrichtungen und eine hochentwickelte, rein verstandesmäßige Geschicklichkeit samt allgemeiner Ordnung, materieller Fülle, Gewerbefleiß usw. (so wünschenswerte und kostbare Güter sie auch sein mögen) an sich schon genüge, um unserem demokratischen Experiment den Erfolg zu sichern. Obwohl die Union sich im vollen oder nahezu vollen Besitz aller dieser Vorteile sieht und eben erst siegreich aus dem Kampf mit den einzigen Feinden hervorgegangen ist, die sie überhaupt zu fürchten braucht, nämlich denen in ihrem eigenen Innern, — ist dennoch die Gesellschaft der Vereinigten Staaten angefault, unreif, abergläubisch und verderbt. Und zwar die politische, durch Gesetze geschaffene Gesellschaft ebenso wie die private, freiwillige. In jeglicher Äußerung ihrer Energie scheint mir das Wichtigste, das Rückgrat von Staat oder Einzelmensch, das moralische Gewissen, entweder gänzlich zu fehlen oder doch bedenklich geschwächt oder unentwickelt zu sein.

Ich meine, wir täten am besten, unserer Zeit und unserem Lande scharf ins Gesicht zu blicken, wie ein Arzt, der die Diagnose einer tiefen Krankheit stellt. Nie vielleicht gab es so viel Herzenshohlheit, wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Der Erstlingsglaube scheint uns verlassen zu haben. Wir glauben nicht mehr ehrlich an das Grundprinzip der Staaten (trotz aller hektischen Begeisterung und melodramatischem Geschrei), noch an die Menschheit überhaupt. Welches durchdringende Auge sähe nicht überall durch diese Maske hindurch? Es ist ein erschreckendes Schauspiel. Wir leben durchweg in einer Atmosphäre von Heuchelei. Die Männer glauben nicht an die Frauen und die Frauen nicht an die Männer. Eine Anmaßung ohne Ehrfurcht herrscht in der Literatur. Das Bestreben aller „Literaten“ ist es, etwas zu finden, womit sie ihren Spaß treiben können. Ein Haufen Kirchen, Sekten usw., die traurigsten Phantasmen, die ich kenne, maßt sich den Namen Religion an. Unterhaltung ist Geschwätz. Die Unwahrheit im Geist, die Mutter aller falschen Taten, hat bereits unabsehbare Folgen gezeitigt. Eine scharfsinnige und aufrichtige Persönlichkeit aus dem Zoll-Departement

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in Washington, die ihr Amt zu regelmäßigen Besuchen in die Städte des Nordens, Südens und Westens führt, um Betrügereien auf die Spur zu kommen, hat viel mit mir über ihre Entdeckungen gesprochen. Die Verderbtheit unserer Geschäftskreise ist nicht geringer, sondern unendlich viel größer, als man angenommen hatte. Die nationalen, staatlichen und städtischen Behörden Amerikas in allen Zweigen und Abteilungen, die Gerichte ausgenommen, sind durch und durch zersetzt von Korruption, Bestechung, Unehrlichkeit, Mißwirtschaft; und auch die Gerichte sind bereits angefressen. Die Räuberei und Schurkerei in den Großstädten, ob äußerlich anständig oder nicht, stinkt zum Himmel. Geschwätzigkeit, laue Liebeshändel, schwächliche Treulosigkeit, dürftige Ziele oder überhaupt keine Ziele in der eleganten Welt. In der Geschäftswelt (Geschäft, — dieses allesverschlingende moderne Wort!) ist das einzige Ziel, mit allen Mittel [sic] Geld zu machen. Die Schlange des Zauberers im Märchen fraß alle anderen Schlangen auf; Geldgier ist unsere Zauberschlange, die heute allein das Feld behauptet. Die beste Klasse, die wir aufzuweisen haben, ist nur ein Haufen von elegant gekleideten Spekulanten und Pöbel. Wahr ist freilich, daß hinter dieser phantastischen Posse, die sich auf der Schaubühne der Gesellschaft abspielt, solide Dinge und erstaunliche Arbeitsleistungen erkennbar sind, noch in rohen Formen und im Hintergrund, aber bereit, nach vorn zu kommen und für sich selber zu zeugen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber die Wahrheit ist darum nicht weniger furchtbar. Ich sage, daß die Demokratie unserer Neuen Welt, — mit so großem Erfolge sich auch die Massen aus ihrem Sumpf emporgehoben und materiellen Fortschritt und Produktionskraft und eine gewisse, freilich höchst trügerische, oberflächliche Volks-Intelligenz geschaffen hat, — dennoch, so weit man sieht, ein fast völliger Fehlschlag in sozialer Hinsicht und in Hinsicht wahrhaft großer religiöser, moralischer und literarischer Ergebnisse ist. Vergebens marschieren wir in nie gesehenem Sturmschritt auf die Bildung eines Reiches zu, kolossaler als die des Altertums, als das Reich Alexanders und die stolzeste Entfaltung Roms. Vergebens haben wir Texas, Kalifornien, Alaska annektiert und langen im Norden nach Kanada und im Süden nach Kuba. Es ist, als wären wir mit einem riesigen, immer vollständiger sich auswachsenden Körper ausgestattet, und es bliebe uns nur eine kleine oder gar keine Seele.



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Ich möchte meine Behauptungen noch mit weiteren Beobachtungen, Lokalbeispielen usw. belegen. Der Gegenstand ist wichtig und verträgt Wiederholungen. Nach einiger Abwesenheit bin ich jetzt (September 1870) wieder für ein paar Ferienwochen in New York und Brooklyn. Der Glanz, die malerische Erscheinung und die ozeanische Weite und Belebtheit dieser beiden großen Städte, die unvergleichliche Lage, die Flüsse und die Bai, die glitzernde See, kostspielige, stolze, neue Gebäude, Fassaden aus Marmor und Eisen von eigenartiger Größe und eleganter Zeichnung, dazu eine Menge heiterer Farben, vorwiegend weiß und blau, wehende Flaggen, zahllose Schiffe, die brausenden Straßen, Broadway, das schwere, tiefe, musikalische Dröhnen, das kaum jemals aussetzt, auch nicht bei Nacht; die Häuser der Makler, die reichen Läden, die Werften, der große Zentralpark und Brooklyn-Park auf dem Hügel (wo ich in diesem wundervollen Herbstwetter spaziere, nachdenklich, beobachtend, alles in mich aufnehmend), — die Versammlungen der Bürger in Gruppen, zur Unterhaltung, beim Handel, bei den Abendvergnügungen oder vor ihren Quartieren, — all das, sage ich, und Ähnliches befriedigt vollkommen meinen Sinn für Macht, Fülle, Bewegung usw. und versetzt mich, durch diese meine Sinne und Neigungen und mein ästhetisches Bewußtsein, in eine beständige Gehobenheit und in das Gefühl absoluter Erfüllung. Ich fahre über die Flüsse im Osten und Norden, auf den Fähren oder mit den Lotsen in ihren Lotsenhäusern, oder verbringe eine Stunde in Wallstreet oder in der Goldbörse: und immer mehr und mehr wird es mir bewußt, daß (wenn wir überhaupt eine solche Zweiteilung zugeben) die Natur groß ist nicht allein in ihren Bereichen der Freiheit und der frischen Luft, in ihren Stürmen, in den Herrlichkeiten von Tag und Nacht, den Bergen, Wäldern und Meeren, — sondern ebenso groß in den künstlichen Schöpfungen der Menschen, — in dieser Überfülle wimmelnder Menschheit, — in diesen sinnreichen Erfindungen, diesen Straßen, Gütern, Häusern, Schiffen, — diesen hastenden, fiebernden, elektrischen Menchenmassen und ihrem komplizierten Geschäftsgenius (nicht dem geringsten unter den Geniussen) und all diesem mächtigen, vielverstrickten Wohlstand und Gewerbefleiß, der hier vereinigt ist.

Aber wenn wir unsere Augen vor dem Glanz und der Größe des allgemeinen oberflächlichen Eindrucks schließen, ihn streng

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ausschalten und uns in sorgfältiger Prüfung an das halten, was allein von wirklicher Bedeutung ist, and die Persönlichkeiten, so forschen und fragen wir: gibt es bei uns Männer, die würdig dieses Namens sind? athletische Männer? Gibt es vollkommene Frauen, die der verschwenderischen materiellen Üppigkeit gewachsen sind? Ist eine alles durchdringende Atmosphäre edler Sitten vorhanden? Gibt es ein Wachstum schöner junger und majestätischer alter Menschen? Gibt es Künste, würdig der Freiheit und eines reichen Volkes? Gibt es eine große moralische und religiöse Kultur, — die einzige Rechtfertigung einer großen materiellen Kultur? Man muß mir zugeben, daß vor strengen Augen, die die Menschheit unter das moralische Mikroskop nehmen, eine Art von dürrer und flacher Sahara erscheint: diese unsere Städte, dicht gefüllt mit kläglichen Zerrbildern, Mißgestalten, Phantomen, die sinnlose Possen reißen. Man muß mir zugeben, daß allenthalben, im Verkaufsladen, auf der Straße, in Kirche, Theater, Restaurant und Amtszimmer, Geschwätzigkeit und Gemeinheit, niedrige Verschlagenheit und Treulosigkeit herrschen, — allenthalben eine schwächliche, freche, gezierte, frühreife Jugend, — allenthalben eine unnormale Lüsternheit, ungesunde Erscheinungen, männliche wie weibliche, geschminkt, wattiert, gefärbt, frisiert, mit unreiner Gesichtsfarbe und schlechtem Blut, — die Befähigung zu gesunder Mutterschaft überall verkümmert oder schon gänzlich geschwunden, hohle Begriffe von Schönheit und dazu eine Art von Umgangsformen oder vielmehr Mangel an Umgangsformen, wie sie (bedenkt man die gebotenen Vorteile) wohl kaum gemeiner in der Welt zu sehen sind.*



**Von diesen kurz angedeuteten übeln scheinen mir zwei die bedenklichsten zu sein: erstens der Zustand oder das Fehlen oder vielleicht besser das seltsame Ausgeschaltetsein des moralischen Gewissensnvers in der gesamten amerikanischen Gesellschaft; und zweitens die erschreckende Erschöpfung der Frauen in ihrer Fähigkeit zu gesunder, athletischer Mutterschaft, der Eigenschaft, die die Krönung ihres Seins ist und die das Weib für ewig in höchster Sphäre über den Mann erhebt.

Ich habe manchmal in der Tat gedacht, daß der einzige Weg und das einzige Mittel zum Wiederaufbau der Gesellschaft in allererster Linie die Neugeburt, Aufzucht, Entfaltung und Kräftigung von Frauen wäre, die für künftige Rassen (da die Bedingungen, die der Geburt vorangehen, von entscheidender Bedeutung sind) eine vollkommene Mutterschaft gewährleisten. Groß, groß, wahrlich, viel größer, als sie selbst wissen, ist die Sphäre der Frauen.



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Und nun sage ich: Um in all diese beklagenswerten Zustände den heilkräftigen Atem gesunden, heroischen Lebens zu blasen, brauchen wir eine auf neuem Boden gegründete Literatur! — eine Literatur, die nicht nur die vorhandenen Oberflächen der Erscheinungen kopiert und spiegelt oder sich zur Kupplerin des sogenannten Geschmacks macht; die nicht nur zum Amüsement und Zeitvertreib da ist und das Schöne, Verfeinerte, der Vergangenheit Angehörige feiert oder technische, rhythmische und grammatische Geschicklichkeit zur Schau stellt, — sondern eine Literatur, die dem Leben zugrunde liegt, die religiös ist und in festem Zusammenhang mit der Wissenschaft steht, die die Elemente und Kräfte mit ebenbürtiger Gewalt handhabt, die eine Lehrerin und Erzieherin von Männern ist und berufen, das Allerwichtigste zu vollenden: die völlige Erlösung der Frau aus diesen unglaublichen Schlingen und Geweben einer albernen Putzmacherwelt und aller Art von dyspeptischer Erschlaffung, — um so den Staaten eine starke und holde weibliche Rasse zu sichern, eine Rasse vollkommener Mütter.

Und nun, in vollem Bewußtsein dieser Tatsachen und Gesichtspunkte und aller Für und Wider, die sie einschließen, in noch immer unerschüttertem Glauben an die Urstoffe in den amerikanischen Massen, in beiden Gechlechtern, auch als Individuen betrachtet, und in der Erkenntnis, daß sie die breiteste Grundlage für die beste literarische und ästhetische Würdigung sind, fahre ich mit meinen Betrachtungen, meinen Ausblicken fort.

Zuerst wollen wir sehen, was sich aus einer kurzen, allgemeinen, gefühlsmäßigen Betrachtung der politischen Demokratie und ihres Ursprungs ergibt, mit Rücksicht auf einige ihrer allgemeinen Eigenschaften als Aggregat und als Basis für unsere zukünftige Literatur und Autorschaft. Wir werden allerdings bald finden, daß die Ur-Idee des Einzelseins des Menschen, Individualismus, sich allenthalben geltend macht und sogar aus den entgegengesetzten Ideen herausspringt. Aber die Masse, der Gesamtcharakter muß dennoch aus gebieterischen Gründen stets sorgfältig in Erwägung gezogen, im Sinne behalten und berücksichtigt werden.

*Die hier angedeutete Frage kann die Zeit allein beantworten. Muß nicht die Tugend des modernen Individualismus, der beständig wächst und alles ergreift, in Amerika die alte Tugend des Patriotismus, der glühenden, ausschließlichen Liebe zu dem ganzen Lande ernstlich beeinträchtigen und vielleicht völlig ersticken? Ich selbst zweifle nicht, daß beide ineinander aufgehen und gegenseitig Kraft und Nutzen aus sich ziehen werden und daß aus ihnen ein größeres drittes Ergebnis erwachsen wird. Aber ich fühle wohl, daß sie beide und ihr Widerstreit ein ernstes Problem und Paradox für die Vereinigten Staaten bilden.



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Die politische Geschichte der Vergangenheit ist alles in allem hervorgewachsen aus dem, was den Worten „Ordnung“, „Sicherheit“, „Kaste“ zugrunde liegt, und besonders aus dem Bedürfnis nach einer prompt entscheidenden Autorität und einem Zusammenhalt auf alle Fälle. Wir überspringen eine Zeit und kommen zu der Periode, die noch in dem Gedächtnis der heutigen Völker lebt und in der, wie aus einer Höhle, in der sie geschlummert und Wut in sich aufgespeichert hatten, jene lärmenden Empörungen und bilderstürmerischen Ausbrüche voll leidenschaftlichen Gefühls für alles Unrecht aufsprangen, die noch heute nachwirken (von 1790 bis zur Gegenwart, 1870) und die die Form der Staaten veränderten, wohlbekannt aus der Geschichte der alten Welt, von vielem Blut befleckt und begleitet von dem wilden Geschrei und den Forderungen der Reaktion. Fast alle diese Bewegungen entsprangen einem innersten Bedürfnis.

Denn wenn alles andere gesagt ist, — wenn alle die vorübergehend oder dauernd gültigen Lehren von Unterordnung, Erfahrung, Besitzrecht usw. angehört und anerkannt wurden, — wenn die wertvolle und wohlbegründete Regelung unserer Pflichten und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft sorgfältig durchdacht und erschöpft ist, — dann erhebt sich das Verlangen, alles dies fortzuentwickeln und umzugestalten nach der Idee jenes Etwas, das ein Mensch ist (letzter kostbarer Trost des geplagten armen Volkes), und das abseits von allem andern steht, göttlich aus eigenem Recht, gleichviel ob Mann oder Weib, einsam und unantastbar für alle Kanonen und alle Obrigkeit der Welt und für jegliche Satzung, die aus der Vergangenheit, aus der Staatsraison und den Akten der Gesetzgebung hergeleitet ist oder selbst aus dem, was sich Religion, Demut oder Kunst nennt. Die Ausstrahlungen aus dieser Wahrheit sind der Schlüssel zu den bedeutungsvollsten Taten der jüngsten drei Jahrhunderte und haben das politische Werden und Leben Amerikas geschaffen. Sie schreitet sichtbar und noch viel mehr unsichtbar fort. Unterhalb der Strömungen der Gesellschaftsbildung sowohl wie unterhalb der Bewegungen der Politik der führenden

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Nationen der Welt sehen wir, selbst inmitten der mächtigsten Tendenzen zur Gemeinschaft, dieses Bild der Vollkommenheit in der Vereinzelung ständig vordringen und an Stärke zunehmen, dieses Bild individueller persönlicher Würde eines Einzelmenschen, Mann oder Weib, im wesentlichen charakterisiert nicht durch den eigenen Stolz; und aller Weisheit endgültiger Schluß ist die einfache Idee, daß das Letzte und Beste, worauf man sich verlassen kann, die Menschheit selber ist und ihre eingeborenen, natürlichen, vollentfalteten Eigenschaften, ohne irgendwelche abergläubischen Hilfsmittel; denn andernfalls wäre die gesamte Ordnung der Dinge ziellos, ein Betrug, ein Zusammenbruch. Diese Idee des vollkommenen Individualismus ist es in der Tat, die der Idee der Gemeinschaft am tiefsten Charakter und Farbe gibt. Denn wir begünstigen eine starke Vergemeinschaftung und einen starken Zusammenschluß hauptsächlich oder ausschließlich deshalb, um die Unabhängigkeit des Einzelmenschen zu stärken, gleichwie wir auf der Einheit der Union unter allen Umständen bestehen, um den Rechten der Einzelstaaten die vollste Lebensfähigkeit und Freiheit zu sichern, deren jedes genau so wichtig ist wie das Recht der Nation, der Union.

Die Demokratie, die den alten Glauben an die notwendige Unumschränktheit der bestehenden dynastischen Herrschaft auf weltlichem, geistlichem und scholastischem Gebiet als an die einzige Sicherung gegen Chaos, Verbrechen und Unwissenheit verdrängt, hat das Ziel, durch viele Umwandlungen hindurch und inmitten endloser Torheiten, Streitigkeiten und offensichtlicher Fehlschläge um jeden Preis jene Theorie oder Doktrin zu beweisen, daß der in gesundester, vollster Freiheit erzogene Mensch zu seinem eigenen Gesetz werden kann und muß, das seine Wirkungen auf ihn selbst und seine eigene Disziplin sowie auf alle seine Beziehungen zu den anderen Individuen und zum Staat ausübt; und daß, wie andere Theorien sich in der bisherigen Geschichte der Völker als weise genug und vielleicht unerläßlich für die damaligen Verhältnisse erwiesen haben, diese Theorie in dem augenblicklichen Zustand unserer zivilisierten Welt das einzige Ideal ist, für das zu wirken es sich lohnt, weil sie Ergebnisse gewährleistet, die den Naturgesetzen entsprechen und denen man zutrauen kann, daß sie, einmal zur Geltung gebracht, aus sich selbst heraus weiterwachsen werden.



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Was das politische Gebiet der Demokratie angeht, das Weg und Boden für andere, umfassendere Gebiete vorbereitet, so gibt es wahrscheinlich selbst in diesen republikanischen Staaten nur wenige Geister, die das Zutreffende des Satzes begreifen, den uns Abraham Lincoln hinterlassen hat: „Die Regierung über das Volk, durch das Volk, für das Volk“; eine Formel, deren Fassung wie ein simples Wortspiel klingt, deren Sinn aber die Gesamtheit und alle Einzelheiten der Theorie umfaßt.

Das Volk! Gleichwie unsere riesige Erde selber für einen gewöhnlichen Betrachter voller brutaler Widersprüche und Ärgernis ist, so hat auch der Mensch, als Masse betrachtet, etwas Abstoßendes und ist ein beständiges Rätsel und eine Herausforderung für die gebildeten Klassen. Nur der seltene, kosmisch fühlende Künstlergeist, der vom Licht der Unendlichkeit erleuchtet ist, vermag den mannigfachen, ozeangleichen Eigenschaften der Masse gegenüberzutreten, — aber Geschmack, Intelligenz und Bildung (so genannt!) sind ihr immer feindlich gewesen und werden es immer sein. Es liegt immer noch ein gewisser Glanz auch über den verruchtesten Verbrechen und tierischsten Gemeinheiten der feudalen und dynastischen alten Welt mit ihrem Ensemble so schöngekleideter und stattlicher Lords, Königinnen und Höfe. Aber das Volk ist ungebildet, ungepflegt, und seine Sünden sind hager und schlecht ernährt.

Die Literatur hat sich, streng genommen, niemals um das Volk gekümmert, und sie tut es auch heute nicht, was immer man sagen mag. Allgemein gesprochen haben die bisherigen Tendenzen der Literatur nur dazu gedient, kritische und unzufriedene Menschen zu schaffen. Es scheint, als bestände bis dato ein natürlicher Widerwille zwischen einem literarischen oder beruflichen Dasein und dem rauhen, starken Geist der Demokratie. Zwar ist in der jüngeren Literatur häufig genug eine gewisse wohlwollende Haltung und geschäftige Nächstenliebe zu finden; aber ich weiß nichts, was, selbst in unserem Lande, seltener wäre als eine wissenschaftliche Wertung und ehrfürchtige Schätzung des Volkes und seines unermeßlichen Reichtums an verborgenen Kräften und Fähigkeiten, seiner ungeheuern, künstlerischen Kontraste von Licht und Schatten, seiner absoluten Verläßlichkeit in allen Notfällen (zumal in Amerika) und eines gewissen Hauchs von geschichtlicher Größe in Krieg und Frieden, die alle vielgerühmten Beispiele der Heldenbücher, alle

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hochtönenden Überlieferungen aller Koterien der Welt weit übertrifft.

Die Ereignisse des verflossenen Sezessionskrieges und ihre Ergebnisse erweisen für jeden, der sie sorgfältig studiert und versteht, daß die volkstümliche Demokratie trotz all ihren Mängeln und Gefahren sich praktisch durch sich selbst rechtfertigt, weit über die stolzesten Forderungen und wildesten Hoffnungen ihrer begeistertsten Vorkämpfer hinaus. Vielleicht wird keine Zukunft es je wissen, aber ich weiß es wohl, daß der Kernpunkt dieser grimmigsten und entschlossensten aller kriegerischen Unternehmungen der Welt ausschließlich in der namenlosen, unbekannten Truppe lag, und daß ihre heiße Blutarbeit in jeder wesentlichen Hinsicht freiwillig war. Das Volk kämpfte und starb aus eigener Wahl, für seine eigenen Ideen gegen den übermütigen Angriff der Vormacht der Sklaverei, die seine eigene innerste Existenz bedrohte. In alle Einzelheiten tauchend, bei allen Armeen, im persönlichen Umgang mit den Soldaten, habe ich die erhabensten Eindrücke erlebt. Ich habe die Bereitwilligkeit gesehen, mit der das eingeborene amerikanische Volk, die friedlichste und gutmütigste Rasse der Welt, die persönlich unabhängigste und intelligenteste, die am wenigsten geeignet ist, sich all dem erbitternden Verdruß militärischer Disziplin zu unterwerfen, beim ersten Trommelschlag zu den Waffen sprang, — nicht für Gewinn noch Ruhm, noch um eine Invasion zurückzuschlagen, — sondern für ein Sinnbild, eine bloße Abstraktion, — für das Leben und die Sicherheit der Flagge. Ich habe die Gelehrigkeit und den Gehorsam ohnegleichen dieser Soldaten gesehen. Ich habe sie durch lange Zeiten hindurch unter dem Druck von Hoffnungslosigkeit, schlechter Führung und Niederlagen gesehen; habe die unglaubliche Schlächterei gesehen, in die sich die Armeen (wie zuerst bei Fredericksburg und später in der Wildnis) immer wieder ohne Zögern stürzten, wenn der Befehl zum Vorgehen kam. Ich habe sie im Schützengraben gesehen oder hinter Brustwehren kauernd oder durch tiefen Schmutz marschierend, oder in strömendem Regen oder dichtem Schneegestöber, oder auf Eilmärschen im heißesten Sommer (wie auf dem Marsch nach Getysbury), — ungeheure, erdrückende Massen, Divisionen, Armeekorps, jeder einzelne Mann so schmierig und schwarz von Schweiß und Staub, daß seine eigene Mutter ihn nicht erkannt haben würde, — die

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ganze Uniform schmutzig, blutbefleckt und zerrissen, stinkend nach altem saurem Schweiß, — manch ein Kamerad, vielleicht ein Bruder vom Hitzschlag getroffen, aus Reih und Glied beiseite wankend und vor Erschöpfung am Wege sterbend, — aber die große Masse unbeirrt weitermarschierend, guten Muts, von Hunger ausgehöhlt, aber stählern in unbesiegbarer Entschlossenheit.

Ich habe diese Rasse in ihrer Gesamtheit noch furchtbarere, wenn auch einförmigere Prüfungen bestehen sehen: — die Verwundungen, die Amputationen, die zerschmetterten Gesichter und Glieder, das schleichende Fieber, das lange ungeduldige Liegen im Bett und alle die Arten von Verstümmelung, Operationen und Krankheit. Ach, ich sah Amerika noch in seiner frühen Jugend schon ins Lazarett geschleppt! Dort habe ich diese Soldaten beobachtet, viele von ihnen erst Knaben an Jahren, und ihren Anstand, ihre religiöse Natur und Tapferkeit und ihre liebevolle Herzlichkeit. Wirklich in ihrer Gesamtheit. Denn an der Front und in allen Lagern standen in zahllosen Zelten die Regiments-, Brigadeund Divisionslazarette, während zugleich überall im Lande, in oder bei den Städten, sich Scharen von riesigen, weißgewaschenen, überfüllten, einstöckigen Holzbaracken erhoben; und dort schlich der Tod bei Tag und Nacht durch die schmalen Gänge zwischen den Reihen der Feldbetten oder an den Matratzen am Boden vorbei und berührte leise manch einen armen Dulder, oft mit gesegneter, willkommener Hand.

Ich weiß nicht, ob man mich verstehen wird, aber ich bin mir bewußt, daß ich letzten Endes diese Zeilen hier schreibe aus dem heraus, was ich lernte, indem ich persönlich solchen Szenen beiwohnte. Eines Nachts während der düstersten Zeit des Krieges, im Lazarett des Patentamtes von Washington, als ich am Bett eines Soldaten aus Pennsylvania stand, der im vollen Bewußtsein des ganz nahen Todes vollkommen ruhig dalag, mit edlem, vergeistigtem Anstand, sagte der erfahrene Wundarzt, beiseite gewendet, zu mir, daß er viele, viele Male Zeuge des Sterbens von Soldaten gewesen sei, und daß er bei Bull Run, Antjetam, Fredericksburg usw. tätig gewesen sei, aber daß er noch nie auch nur in einem einzigen Fall gesehen habe, daß ein Mann oder Bursch die nahende Auflösung mit feiger Schwäche oder Angst erwartet hätte. Meine eigene Beobachtung bestätigte diese Bemerkung voll.



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Was haben wir hier, wenn nicht, hoch über allem Gerede und allen Streitfragen, die vollgültige, letzte Probe auf die Demokratie, offenbart in ihren Persönlichkeiten? Seltsam genug: diese Probe hat der Süden in allen Stücken genau so bestanden wie der Norden. Obwohl ich nur von dem letzteren sprach, schließe ich doch beide mit voller Überlegung ein. Großer, gemeinsamer Stamm! Für mich die vollendete, überzeugende Gewähr für die Zukunft: unleugbarer Beweis, auch für das schärfste Urteil, von vollkommener Schönheit, Zartheit und Tapferkeit, die kein feudaler Lord noch die griechische oder römische Rasse je übertroffen hat. Keine Zunge soll jemals geringschätzig von den Rassen Amerikas, Nord oder Süd, sprechen zu einem, der den Krieg in den großen Armeelazaretten durchgemacht hat.

Indessen freilich ist die Menschheit im allgemeinen auf allen Gebieten immer voller verstockter Bosheit gewesen und ist es noch. In Stunden der Niedergeschlagenheit meint die Seele, das werde ewig so bleiben, — aber sie erholt sich schnell von solchen schwächlichen Stimmungen. Ich selbst sehe deutlich genug, was in allen Schichten des gemeinen Volkes noch unreif und mangelhaft ist; die große Zahl der Unwissenden, Leichtgläubigen, der Untauglichen und Ungeschickten und der ganz niedrig Stehenden und Armen. Eine hervorragende Persönlichkeit des Auslands∗* fragt spöttisch, ob wir die Politik einer Nation zu erhöhen und zu verbessern gedenken, indem wir all diese morbiden Elemente samt ihren Eigenschaften absorbieren. Die Frage ist in der Tat furchtbar, und es wird zweifellos immer eine große Zahl solider und denkender Bürger geben, die nie darüber hinwegkommen werden. Unsere Antwort ist allgemein und in dem Zweck und Sinn dieses Essays enthalten. Wir glauben, daß die höhere Aufgabe politischer und sonstiger Regierung (nachdem sie natürlich zunächst für Polizei, Sicherheit des Lebens und Eigentums und für die grundlegende Satzung und das allgemeine Gesetz und seine Anwendung gesorgt hat) im übrigen darin besteht, nicht nur zu herrschen, Unordnung zu bekämpfen usw., sondern Möglichkeiten aller wohltätigen, männlichen Entfaltung, allen Strebens nach Unabhängigkeit und den Stolz und die Selbstachtung, die in allen Charakteren schlummern, zu entwickeln, auszubilden und zu ermutigen.

*Carlyle in seinem Aufsatz „Shooting Niagara“.



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Ich sage, die Mission einer Regierung in zivilisierten Ländern besteht hinfort nicht allein mehr in Unterdrückung und nicht allein in Wahrung der Autorität, selbst nicht der des Gesetzes, noch, — um das Lieblingsargument jenes hervorragenden Autors zu nennen, — in der Aufrichtung der Herrschaft der besten Männer, der geborenen Helden und Führer der Rasse (als ob diese je, oder auch nur einmal unter hundert, an die höchsten Stellen kämen, sei es durch Wahl oder Erbrecht), — sondern darin, Gemeinwesen in allen ihren Entwicklungsstufen zu züchten, beginnend mit Individuen und wiederum endend bei Individuen, die alsdann — höher als die höchste Willkürherrschaft — über sich selber herrschen sollen. Die Lehre, um derentwillen, auf moralisch-geistigem Gebiet, Christus für die Menschheit erschien, nämlich die Lehre, daß in der absoluten Seele, die jedem Individuum zu eigen ist, etwas so Transzendentes, so über alle Abstufungen Erhabenes liegt, daß in dieser Hinsicht alle Wesen auf derselben gleichen Höhe stehen und alle Unterschiede von Intellekt, Tugend, Stellung oder überhaupt irgendwelcher Höhe oder Tiefe völlig belanglos sind, — diese Lehre hat ihr Seitenstück in dem Grundsatz der Demokratie, daß die Nation, als eine Gemeinschaft lebendiger Einzelexistenzen, jedem ihrer Angehörigen den Anspruch auf Freiheit, auf irdisches Gedeihen und Glück, auf Förderung seines Wachstums und bürgerlichen Schutz gewähren muß, und daß daher die Menschen, zum mindesten in Hinsicht des politischen Wahlund Stimmrechts, aber auch darüber hinaus im einzelnen und allgemeinen auf eine breite, elementare, universelle, gemeinsame Plattform gestellt werden müssen.

Diese Wirkung ist nicht immer direkt, sondern vielleicht zumeist indirekt. Denn die Demokratie rechtfertigt sich nicht erschöpfend in sich selbst, ja vielleicht überhaupt nicht, gleich der Natur. Sie ist nur, soweit wir sehen, das beste, vielleicht das einzige wirklich geeignete Mittel, die einzige Bildnerin, Erweckerin, Erzieherin für die Millionen, und zwar nicht nur für große Persönlichkeiten von Fleisch und Blut, sondern für unsterbliche Seelen. Sein Wahlrecht zusammen mit allen andern auszuüben, ist nicht so viel; und diese Institution wird, wie jede andere, immer ihre Unvollkommenheiten haben. Aber ein freier Mensch zu werden und nun, da alle Schranken gefallen sind, ohne Demütigung und ebenbürtig allen anderen

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dazustehen und den Weg frei zu haben, um das große Experiment der Entwicklung zu beginnen, deren Ziel (vielleicht erst nach mehreren Generationen) die Erschaffung des vollentfalteten Mannes oder Weibes ist, — das ist etwas!

Wir begründen das nicht (oder wenigstens ich begründe es nicht) mit der besonderen Verständigkeit oder Vortrefflichkeit des Volkes, der Massen, selbst der besten, noch auch mit ihren Rechten; sondern damit, daß, ob gut oder schlecht, im Recht oder nicht im Recht, die demokratische Formel die einzige Sicherheit und der einzige Schutz für kommende Zeiten ist. Wir geben den Massen das Wahlrecht um ihrer selbst willen, zweifellos; aber vielleicht noch viel mehr, von einem anderen Gesichtspunkt aus, um der Gemeinschaft willen. Alles andere überlassen wir den Schwärmern: uns genügt es, die Freiheit von ihrer wissenschaftlichen Seite zu zeigen, kalt wie Eis, verstandesmäßig, logisch, klar und leidenschaftslos wie Kristall.

Auch die Demokratie bedeutet Gesetz, und zwar im strengsten, weitesten Sinn. Viele glauben (und oft herrscht dieser Irrtum in ihren eigenen Reihen), daß sie Abschaffung des Gesetzes und Aufruhr bedeute. Sie ist, kurz gesagt, das höhere Gesetz des Geistes, das das Gesetz der physischen Kraft, des Körpers, verdrängt. Gesetz bedeutet die unerschütterliche, ewige Ordnung des Universums; und das Gesetz, das über allen anderen steht, das Gesetz der Gesetze, ist das der Aufeinanderfolge, welches besagt, daß das höhere Gesetz zu seiner Zeit das niedrigere allmählich ersetzt und überwindet. Für hochstrebende Seelen ist auch die ästhetische Seite der Frage, die in jedem Falle wichtig ist, von Bedeutung: im allgemeinen besteht der Ehrgeiz, sich aus der Masse herauszuheben, um eine privilegierte Sonderstellung zu gewinnen. Der wahre Meister des Lebens aber sieht Größe und Gedeihlichkeit darin, nur ein Teil der Masse zu sein; nichts tut so gut als ein gemeinsamer Grund und Boden. Willst du das göttliche, große, allgemeine Gesetz in dir haben? So tauche in ihm unter!

Das Höchste aber und die Krönung der Demokratie ist, daß sie allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter Länder zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer ältesten und jüngsten

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Völker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere Hälfte, die da ist Zusammengehörigkeit und Liebe, die verschmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Brüdern macht. Beide müssen lebendig gemacht werden durch die Religion (die einzige, würdigste Erhöherin von Mensch und Staat), die in die stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht. Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiöse Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schönheit und Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte, die geistige Frucht tragen, in volle Erscheinung getreten sind.

Ich möchte einige Worte nicht so sehr für unser Land, sondern mit Bezug auf Europa sagen, besonders den britischen Teil von Europa. Aber die ganze Frage ist zusammenhängend und umfaßt alle Völker. Der Liberale von heute hat vor Antike und Mittelalter den Vorteil voraus, daß seine Doktrin nicht allein zu individualisieren, sondern zu universalisieren sucht. Das große Wort Solidarität ist gesprochen. Unter heutigen Verhältnissen kann es unter allen Gefahren für eine Nation keine größere geben, als daß gewisse Volksteile von den übrigen durch einen Trennungsstrich geschieden sind, daß sie nicht die gleichen Rechte wie die andern haben, sondern degradiert, erniedrigt sind und gar nicht in Betracht gezogen werden. In Gott — wenn ich so sagen darf — zu wirken und von ihm und seinem göttlichen Gemeinschaftsgebilde, dem Volk, zu zeugen (oder meinetwegen auch von dem leibhaftigen, gehörnten und geschwänzten Teufel und seinem Gebilde, wenn einige krampfhaft darauf bestehen!), — das, sage ich, ist der Sinn der Demokratie; und das ist, was unser Amerika bedeutet und vollbringt, — darf ich nicht sagen, schon vollbracht hat? Andernfalls würde es nicht mehr bedeuten und vollbringen als jedes beliebige andere Land. Und gleichwie der Magen der Natur, dank seiner kosmisch-antiseptischen Kraft, vollkommen stark genug ist, nicht nur alle ihm beständig zugeführten Krankeitsstoffe zu verdauen, ihnen nicht auszuweichen, sondern eher vielleicht sie ganz besonders bereitwillig in sich aufzunehmen, um sie in Nährstoffe für die höchsten Zwecke und für neues Leben zu verwandeln, — so auch die Demokratie Amerikas. Das ist die Lehre, die wir Heutigen zu

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den europäischen Ländern hinübersenden, mit jedem Hauch des Westwinds.

Was man auch in abstrakten Argumenten für oder gegen die Theorie umfassenderer Demokratisierung in irgendeinem Lande sagen mag, sicher ist, daß alle europäischen Länder sich viele Unruhen ersparen könnten, wenn sie die handgreifliche Tatsache (denn sie ist handgreiflich) erkennen würden, daß eine solche Demokratisierung in irgendeiner Form so ziehmlich das einzige Hilfsmittel ist, das sie noch haben. Dies, — oder weitere chronische Unzufriedenheit, von Jahr zu Jahr lauter werdendes Murren, bis zu der unvermeidlichen, in den meisten Fällen sehr schnell herannahenden Krisis, dem Zusammenbruch und dynastischen Ruin. Eine Staatskunst, die so genannt zu werden verdient, erörtert heutzutage nicht mehr, ob sie haltmachen, sich auf die Vergangenheit stützen und die Monarchie verteidigen, oder ob sie in die Zukunft blicken und demokratisieren solle, — sondern nur noch, wie und in welchem Grad und welcher Folge sie am weisesten demokratisieren könne. Und ich meine, daß sich in der Alten Welt unter den Schülern und Adepten des Fortschritts und allen Männern von einigem gesunden Verstand Träger einer solchen Staatskunst finden müßten.

Die eifrigen und oft unüberlegten Forderungen von Reformern und Revolutionären sind unentbehrlich, um die Trägheit und Versteinerung, der ein so großer Teil der menschlichen Einrichtungen verfällt, auszugleichen. Diese letzteren werden stets für sich selber sorgen, — die Gefahr ist nur, daß sie geeignet sind, uns sehr rasch zu verknöchern. Jene aber müssen mit Nachsicht, ja mit Achtung behandelt werden. Was Zirkulation für die Luft, das ist Agitation und ein reichliches Maß spekulativer Willkür für die politische und moralische Gesundheit. Indirekt, aber sicher erwachsen Güte, Tugend, Gesetz (und zwar das allerbeste) aus der Freiheit. Diese sind für die Demokratie, was der Kiel für das Schiff ist, oder das Salz für den Ozean.

Der Liberalismus wird in den Vereinigten Staaten seine rechte Schwerkraft durch eine allgemeinere Teilnahme am Besitz, an Wohnstätten und Komfort, — durch eine weite, bindende Verästelung des Wohlstandes gewinnen. Wie der menschliche Körper, und überhaupt alle Dinge in diesem vielfältigen Universum, am besten zusammengehalten wird durch das einfache Wunder seiner eigenen

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Kohäsion und ihrer Nutzanwendung, so wird auch eine große, mannigfache Volksgemeinschaft, die sich über Millionen Quadratmeilen erstreckt, am festesten gehalten und verbunden durch das Prinzip der Sicherheit und Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts ihrer mittleren Besitzstände: so daß, anders herum gesehen, die Demokratie, so hart und dem zuvor Gesagten widersprechend es auch klingen mag, mit mißtrauischen, unzufriedenen Augen auf die ganz Armen, Unwissenden und Erwerbslosen blickt. Sie verlangt nach Männern und Frauen, die einen Beruf haben und in guten Verhältnissen sind, nach Eigentümern von Haus und Grund, mit Geld auf der Bank, — und auch mit einem gewissen Bedürfnis nach Literatur; sie braucht sie und beeilt sich, sie zu schaffen. Zum Glück ist die Saat bereits gesät und hat unausrottbare Wurzeln geschlagen.

In ein paar Jahren wird das Herrschaftszentrum Amerikas tief im Inland, nach Westen zu, liegen. Unsere Bundeshauptstadt der Zukunft wird vielleicht anderswo zu finden sein, wie die gegenwärtige. Es ist möglich, nein, wahrscheinlich, daß sie in weniger als fünfzig Jahren einoder zweitausend Meilen weiter wandern und neugegründet werden wird, und daß alles, was zu ihr gehört, nach einem ganz anderen, ureigenen und viel stolzeren Plan wieder aufgebaut werden wird. Das soziale und politische Hauptrückgrat der Staaten wird wahrscheinlich entlang dem Ohio, Missouri und Mississippi laufen und westlich und nördlich von ihnen, einschließlich Kanada. Diese Gebiete, samt den mächtigen Bruderstaaten nach dem Pazifik hin (zur Herrschaft über diesen Ozean und seine zahlreichen Inselparadiese bestimmt), werden alle Wesenszüge Amerikas zusammenschließen und -halten, auch alle von früher her bewahrten, die aber nun, zur reicheren Entfaltung, auf einen neuen, kühneren, rein einheimischen Stamm gepfropft sein werden. Ein ungeheures Wachstum, verwurzelt in allen, genährt von allen, in sich aufnehmend alle, um sie in Herrlichkeit zu verwandeln: vom Norden Verstand, die Sonne aller Dinge, und unbeugsamen Gerechtigkeitssinn, den Anker in den letzten, wildesten Stürmen; vom Süden die lebendige Seele, das Gefühl für gut und böse, so stolz, daß es keine andere Überzeugung gelten läßt, als die seine; und vom Westen selber die feste Persönlichkeit, warmblütig und nervig und mit der tiefen Fähigkeit zu alles in sich aufnehmender Verschmelzung.



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Politische Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form und Wirkung in Amerika ist, trotz all ihren bedrohlichen Übelständen, eine Schule zur Züchtung erstklassiger Menschen. Sie ist das Gymnasion des Lebens in allen Dingen. Trotz Fehlschlägen versuchen wir es immer wieder aufs neue. Wagemutige Lust erfüllt diese Arena, so recht nach dem Herzen der Vorkämpfer für die Freiheit, und gewährt tiefe Befriedigung an sich, unabhängig von Erfolg. Mögen wir vieles nicht erreichen, eines erreichen wir sicherlich: Erfahrung im Kampf, Abhärtung vor dem Feind. Wir pulsieren im Strom der Entwicklung. Die Zeit ist grenzenlos. Mögen die Sieger nach uns kommen. Es hat sicherlich seinen Grund, daß das Schlechte noch Macht unter uns hat. Nach den Hauptabschnitten der Weltgeschichte zu urteilen, ist die Gerechtigkeit jederzeit in Gefahr, der Friede ist stündlich von Fallstricken umgeben, von Sklaverei, Elend, Gemeinheit, Tyrannenlist und Leichtgläubigkeit des Volkes in irgendeiner ihrer proteïschen Formen; niemand kann ja sagen, sie seien überwunden. Die Wolken zerreißen ein wenig, und die Sonne scheint hervor, — aber bald und unausbleiblich senkt sich die Finsternis wieder herab, gleich als wie für ewig. Aber dennoch lebt in jeder gesunden Seele ein unsterblicher Mut und eine prophetische Ahnung, die unter keinen Umständen kapitulieren kann und darf. Vivat dem Angriff! — dem ewigen Sturmlauf! — Vivat der bedrängten Sache, — dem Geist, der kühne Zeit hat, — dem unermüdlichen Streben inmitten aller Feindschaft des Gewohnten!

Früher, vor dem Kriege (ach, ich wage nicht zu sagen, wie oft!) war auch ich von Zweifel und Trübsinn erfüllt. Ein Ausländer, ein scharfblickender, edler Mann, sagte, eigentlich nur meine eigenen Beobachtungen in Worte fassend, sehr eindrucksvoll zu mir: „Ich bin viel in den Vereinigten Staaten gereist, habe ihre Politiker beobachtet, den Reden der Kandidaten zugehört, die Zeitungen gelesen, die öffentlichen Gebäude besucht und den Gesprächen von Männern gelauscht, die sich unbeobachtet glaubten. Und ich habe Ihr gerühmtes Amerika von Kopf bis zu Fuß durchlöchert gefunden von Treulosigkeit, sogar gegen sich selbst und das eigene Programm. Ich habe die frechen Höllenfratzen der Sezession und Sklaverei herausfordernd aus allen Fenstern und Türen grinsen sehen. Ich habe überall an erster Stelle Diebe und Schalksgesindel die Besetzung der Ämter bestimmen und zuweilen selber die Ämter füllen sehen.

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Ich fand den Norden genau so voller Giftstoffe wie den Süden. Was die Inhaber öffentlicher Ämter, nationaler, staatlicher und kommunaler, angeht, so habe ich gefunden, daß nicht einer unter hundert durch freiwillige Wahl der Außenseiter, des Volkes gewählt worden ist, sondern, daß alle durch kleine oder große Schiebungen der Berufspolitiker nominiert und durchgebracht worden sind und ihre Stellung erhalten haben nicht durch Fähigkeit und Verdienst, sondern durch korrupte Cliquen und Wahlmanöver. Ich habe gesehen, wie auf diese Weise die Millionen biederer Farmer und Handwerker nur die hilflosen Gummipuppen einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Politikern sind; und habe mehr und mehr das beunruhigende Schauspiel wahrgenommen, daß die Parteien sich der Regierung bemächtigen und sie offen und schamlos für ihre Parteizwecke ausbeuten.“

Traurige, ernste, tiefe Wahrheiten. Dennoch bestehen andere, noch tiefere, entgegengesetzte, beherrschende Wahrheiten. über diese Politiker und großen und kleine Cliquen und all ihre Frechheit und Tücke und über die mächtigsten Parteien erhebt sich eine Macht, die, wenn auch vielleicht ein wenig zu träge, dennoch alle Entscheidungen und Beschlüsse in der Hand hält, bereit, sie in strengem Verfahren durchzuführen, sobald es wirklich nötig ist, und zuzeiten die mächstigsten Parteien summarisch in Atome zu zerschmettern, vielleicht just in der Stunde ihres Triumphes.

In zuversichtlicheren Stunden sehen sich diese Dinge alles in allem ganz anders an als auf den ersten Blick. Obschon es zweifellos wichtig ist, wer zum Gouverneur, Bürgermeister oder Gesetzgeber erwählt wird (und unheilvoll, wenn Unfähige oder Schurken gewählt werden, wie es zuweilen vorkommt), so gibt es doch andere, stillere, unendlich viel wichtigere Tatsachen. Falschheit und dergleichen wird sich wie der Schaum des Meeres immer nur an der Oberfläche zeigen; genug, wenn tiefes und klares Wasser darunter ist. Genug, daß die verborgene Kette und Einschlag des Gewebes echt und ewig dauerhaft sind, mag auch die mit Stickerei überladene Pracht, die sich dem oberflächlichen Auge darbietet, nur Schund sein. Genug kurzum, daß die Rasse, das Land, das eine solche Rebellion wie die jüngst erlebte, hervorbringen konnte, sie auch niederzuschlagen vermochte.



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Der Durchschnittsmensch eines Landes ist letzten Endes das einzig Wichtige. Er bleibt in diesen Staaten der unsterbliche Eigentümer und Meister. Eine Nation wie die unsrige, die sich in einer Art geologischen Werdezustands befindet und beständig neue Experimente macht, neue Abordnungen erwählt, zieht Nutzen nicht nur aus den Diensten der besten Männer, sondern manchmal noch mehr aus denen, die sie herausfordern, und aus den Kämpfen, die sie dadurch verursachen. In solchem Sinne ist nationale Wut, Haß, Streit usf. besser als Zufriedenheit. Und in solchem Sinne sind auch jene Warnungssignale unschätzbar für spätere Zeiten.

So taucht immer wieder wie ein Leitmotiv der Gedanke auf, der diesen Seiten Ton und Echo gibt. Wenn ich im Geist hin und her reise durch verschiedene Breiten, verschiedene Jahreszeiten und das Gedränge der großen Städte überschaue, New York, Boston, Philadelphia, Cincinnati, Chicago, St. Louis, San Francisco, New Orleans, Baltimore, — wenn ich untertauche in diese endlosen Schwärme lebhafter, ungestümer, gutherziger, freiheitliebender Bürger, Handwerker, Schreiber und jungen Volks, — so befällt mich bei dem Gedanken an diese Masse so frischer und freier, so liebender und stolzer Männer eine sonderbare Ehrfurcht. Ich fühle mit Niedergeschlagenheit und Verwunderung, daß unter unseren genialen oder talentierten Schriftstellern oder Rednern bisher nur wenige oder gar keiner wirklich zu diesem Volke gesprochen oder ihm ein einziges, vorbildliches Werk geschaffen oder seinen innersten Geist und seine eigenste Gedankenwelt in sich aufgenommen hat, die infolgedessen bislang in der höchsten Sphäre noch gar keinen Ausdruck, keine Verherrlichung gefunden hat.

Stark ist die Herrschaft des Leibes, stärker die Herrschaft des Geistes. Was bisher unseren Intellekt, unsere Phantasie ausgefüllt hat und sie noch heute ausfüllt und ihre Normen bestimmt, kommt aus dem Ausland. Die großen Dichtungen, Shakespeare inbegriffen, sind Gift für die Idee von Stolz und Würde des gewöhnlichen Volkes, die das Lebensblut der Demokratie ist. Die Vorbilder unserer Literatur, wie wir sie von anderen Ländern über das Meer her beziehen, sind an Fürstenhöfen geboren und im Sonnenschein von Schlössern erwärmt und herangewachsen; alles riecht nach Fürstengunst. Wir haben zwar eine ganze Menge einer gewissen Sorte von Handwerkern der Literatur, die sich auf ihre Art

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bemühen; viele elegant, viele gelehrt, alle gefällig. Aber von dem nationalen Prüfstein berührt oder an dem Maßstab demokratischer Persönlichkeit gemessen, welken sie zu Asche. Ich behaupte, daß ich keinen einzigen Schriftsteller, Künstler, Redner oder was sonst gesehen habe, der sich mit dem stummen, aber stets aufrechten und tätigen, alles durchdringenden, allem zugrunde liegenden Willen und typischen Streben des Landes in wesensverwandtem Geiste auseinandergesetzt hätte. Soll man diese feinen Kreatürchen amerikanische Dichter nennen? Soll man diese ewige kleinlich Kleistertopfarbeit als amerikanische Kunst, als das Drama, die Lyrik, die ästhetik Amerikas bezeichnen? Es ist mir, als hörte ich von einem Berggipfel im fernen Westen her das Hohngelächter des Genius unserer Staaten.

Die Demokratie wartet ihre Zeit ab in schweigendem Sinnen über ihr eigenstes Ideal, nicht allein in Literatur und Kunst, — auch nicht im Mann allein, sondern ebenso im Weibe: das Idealbild der amerikanischen Frau (befreit von dem Dunst, von der stockenden, ungesunden Luft, die um das Wort „Dame“ hängt), entwickelt, erhoben zur starken, gleichberechtigten Mitarbeiterin des Mannes, auch bei praktischen und politischen Entscheidungen, — größer als der Mann vielleicht durch ihre göttliche Mutterschaft, ihr ewig erhabenes, sinnbildliches Eigen, — jedenfalls aber ebensogroß wie der Mann, in jeder Hinsicht; oder besser gesagt, fähig ebensogroß zu sein, sobald sie sich dessen bewußt wird und es über sich vermag, allen Tand und Schein aufzugeben und, gleich den Männern, mitten in das wirkliche, unabhängige, stürmische Leben zu treten.

Glaubtest auch du, o Freund, Demokratie sei nur eine Wahlparole und politisches Schlagwort und Name für eine Partei? Als solche kann sie nur von Nutzen sein, wenn sie sich zu ihrer vollen Blüte und Frucht entwickelt in der gesamten Lebenshaltung, in den höchsten Formen des Umgangs von Menschen miteinander und ihrer Überzeugungen, — in Religion, Literatur und Schule, — Demokratie im gesamten öffentlichen und privaten Leben, auch in Heer und Flotte. Ich habe angedeutet, daß sie, als oberster Grundsatz, bisher nur geringe oder gar keine Verwirklichung oder gläubige Anhängerschaft gefunden hat. Soweit ich sehe, hat sie bisher auch keine nennenswerte Hilfe durch die Propaganda ihrer

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Vorkämpfer gehabt, die ihr im Gegenteil oft nur geschadet haben. Sie wurde und wird gefördert durch alle Kräfte der Moral und durch Handel, Finanzwirtschaft, Maschinen, Verkehr und allen Fortschritt der Geschichte und kann ebensowenig wie die Gezeiten des Meeres oder die Erde in ihrem Kreislauf aufgehalten werden. Auch herrscht sie zweifellos, noch unentfaltet und verborgen, tief in den Herzen des guten Durchschnitts des amerikanisch geborenen Volkes, vor allem in den ackerbauenden Gebieten. Aber sie ist weder dort noch sonstwo das mit vollem Bewußtsein angenommene, leidenschaftliche, absolute Glaubensbekenntnis.

Ich glaube daher, daß die Blütezeit der Demokratie in der Zukunft liegt. Gleichwie wir, bei tiefer und umfassender Betrachtung, die reichgegliederte Feudalwelt als das in langen Jahrhunderten erreichte Ergebnis eines tiefen, ihr innewohnenden, menschlich-göttlichen Prinzips erblicken, oder einer Quelle, aus der Gesetze, Kirche, Umgangsformen, Einrichtungen, Sitten, Persönlichkeiten und (bisher unerreichte) Dichtungen entsprangen, — so soll auch nach langen Jahrhunderten dem berufenen rückschauenden Historiker und Kritiker das demokratische Prinzip ein ebensolches Bild bieten, in der reichen Fülle seiner Ergebnisse, — wenn es erst einmal mit unumschränkter Macht und lange Zeit die Menschheit beherrscht hat, — Ursprung und Prüfstein aller moralischen, ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Formen und Einrichtungen gewesen ist, — sie in Geist und Gestalt erzeugt und zu ihrer höchsten Höhe geführt hat, — wenn es vielleicht seine Ordensbrüder und Asketen gehabt hat, zahlreicher und inbrünstiger als die Mönche und Priester aller früheren Glaubensbekenntnisse, — wenn es ganze Zeitalter mit einer klaren Großzügigkeit beherrscht hat, die mit der der Natur wetteifert, und in seinem Eigensten Interesse und mit unvergleichlichem Erfolge eine neue Erde, einen neuen Menschen geschaffen und nach seinem Plan zu einem triumphierenden Ende geführt hat.

So wagen wir es also, über Dinge zu schreiben, die noch nicht ins Dasein getreten sind, und an Hand von Landkarten zu reisen, die noch unbeschrieben und leer sind. Aber die Wehen der Neugeburt schütteln uns, und wir haben den Vorteil der Zeiten starker Neugestaltung, Ahnung, Ungewißheit für uns, nämlich den Geisteshauch solcher Aufgaben, der uns umweht; und unsere Sprache,

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heiß von Kampf und Aufruhr ringsum, ohne wohlgeglätteten Zusammenhang zwar und verfehlt nach dem Maßstab der sogenannten Kritik, bricht dennoch aus uns hervor, so wirklich wie die Blitze.

Nachdem wir nun so viel beigebracht haben, was wohl überlegt werden und helfen soll, unser Gebäude, unsere geplante Idee vorzubereiten und stark zu machen, gehen wir noch weiter und geben dem Bau nach einer andern Seite hin vielleicht seine Hauptfassade. Denn mit der Demokratie, der Ausgleicherin, dem unnachgiebigen Prinzip des Durchschnitts, ist ohne Zweifel ein anderes Prinzip verbunden, ebenso unnachgiebig, dem ersten auf dem Fuße folgend, ihm unentbehrlich, entgegengesetzt (so wie die Geschlechter einander entegegengesetzt sind), ein Prinzip, das dem andern entgegengewirkt und es modifiziert, und dennoch ohne das andere niemals zu seiner höchsten Geltung kommen kann und das zu unserer weltgroßen Politik und den aufsteigenden tödlichen Gefahren der Republik jenes Gegengewicht gibt, mit dem die Natur die ursprüngliche, furchtbare Unbarmherzigkeit aller ihrer obersten Gesetze mildert. Dieses zweite Prinzip ist der Indvidualismus, die stolze, zentripetale Isoliertheit des menschlichen Wesens in sich selbst, — Identität, — Persönlichkeit. Wie immer man es nennen mag, seine innige Verschmelzung mit der gesamten Organisation politischer Gemeinschaft, die jetzt wie mit Strahlen der Morgenröte über alle Welt emporsteigt, ist von höchster Bedeutung, wie denn überhaupt dieses Prinzip an sich eine Lebensnotwendigkeit ist. Es stellt gewissermaßen das Schwungrad dar, das der so erfolgreich arbeitenden Maschinerie des Gemeinlebens Amerikas das Gleichgewicht gibt.

Und wenn wir es richtig bedenken, worauf ruht die Zivilisation selber, und welchen andern Zweck hat sie und alle ihre Religionen, Künste, Schulen usw., als einzig und allein die Züchtung reicher, überquellender, vielfältiger Persönlichkeiten? Darauf zielt alles hin; und weil die Demokratie allein im gegenwärtigen Stand der Entwicklung um dieses Zieles willen das unendliche Brachfeld der Menschheit aufpflügt und die Saat hineinpflanzt und ihr freies Wachstum gibt, deshalb allein gehen ihre Ansprüche allen anderen vor. Literatur, Dichtung, Ästhetik eines Landes sind hauptsächlich deshalb von Bedeutung, weil sie den Frauen und Männern dieses

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Landes Stoff und Anregung zur Persönlichkeitsbildung geben, auf tausenderlei wirksame Weise. Gleichwie für eine starke Festigung der Nationalität unserer Einzelstaaten der oberste Grundsatz gilt, daß nur ein so machtvoller Zusammenschluß ihnen den vollen, freien Spielraum innerhalb ihrer eigenen Sphäre gewährleisten kann, so wird auch der Individualismus in ungehemmter Verzweigung am reichsten blühen unter gebieterisch republikanischen Formen. Das Wort Demokratie ist oft gedruckt worden. Aber ich kann nicht oft genug wiederholen, daß sein Wesenskern noch unerweckt schlummert, ungeachtet des Widerhalls und der vielen wütenden Stürme, unter denen seine Silben von Feder oder Zunge gebraucht wurden. Es ist ein großes Wort, dessen Geschichte meines Erachtens noch ungeschrieben ist, weil sie noch nicht Ereignis geworden ist. Es ist in gewissem Sinne der jüngere Bruder eines anderen oft gebrauchten Wortes, Natur, dessen Geschichte ebenfalls noch seines Schreibers wartet. Nach meiner Beobachtung ist die Tendenz unserer Zeit in den Staaten auf jene weitumfassenden Bewegungen und Einflüsse der Menschheitsidee gerichtet, moralische wie physische, die jetzt und immer über den Planeten laufen mit der Triebkraft von Elementen. Daher ist es gut, die ganze Frage auf die Betrachtung des einzelnen Ich eines Mannes oder Weibes und somit auf ihre ewige Grundlage zurückzuführen. Selbst bei der Betrachtung des Universellen, in Politik, Metaphysik und allem andern, kommen wir früher oder später auf die einzelne, einsame Seele zurück.

In unsern besten Stunden steigt ein Bewußtsein, ein Gedanke in uns auf, unabhängig, hoch über allem andern, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identität — der deinigen für dich, wer du auch seist, wie der meinigen für mich. Wunder der Wunder, über allen Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdenträume, und doch die festeste Grundtatsache und der einzige Zugang zu allem Geschehen. In solchen andächtigen Stunden, inmitten der bedeutsamen Wunder von Himmel und Erde (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und Konventionen ab und werden belanglos vor dieser einfachen Idee. In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert für uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Märchen dehnt sie sich,

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einmal entfesselt und erkannt, über die ganze Erde aus und reicht bis ans Dach des Himmels.

Die Eigenschaft des „Seins“ im eigenen Selbst, entsprechend seiner eigenen zentralen Idee und Bestimmung, und wie wir aus ihr und für sie wachsen mögen, ohne jede Kritik nach andern Maßstäben und jede Anpassung an sie, — das lehrt uns die Natur. Gewiß, der vollentwickelte Mensch sammelt, sucht, absorbiert weislich; wer sich aber unverhältnismäßig viel damit abgibt und die kostbare Idiokrasie, die Urbestimmung, zu der er geboren ist, nämlich das eigene Ich, die Hauptsache, übersieht oder unterdrückt, hat seine Bestimmung verfehlt, so umfassend auch seine Allgemeinbildung sein mag. So bemüht man sich heute um Bildung und Verfeinerung nicht nur vollauf zur Genüge, sondern diese drohen uns aufzufressen wie ein Krebsgeschwür. Schon beobachtet der demokratische Genius diese Tendenz mit Mißfallen. Ein bißchen gesunde Roheit, wilde Tüchtigkeit, Bewährung dessen, was man im eigenen Ich hat, sei es was es wolle: das tut uns not. Negative Eigenschaften, sogar Mängel, wären eine Erleichterung. Vereinzelung, normale Einfachheit und Unabhängigkiet inmitten dieses mehr und mehr komplizierten, mehr und mehr verkünstelten Zustandes der Gesellschaft, — wie sehnen wir uns in Gedanken danach! wie wäre uns ihre Wiederkehr willkommen!

Amerika hat moralisch und künstlerisch noch nichts Eigenes zustande gebracht. Es scheint sich seltsamerweise dessen nicht bewußt zu sein, daß die Vorbilder von Persönlichkeiten, Büchern, Lebensformen usw., die früheren Verhältnissen und europäischen Ländern naturgemäß waren, hier nur Fremdlinge im Exil sind. Keine einzige Strömung seines Lebens, soweit sie sich an der Oberfläche seiner sogenannten Gesellschaft zeigt, nimmt, sozial oder ästhetisch, den demokratischen Gedanken in sich auf oder mündet in ihn; vielmehr laufen alle Strömungen ihm geradenwegs zuwider. Niemals war in der Alten Welt sorgfältig aufgepolsterter äußerer Schein, in geistiger und anderer Hinsicht (lediglich beruhend auf der Idee der Kaste und der Hinlänglichkeit von rein äußerlich Erworbenem), — niemals war Zungenfertigkeit und bloßer Wortintellekt in höherem Grade der Prüfstein alles Strebens und das höchste Ziel und Beispiel als an der Oberfläche unserer republikanischen Staaten von heute. Die Schriftsteller jeder Epoche nennen

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das Motto ihrer Götter. Das Wort der Moderne, sagen diese Stimmen, ist das Wort Kultur.

Hier stehen wir plötzlich dicht an feindlichem Gebiet. Dieses Wort Kultur oder der Sinn, den es angenommen hat, enthält als Gegensatz unser ganzes Thema und ist in der Tat der Ansporn gewesen, der mich zum Angriff getrieben hat. Bestimmte Fragen erheben sich. Erzeugen nicht die Fortschritte der Kultur, nach allem, was wir jetzt nachgewiesen und ausgeführt haben, in kürzester Zeit eine Klasse von oberflächlichen Zweiflern, die an nichts mehr glauben? Soll ein Mensch sich selber in hundertfältiger Anpassung verlieren und aus Rücksicht auf dies und das und jenes so umgemodelt werden, daß alles Einfach-Gute, Gesunde und Starke an ihm verdrängt und beschnitten wird wie Buchsbaumhecken in einem Garten? Man kann Getreide und Rosen und Obstbäume kultivieren, aber wer will die Berggipfel, das Meer und die geballte Pracht der Wolken kultivieren? Und endlich: ist die schnell bereite Antwort, daß Kultur nur helfen, ordnen und die Elemente von Fruchtbarkeit und Kraft gehörig verteilen will, eine gültige Antwort?

Ich habe nichts gegen den Namen oder das Wort, aber ich würde unbedingt, um des Endzwecks dieser Staaten willen, auf einem radikalen Wechsel der Klasse bei der Verteilung des Erbes der Vergangenheit bestehen. Ich würde ein Kulturprogramm fordern, das nicht für eine einzelne Klasse oder für die Salons und Hörsäle entworfen wäre, sondern mit Verständnis für das praktische Leben, für den Westen, für das arbeitende Volk, für Farmer, Handwerker und Ingenieure und für die breite Masse der Frauen auch aus den mittleren und arbeitenden Schichten und mit Rücksicht auf die völlige Gleichheit der Frauen und der erhabenen, mächtigen Mutterschaft. Ich würde von diesem Programm oder dieser Theorie einen Gesichtskreis fordern, weitherzig genug, um das ganze Areal der Menschheit zu umfassen. Sein Hauptziel muß die Bildung eines typischen Persönlichkeitscharakters sein, der für den guten Durchschnitt der Menschen erreichbar und nicht durch Bedingungen beschränkt ist, die ihn für die Massen unerreichbar machen. Die beste Kultur wird immer die der männlichen, tapferen Instinkte, liebender Aufnahmefähigkeit und Selbstachtung sein, bestrebt, über diesen ganzen Kontinent hin eine universelle Idiokrasie zu schaffen,

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die als echtes Kind Amerikas zur Freude seiner Mutter in ihrem eigenen Geist zu ihr zurückkehren und ihr Myriaden von Nachkommen bringen wird, tüchtig, natürlich, aufnahmefähig, duldsam, voll frommen Glaubens an sie, die Mutter Amerikas, und klar bewußt, warum und wofür sie, die umfassendste, gewaltgiste Neuschöpfung der Geschichte, erstanden ist und, jetzt und hier, mit herrlichem Schritt durch die Zeit schreitet...

Wenn wir es, obwohl nur in rohen Umrissen, versuchen wollen, ein grundlegendes Vorbild oder Porträt wahrer Persönlichkeit zum allgemeinen Gebrauch für die Mannheit der Vereinigten Staaten zu entwerfen (und zweifellos wird dasjenige am nützlichsten sein, das am einfachsten und für alle verständlich und nicht zu hoch gegriffen ist), so sollten wir zuvor die Leinwand gut vorbereiten. Die Abstammung müßte zuerst in Betracht gezogen werden. (Wird wohl die Zeit bald kommen, wo Vaterund Mutterschaft eine Wissenschaft, und zwar die vornehmste Wissenschaft sein wird?) Für unser Vorbild ist eine reinblütige, kraftvolle physische Grundlage unerläßlich; die Fragen des Essens und Trinkens, der Luft, der körperlichen Übung, der Anpassungsfähigkeit und Verdauung dürfen nie außer acht gelassen werden. Aus diesen Vorbedingungen heraus denken wir uns eine wohlgeschaffene Selbstheit, — in der Jugend frisch, feurig, gefühlsstark, hochstrebend, voll Abenteuerlust; in der Reife tapfer, urteilsfähig, selbstbeherrscht, weder allzu redselig noch allzu verschlossen, weder vorlaut noch verdrossen; in ihrer körperlichen Erscheinung von anmutigen Bewegungen, die Gesichtsfarbe von reinstem Blut belebt, leicht durchglüht, die Brust breit, die Haltung aufrecht, eine Stimme, deren Klang wohllautender ist als Musik, ruhig und fest blickende Augen, die aber auch fähig sind, Blitze zu schleudern, — ein Auftreten alles in allem, das auch in Gesellschaft der Höchsten seine Eigenart zu bewahren weiß. (Denn angeborene Persönlichkeit allein befähigt einen Mann, auch vor Präsidenten und Generalen oder in sonst welchem hervorragenden Kreis mit Gelassenheit zu stehen, — und nicht die „Kultur“ oder irgendwelche Bildung oder irgendwelches Wissen.)

Was die geistige Erziehung unseres Vorbildes angeht, die Entwicklung seines Intellekts, die Bereicherung seines rein verstandesmäßigen Wissens usw., so sind alle Bemühungen unserer Zeit, besonders in Amerika, so sehr darauf gerichtet und tun sich so viel

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zugute darauf, für diesen Teil der Erziehung ausgiebig zu sorgen, daß wir, so wichtig und nötig er auch ist, unsererseits nichts dazu zu bemerken brauchen, — außer vielleicht ein Wort der Warnung und Einschränkung. Auch bei den Umgangsformen und Sitten brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten. Sie sind, ebenso wie Schönheit, Anmut usf., lediglich Folgeerscheinungen. Wenn die Ursachen, die wesentlichsten Dinge beachtet werden, so folgen die rechten Umgangsformen unfehlbar nach. Viel ist unter Künstlern geredet worden von dem „hohen Stil“, als ob er ein Ding für sich wäre. Wenn ein Mann, ein Künstler oder sonst jemand, Gesundheit, Stolz, scharfe Sinne und ein edles Streben hat, so hat er die Grundelemente des höchsten Stils. Alles übrige ist nur eine Frage der Anwendung (freilich auch nichts Geringes). Ich übergehe eine ganze Reihe wesentlicher Züge, die ein Vorbild der amerikanischen Zukunfspersönlichkeit haben muß, und muß nur, wieder und immer wieder, einen erwähnen, der vielleicht im modernen Leben am wenigsten beachtet wird, — einen Mangel, der vielleicht die düstersten Folgen für unsere Nachkommen haben wird. Ich meine das einfache, unverfälschte Gewissen, das Urelement aller Moral. Würde ich gefragt, wo nach meiner Ansicht der Grund zu der schwärzesten Befürchtung für das Amerika, das wir erhoffen, liege, so müßte ich auf diesen besonderen Punkt hinweisen. Ich müßte die unwandelbare Anwendung dieser alten, ewig-wahren Grundregel aller Menschen, Zeiten und Völker auf den Individualismus fordern, heute und immerdar. Unsere triumphierende moderne Zivilisation mit all ihrer Erziehungskunst und all ihren wundervollen Vorrichtungen wird sich dennoch als bloßes Stückwerk erweisen, wenn dieser Mangel bestehen bleibt. Schon jetzt ist (um einen etwas hoffnungsvolleren Ton anzuschlagen) von der Welt des amerikanischen Westens zu sagen, daß einzig und allein ihre alles durchdringende Religiosität das Rückgrat einer männlichen oder weiblichen Persönlichkeit sein kann und hoffentlich auch sein wird.

Es ist zweifellos eine der Hauptaufgaben des Individualismus, wahre Religion zur Reife zu bringen; eine Aufgabe, zu der keine Organisation oder Kirche imstande ist. Gleichwie die Geschichte nur zu einem kümmerlichen Teil in dem, was die Fachleute Geschichte nennen, enthalten ist und sich nicht aus ihren Büchern

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offenbart, außer wenn der Leser in sich selbst den Sinn für die eigentliche, noch nie geschriebene und vielleicht nie zu schreibende Geschichte hat, — so ist auch die Religion nur in einer gewissen zufälligen Form in den Kirchen und Glaubensbekenntnissen enthalten und festgelegt und in Wahrheit ganz unabhängig von ihnen; vielmehr ist sie ein Teil der ihres Seins bewußten Seele, die auf ihrer höchsten Stufe keine Bibeln im alten Sinn, sondern in einem neuen Sinn kennt, — der ihres Seins bewußten Seele, die erst dann wahrer Religion gegenüberzutreten vermag, wenn sie sich gänzlich von allem Kirchenglauben befreit hat.

Individualismus schließt das ein und fördert es. Ich möchte in der Tat behaupten, daß einzig in der vollkommenen, unbefleckten Einsamkeit der Individualität die eigentliche Geistigkeit der Religion wirklich in Erscheinung zu treten vermag. Nur in ihr ist tiefe Betrachtung, andächtige Ekstase und Aufschwung der Seele möglich; nur in ihr eine wahre Kommunion mit den Mysterien, den ewigen Rätseln des Woher? und Wohin? Aus einsamer, andächtiger Versenkung in das Gefühl der Identität schwingt sich die Seele empor, und alle Satzungen, Kirchen, Predigten verwehen wie Dunst. In einsamen, schweigenden Gedanken der Ehrfurcht und Sehnsucht läßt das innere Bewußtsein seine wunderbaren Linien, gleichwie eine bisher unsichtbare Schrift in magischer Tinte, aufleuchten für den Geist. Bibeln mögen Überlieferung bringen und Priester mögen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen Wirken des einsamen Ich ist es vergönnt, in den reinen Äther der Anbetung einzugehen, die Höhe Gottes zu erreichen und mit dem Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen.—

Eine wichtige Seite des amerikanischen Individualismus ist die Beteiligung an der Politik. Jedem jungen Mann in Nord und Süd, der sich ernstlich in diese Fragen vertieft, möchte ich hier, als ein Gegengewicht zu meinen früheren Äußerungen, sagen, daß, von einem höchsten Standpunkt aus betrachtet, letzten Endes das politische (vielleicht auch das literarische und soziale) Amerika in seiner Entwicklung am besten seine eigenen Wege geht, so bedenklich sie auch einer bloß zeitlichen Beurteilung erscheinen mögen. Es ist jetzt bei Dilettanten und Gecken Mode (und vielleicht bin ich selbst nicht frei von Schuld), die gesamte Form, die die aktive Politik Amerikas angenommen hat, als hoffnungslos zu verrufen

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und als etwas, wovon man sich sorgfältig fernhalten müsse. Sieh zu, daß nicht auch du diesem Irrtum verfällst. Vielleicht ist Amerika doch alles in allem auf dem rechten Wege, trotz all dieser Possen seiner Parteien und Parteiführer, diesen schwachköpfigen Nominierten, diesem unwissenden Stimmvieh und all den untauglichen Gewählten. Die Dilettanten und alle, die sich vor ihrer Pflicht drücken, sind nicht auf dem rechten Wege. Ich rate dir, dich im Gegenteil noch viel lebhafter an der Politik zu beteiligen. Jedem jungen Manne rate ich das. Informiere dich immer selbst; tue immer dein möglichstes; übe immer dein Wahlrecht aus. Mache dich los von Parteien. Sie waren von Nutzen und sind es bis zu einem gewissen Grade heut noch; aber die freie Masse der unbeeinflußten Wähler: Farmer, Schreiber, Mechaniker, die über den Parteien stehen, alles überschauen und den Ausschlag geben, ob der Sieg sich auf die oder jene Seite neigen soll, — das sind die Männer, die die Gegenwart und die Zukunft am nötigsten braucht. Was Amerika angeht, so kann es, falls überhaupt die Möglichkeit eines Niedergangs und Ruins besteht, nur von innen her bedroht werden, nicht von außen; denn es ist mir klar, daß auch das vereinte Ausland es nicht niederzwingen könnte. Aber diese wilden, wölfischen Parteien beunruhigen mich. Sie kennen kein anderes Gesetz als ihren eigenen Willen und werden immer streitsüchtiger und immer unduldsamer gegen den Gedanken der Gemeinschaft und Brüderlichkeit aller und der vollkommenen Gleichheit unserer Staaten, diesen Gedanken, der ganz Amerika ewig überwölbt. Daher darfst du dich nicht unbedingt einer Partei verschreiben und dich nicht blindlings ihren Diktatoren unterwerfen, sondern mußt unbeirrt selber Richter und Herr über sie bleiben.

So viel (in Eile, das meiste bleibt noch ungesagt) über ein Idealbild, oder Andeutungen für ein Idealbild amerikanischer Männlichkeit. Aber auch das andere Geschlecht bedarf in unserem Lande zum mindesten einiger grundsätzlicher Winke.

Ich habe ein junges amerikanisches Mädchen gesehen, eine von den vielen Töchtern einer Familie, die vor mehreren Jahren aus ihrem ärmlichen Landheim in eine der Städte des Nordens auswanderte, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurde bald eine tüchtige Näherin, aber da sie diesen Beruf zu ungesund und wenig einträglich fand, begann sie mutig, in fremdem Dienst

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zu arbeiten, als Wirtschafterin, Köchin, Haushälterin usw. Nachdem sie es in mehreren Stellungen versucht hatte, erhielt sie schließlich eine, die ihr zusagte. Sie sagte mir, daß sie nichts Erniedrigendes in dieser Stellung findet; sie sei nicht unvereinbar mit persönlicher Würde, Selbstachtung und der Achtung der anderen. Sie leistet etwas und empfängt daher Gegenleistungen. Sie ist gesund; ihre bloße Gegenwart ist stärkend und gesund; ihr Charakter ist makellos; sie hat sich durchgesetzt und bewahrt ihre Unabhängigkeit und konnte ihren Eltern helfen und für Erziehung und Anstellung ihrer Schwestern sorgen. Ihr Leben bietet ihr auch Möglichkeiten zu geistiger Fortbildung und zu viel ruhigem, einfachem Glück und Liebe.

Ich habe eine andere Frau gesehen, die, aus Neigung und Not zugleich, in das praktische Leben eingetreten ist und ein Mechanikergeschäft betreibt. Sie arbeitet teilweise selbst darin und gerät immer mehr und mehr in das wirkliche, harte Leben. Sie läßt sich nicht zurückschrecken durch die Rauheit seiner Berührung, versteht es, zugleich standhaft und schweigsam zu sein, wahrt ihre Stellung mit unveränderlichem Gleichmut und Anstand und kann es jederzeit aufnehmen mit den tüchtigsten Zimmerleuten, Farmern, ja selbst Schiffern und Kutschern. Bei alledem hat sie den Zauber der weiblichen Natur nicht verloren, sondern bewahrt und übt ihn ungeschmälert auch unter so rauhen Verhältnissen.

Dann ist da die Frau eine Mechanikers, Mutter zweier Kinder, eine Frau von nur mittelmäßiger englischer Erziehung, aber voll feinen Verstandes, mit all der Anmut und Feinfühligkeit ihres Geschlechts; in der Tat eine so edle weibliche Persönlichkeit, daß ich glücklich bin, sie hier erwähnen zu können. Niemals ihre eigene Unabhängigkeit verleugnend, sondern sie immer heiter bewahrend samt allem, was dazu gehört, — Kochen, Waschen, Kinderpflegen, Haushalten, — strahlt sie Sonnenschein aus auf all diese Pflichten und verklärt sie. Körperlich frisch und gesund, arbeitsliebend, praktisch, weiß sie doch, daß es ab und zu auch Ruhepausen geben muß, die der Erholung, der Musik, der Muße und Gastlichkeit gewidmet sind, und sorgt für solche Ruhepausen. Was sie auch tut und wo sie auch ist, ist dieser Zauber, dieser unbeschreibliche Duft echter Weiblichkeit um sie her, begleitet sie und strömt von ihr aus, der von Rechts wegen dem ganzen weiblichen Geschlecht

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zu eigen ist und der die unveränderliche Atmosphäre und gemeinsame Aureole aller alten und jungen Frauen ist oder sein sollte.

Meine liebe Mutter beschrieb mir einmal eine wundervolle Person, drüben in Long Island, die sie in ihrer Jugend kannte. Sie war bekannt unter dem Namen der „Friedensstifterin“. Sie war gut etwa achtzig Jahre alt, von glücklicher, sonniger Gemütsart, hatte immer auf einer Farm gelebt und war eine vortreffliche Nachbarin, verständig und verschwiegen, bei allen immer gleich willkommen und beliebt, besonders bei jungverheirateten Frauen. Sie hatte zahlreiche Kinder und Enkelkinder. Sie war ungebildet, besaß aber eine angeborene Würde. Sie war im ganzen Lande die stillschweigend anerkannte häusliche Ordnungsstifterin, Richterin, Helferin, Hirtin und Versöhnerin geworden. Sie war eine Erscheinung, die alle Blicke anzog, mit ihrer großen Gestalt, ihrem vollen, schneeweißen Haar (das nie von einer Kopfbeckung verhüllt war), ihren dunklen Augen, ihrer reinen Gesichtsfarbe, ihrem frischen Atem und besonderem persönlichen Magnetismus.

Ich gebe zu, daß diese Frauenbilder unendlich verschieden sind von jenen importierten Modellen weiblicher Persönlichkeit, — den üblichen Frauencharakteren der gangbaren Romanschreiber oder der höfischen Dichtungen des Auslands mit all ihren Ophelias, Prinzessinen und Ladys, die die neidischen Träume so mancher armen Mädchen erfüllen und auch von unsern Männern als höchste begehrenswerte Ideale weiblicher Vortrefflichkeit hingenommen werden. Aber ich biete die meinigen einmal zur Abwechslung an.

Es machen sich überdies Anzeichen von etwas noch Revolutionärerem bemerkbar (wir wollen uns jetzt nicht dabei aufhalten, sie zur berücksichtigen, aber sie müssen berücksichtigt werden). Der Tag ist im Anzug, wo die tiefe Frage des Eintritts der Frauen in die Arena des praktischen Lebens, der Politik, des Wahlrechts usw. nicht nur rings um uns her erörtert, sondern vielleicht zur Entscheidung gebracht und praktisch erprobt werden wird.

Natürlich müssen wir in den Vereinigten Staaten, hinsichtlich der Männer sowohl wie der Frauen, die Typen höchster Persönlichkeit gänzlich umformen, die uns die östliche, feudale, ekklesiastische Welt vermacht hat und die noch heute malerisch und melodramatisch die Einbildungskraft und den Geschmack der Vereinigten Staaten beherrschen und die zwar für Studienzwecke von Nutzen sind, aber im

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Leben eine traurige Wirkung ausüben und einen wunderlichen Anachronismus zu den Erscheinungen und Bedürfnissen um uns her bilden. Die alten, unsterblichen Elemente bleiben natürlich bestehen. Die Aufgabe ist, sie den neuen Bedingungen unserer Tage erfolgreich anzupassen. Das ist auch nicht etwas so Unglaubliches. Ich kann mir ein Gemeinwesen denken, heute und hier, wo, auf ausreichender Grundlage, die vollkommenen Persönlichkeiten ohne großes Aufheben sich zusammenfinden; sagen wir, in irgendeiner hübschen Ansiedlung oder Stadt des Westens, wo ein paar hundert der besten Männer und Frauen, aus allen möglichen gewöhnlichen Stellungen, durch güstige Umstände vereint worden sind, Menschen ohne irgend welches besondere Genie oder besonderen Reichtum, aber tüchtig, keusch, fleißig, fröhlich, entschlossen, kameradschaftlich und ehrfürchtig. Ich kann mir ein solches Gemeinwesen regelrecht organisiert denken, mit rechtmäßig eingesetzter Obrigkeit, und so, daß für Landbau, Häuserbau, Handel, Gerichtswesen, Post, Schulen und Wahlen gesorgt ist, und alles sonstige Leben, die Hauptsache, sich in jedem Individuum frei entfaltet und Blüten treibt und goldene Früche trägt. Ich kann mir so, in jedem jungen und alten Mann nach seiner Eigenart und in jedem Weibe nach seiner Art, eine wahre Persönlichkeit denken, vollentfaltet und gleichmäßig entwickelt an Körper, Verstand und Geist. Ich kann mir eine solche Möglichkeit denken, nicht nur als eine Ausnahme oder als etwas besonders Schwieriges, sondern in heiterem Einklang mit den städtischen und allgemeinen Bedürfnissen unserer Zeit. Und ich kann sie mir vorstellen als höchste Entfaltung von etwas, was besser ist als aller herkömmliche Glanz der Geschichte und Dichtung. Vielleicht existiert — unbesungen, in keinem Drama verherrlicht, unerwähnt in Essays oder Biographien — vielleicht existiert sogar bereits ein solches Gemeinwesen, in Ohio, Illinois, Missouri oder sonstwo, in praktischer Erfüllung und übertrifft so bereits, im gewöhnlichsten einfachen Leben, alles, was je bisher in den schönsten Idealbildern ausgemalt wurde.

Um kurz zusammenzufassen: Will Amerika sich daran machen, formgebend zu wirken (und es ist hohe Zeit, von bloßen windigen Versprechen zu soliderer Leistung überzugehen), so muß es, um seine Zwecke zu erreichen, zunächst einmal aufhören, eine Auffassung von Charakter anzuerkennen, die aus den feudalen

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Aristokratien erwachsen oder lediglich durch literarische Maßstäbe oder irgendwelche von drüben kommende, fixundfertige Formeln für Kultur, Schliff, Kaste usw. gebildet ist. Es muß streng seinen eigenen, neuen Maßstab einführen, der im Grunde sehr alt ist und die alten, einzigen Elemente enthält und sie in Gruppen und Einheiten faßt, die für die moderne Welt, die Demokratie, den Westen passen und für die praktischen Verhältnisse und Bedürfnisse unserer eigenen Städte und ackerbauenden Distrikte. Das Wertvollste liegt allezeit im Allgemeinen. Die frische Luft ist besser als das kostbarste Parfüm.

Und nun, um nicht mißverstanden zu werden, wollen wir nicht unterlassen, uns Absolution zu erbitten von alledem, was wahrhafte Kultur oder Begleiterscheinung von ihr ist. Vergib uns, ehrwürdiger Schatten, wenn wir scheinbar leichtfertig von deiner Aufgabe gesprochen haben! Die gesamte Zivilisation der Erde mit all ihrem Ruhm und Licht ist, wir wissen es wohl, dein Werk. Es geschieht in der Tat in deinem Geiste und in dem Bestreben, mit deinen erhabensten Lehrern zu wetteifern, wenn wir diese bescheidenen Äußerungen wagen. Denn auch du, mächtige Priesterin! wisse, daß es etwas Größeres gibt, als dich, nämlich die frischen, ewigen Kräfte des Seins. Aus ihnen und durch sie beschwören wir — gleichwie du selbst in deinen besten Zeiten — die letzte, notwendige Hilfe herbei, um unser Land und unsere Zeit zu beleben. Daher reden wir nicht so sehr gegen das Prinzip der Kultur; wir beaufsichtigen es nur und verbreiten zugleich mit ihm ein ebenso tiefes, vielleicht tieferes Prinzip. Wie wir gezeigt haben, daß die Neue Welt in sich das alles ausgleichende Gemeinschaftsprinzip der Demokratie enthält, so zeigen wir auch, daß sie das allfältige, allgewährende, allfreie Theorem des Individualismus enthält und somit ein hochragendes, bislang noch unbenutztes Gerüst oder eine Plattform errichtet, breit genug für alle, zugänglich für jeden Farmer und Arbeiter — für Männer und Weiber — eine erhabene Selbstheit, die nicht allein physisch vollkommen ist, nicht befriedigt allein mit den Schätzen des Geistes und Wissens, sondern religiös und von der Idee des Unendlichen erfüllt (dem sicheren Steuer und Kompaß auf dieser ruhelosen Reise des Fortschrittes von Mensch und Volk

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über schwärzeste, wildeste Wogen und durch gefährlichste Stürme), — und die sich vor allem andern dessen bewußt ist, daß Menschentum im tiefsten Sinne und soweit wir es kennen, ehrliche Treue zu sich selber ist um jenseitiger Ziele willen, — und daß letzten Endes das Persönlichkeitsgefühl des sterblichen Lebens seine größte Bedeutung erst in Beziehung auf die Unsterblichkeit hat, auf das Unbekannte, Geistige, die einzig dauernde Wirklichkeit, die, wie der Ozean auf seine Ströme wartet und sie in sich aufnimmt, auf jeden und alle von uns wartet.

Vieles andere noch müßten wir in diesen „Ausblicken“ ausführen oder wenigstens im Umriß andeuten, nicht allein über diese Gegenstände, sondern auch über andere, noch nicht erwähnte. Wir könnten in der Tat ein Leben lang über diese Materie reden und sie ausspinnen. Aber wir müssen zu unserm ursprünglichen Ausgangspunkt zurückkehren. In dieser Hinsicht müssen wir noch einmal ausdrücklich bekennen, daß alle objektive Größe der Welt im höchsten Sinn allein auf Geistigkeit beruht und von ihr abhängt. Hier, und hier allein, liegt das Gegengewicht und der Ruhepunkt von allem. Denn der Geist, der allein das dauernde Gebäude baut, baut es stolz für sich selbst. Durch ihn und was aus ihm folgt, werden dem sterblichen Sinn die Höhepunkte des Materiellen, des Bekannten vermittelt und Ahnung des Unbekannten. Ausdruck und Verkörperung zu finden, eine Literatur mit erhabenen, urtypischen Vorbildern zu versehen, — alle Empfänglichen mit Stolz und Liebe zu erfüllen, soviel sie nur fassen können, geistige Ziele zu vollenden und die Zukunft fühlbar zu machen, — dies, und dies allein, befriedigt die Seele. Wir sagen kein Wort gegen die reale Materie; aber die Weisen wissen, daß sie nicht eher wahrhaft real wird, als bis Gefühl und Geist sie berührt haben. Ist nicht Geist etwas Unwägbares? O wir wollen lieber sorgen, daß der zarteste Ton eines Liedes, die zahllosen flüchtigen Regungen der Leidenschaften, die von Rednern oder Erzählern erweckt werden, mehr Dichtigkeit und Gewicht haben, als die Maschinen dort in den großen Fabriken oder die Granitblöcke in ihren Fundamenten.

Indem wir uns so den Bereichen nähern, die der eigentliche Gegenstand dieser Betrachtungen sind, und im Hinblick auf eine neue und höhere Persönlichkeitsbildung die Bedürfnisse und Möglichkeiten schöpferischer amerikanischer Literatur im Lichte dessen,

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was wir zuvor besprochen haben, betrachten, wird sogleich offenbar sein, daß eine tiefe Kluft den gegenwärtig anerkannten Zustand dieser Bereiche samt allem, was sich in ihnen regt, von einem Zustand trennt, der der Welt, dem Amerika wirklich angepaßt wäre, nach dem im gegenwärtigen Zustand nur getastet wird, und angepaßt der Fülle von Rassen vollkommener Männer und Frauen, die in diesen Ausblicken mit groben Strichen entworfen ist. Es ist in gewissem Sinne kein geringerer Unterschied als zwischen dem langandauernden, nebelförmigen, gestaltlosen Zustand der astronomischen Weltkörper und dem darauf folgenden Zustand, den endgültig geformten Weltkugeln selbst, nachdem sie sich gehörig verdichtet und in Systeme geordnet haben und nun dort droben hängen, Kronleuchter des Weltalls, verbunden und erleuchtet durch ihr gegenseitiges Licht, als fester Grund für alles Stoffliche und zur Benutzung für das gewöhnlichste Leben, aber noch mehr als unvergängliche Kette und Staffel aller geistigen Schau und Offenbarung. Ein grenzenloses Feld ist auszufüllen! Eine neue Schöpfung ersehnter Werke, ausgesendet wie Weltkörper, um in freien, gesetzmäßigen Umläufen zu kreisen, in sich selbst ruhend durch den Äther zu wandeln und wie des Himmels Sonnen selber zu scheinen! Nichts Geringeres als dies meinen wir, wenn wir von der Literatur der Neuen Welt reden, die sich aus diesen Staaten in inniger Einheit mit ihnen erheben soll, zur rechten Zeit sich verkündend.

Was verstehen wir indessen genauer unter Literatur der Neuen Welt? Tun wir hier nicht schon des Guten genug? Haben die Vereinigten Staaten heute nicht mehr Setzer und Pressen in eifrigem Betrieb als irgendein anderes Land? Veröffentlichen und verbrauchen sie nicht mehr Gedrucktes als andere Länder? Werden unsere Verleger nicht schneller und gründlicher fett? — Sicherlich sind viele in dieser Täuschung befangen, aber es ist meine Absicht, sie zu zerstören. Ich behaupte, eine Nation mag ganze Ströme und Ozeane von sehr lesenswerten Druckschriften haben und in Umlauf bringen, Zeitungen, Zeitschriften, Romane, Leihbibliotheken, „Poesie“ usf., — wie sie die Vereinigten Staaten heute in der Tat besitzen und in Umlauf bringen, — von unbestreitbarem Nutzen und Wert, — hundert neue Bücher, die jedes Jahr geschrieben und herausgebracht werden, sehr anerkennenswert, unübertroffen an Können und Wissen, — und noch Hunderte oder gar Millionen mehr, die durch Raubverlage

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auf den Markt geworfen werden, — und dennoch wird vielleicht, trotz alledem, besagte Nation streng genommen überhaupt keine Literatur besitzen.

Was also — wiederholen wir — verstehen wir unter wahrer Literatur? im besonderen unter der demokratischen Literatur der Zukunft? Schwierige Fragen! Die Antwort kann nur indirekt gegeben werden und weist uns an die Vergangenheit. Im besten Fall können wir nur Andeutungen, Vergleiche auf Umwegen geben.

Es muß als die tiefste Lehre der Zeit und der Geschichte um des Zweckes dieser Aufzeichnungen willen nochmals wiederholt werden, daß alles, was eine Nation oder Epoche an politischen und materiellen Errungenschaften, heroischen Persönlichkeiten, militärischer Machtentfaltung usw. hervorbringt, bei genauer, tiefgehender Betrachtung unvollkommen bleibt und nur hemmend wirkt, ehe es nicht durch nationale, urwüchsige Wesensvorbilder in der Literatur mit wahrem Leben erfüllt wird. Sie allein gestalten die Nation, bringen alles letztgültig zum Ausdruck, beweisen, vollenden alles und geben allem Bestand. Zweifellos: einige der blühendsten, mächtigsten und volkreichsten Gemeinwesen der antiken Welt und einige der größten Persönlichkeiten und Ereignisse haben der Nachwelt bis auf heute keinerlei Erbschaft hinterlassen. Zweifellos waren unter diesen Ländern Heldentaten, Persönlichkeiten, von denen uns nichts überliefert ist, nicht einmal Name, Zeit oder Ort, solche, die größer waren als alle uns überlieferten. Andere wieder sind heil angelangt wie von Reisen über jahrhundertweite Meere. Die kleinen Schiffe, die Wunderdinger, die sie trugen und durch unerhörte Glücksfälle wohlbehalten zu uns brachten (oder wenigstens das Beste von ihnen, ihren Sinn und Extrakt) über weite Einöden hin, durch Finsternis, Stumpfheit, Unwissenheit usw., — diese kleinen Schiffe waren ein paar Schriften, — ein paar unsterbliche Dichtungen, gering an Umfang, doch voll welcher unermeßlicher Werte der Erinnerung, voller Charaktere, Sitten, Sprachen und Glauben ihrer Zeit, voll tiefster Beziehungen, Hinweise, Gedanken, genug, um den alten, ewig neuen Körper und die alte, ewig neue Seele innig zu verschmelzen! Sie! und noch einmal sie! — die diese so teure Fracht zu uns trugen, teurer als Stolz, teurer als Liebe! Alle kostbarste Erfahrung der Menschheit, in kleinstem Raum gefaltet, haben sie gerettet und zu uns gebracht. Einige dieser winzigen Schiffe nennen wir Altes und

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Neues Testament, Homer, Äschylos, Plato, Juvenal usf. — Kostbare Winzigkeiten! Ich glaube, wenn wir wählen müßten, so würden wir es eher ertragen, so furchtbar es wäre, alle wirklichen Schiffe, die heute auf Werften liegen oder auf See schwimmen, zu verlieren und mit ihrer ganzen Fracht leck in die Tiefe sinken zu sehen, als euch und euresgleichen und was zu euch gehört und aus euch erwachsen ist, vernichtet und ausgelöscht zu sehen.

Zusammengefaßt durch die Genies einer Stadt, Rasse oder Epoche und durch sie in die höchste aller künstlerischen Formen, die literarische, gebracht, ist die besondere Wesensund Erscheinungsart dieser Stadt, Rasse oder Epoche, ihre besondere Verkörperung der allgemein menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften, ihr Glaube, ihre Helden, Liebenden und Götter, ihre Kriege, Überlieferungen, Unruhen, Verbrechen, Erregungen, Freuden (oder doch der geistige Hauch von alledem) auf uns gekommen, um unser eigenes Sein und seine Erfahrungen zu erleuchten. Würde das, was sie uns geben, all dieses nicht mehr Entbehrliche, Höchste uns genommen, so könnte nichts anderes im ganzen grenzenlosen Vorratsspeicher der Welt uns einen Ersatz dafür bieten.

Für uns ragen diese Denkmäler entlang den großen Heerstraßen der Zeit, — diese Gebilde der Hoheit und Schönheit. Für uns brennen diese Leuchtfeuer durch alle Nächte. Unbekannte Ägypter, Hieroglyphen grabend; Hindus mit ihren Hymnen, Weisheitssprüchen und endlosen Epen; hebräischer Prophet, vom Geist erleuchtet wie in Blitzen, mit einem Gewissen wie rotglühendes Eisen, mit Klageliedern und Racheschreien gegen Tyrannen und Sklaverei; Christus mit geneigtem Haupt, wie eine Taube brütend über Liebe und Frieden; der Grieche, ewige Gestalten schaffend voll Ebenmaß des Körpers und Gefühls; der Römer, der Herr der Satire, des Schwerts und Gesetzbuchs; einige der Gestalten fern und im Dämmer, andere näher und sichtbar; Dante, einherschreitend mit magerer Gestalt, nichts als Sehnen, kein Gran überflüssigen Fleisches; Angelo und die großen Maler, Baumeister, Musiker; der reiche Shakespeare, verschwenderisch wie die Sonne, Gestalter und Sänger des Feudalismus in seinem Sonnenuntergang, mit all seinen glühenden Farben, über die er mit souveräner Willkür verfügt; und so zu den Deutschen Kant und Hegel, die, obwohl nahe bei uns, so doch wiederum, Zeitalter überspringend, leidenschaftslos und unerschütterlich sitzen

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wie die ägyptischen Götter. Ist es nun wirklich zu viel, wenn wir von diesen und ihresgleichen wieder auf unser Lieblingsbild zurückkommen und sie sehen wie Weltkörper und Systeme von Weltkörpern, die auf freien Bahnen durch die Räume jenes zweiten Himmels, des kosmischen Geistes, der Seele, wandeln?

Ihr Gewaltigen und Strahlenden! Ihr seid, in euren Bereichen, nicht für Amerika erwachsen, sondern eher für seine Feinde, das Feudale und Alte, — während unser Genius demokratisch und modern ist. Und doch, — o könntet ihr euern Lebensodem in die Nüstern unserer Neuen Welt blasen, — nicht um uns, wie jetzt, zu versklaven, sondern um in uns und für uns einen Geist zu erwecken gleich dem euern, — vielleicht (wagen wie es auszusprechen?) um zu überwinden, ja zu zerstören, was ihr selbst hinterlassen habt! Auf eurer Höhe, nicht tiefer, sondern eher noch höher und weiter, müssen wir uns treffen und messen, heute und hier. Ich fordere Rassen von Sängern, die mit der Macht von Weltkörpern unbeirrt und sicher ihre Bahn fliegen. Erscheint, ihr süßen demokratischen Beherrscher des Westens!

Durch Hinweise wie diese deuten wir mittelbar an, was wir unter wahrer Literatur eines Landes oder Volkes verstehen. Und so verglichen und gemessen an den erhabensten Schöpfungen allein, was stellen unsere reichen Mengen von Druckschriften, die in mannigfachen Formen die Vereinigten Staaten bedecken, Besseres dar als vergleichweise jene über gewisse Strecken des Meeres verbreiteten, hin und her wogenden Ansammlungen von Tintenfischen, die der mit halb emporgetauchtem Kopf hindurchschwimmende Wal verschlingt?

Zwar mag unsere landläufige sogenannte Literatur (gleichsam wie ein unendlicher Vorrat von kleiner Münze) einen gewissen Nutzen haben, vielleicht sogar gerade das bieten, was unsere Zeit braucht (eine Vorbereitung, ähnlich wie Kinder lernen müssen zu buchstabieren). Jedermann liest und nahezu jedermann, in der Tat, schreibt, seien es Bücher, sei es für die Zeitschriften und Zeitungen. In gewissem Sinn hat auch dieser Zustand seine Großzügigkeit. Aber bringt er Fortschritt? oder hat er seit langem irgendwelchen Fortschritt gebracht? Es liegt etwas Imponierendes in den riesigen Auflagen der Tageszeitungen und Wochenschriften, den Bergen weißen Papiers, die in den Gewölben der Druckereien aufgestapelt

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sind und in den stolzen, dröhnenden Zehn-Zylinder-Pressen, vor denen ich jederzeit stundenlang stehen kann, um ihnen zuzuschauen. Auch wird (obwohl die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Phantasie nicht ein einziges Werk ersten Ranges, nicht einen einzigen großen Schriftsteller aufzuweisen haben) der Hauptzweck immer noch erreicht, und immer wieder bis ins Unendliche, nämlich zu amüsieren, zu kitzeln, die Zeit zu vertreiben, Neuigkeiten und Gerüchte von Neuigkeiten in Umlauf zu bringen und Verse zu reimen für den Geschmack der Leser. Heutzutage gehört bei all dem Bücherschreiben und dem Wetteifer der Schriftsteller, insbesondere der Romanschriftsteller, der (sogenannte) Erfolg demjenigen oder derjenigen, die den Geschmack des gemeinen, flachen Durchschnitts treffen, die sensationelle Gier nach Aufreizung, Geschehnis, Satire usf., und die das sinnliche, äußere Leben gewöhnlichen Schlages beschreiben. Für Autoren solcher Art oder wenigstens für die glücklichsten von ihnen ist, soviel wir sehen, die Zuhörerschaft unbegrenzt und gewinnbringend; aber sie schwindet bald. Während heute und jederzeit für die, die das inner oder spirituelle Leben darzustellen suchen, die Zuhörerschaft begrenzt ist und oft nur zögernd sich bildet, aber für ewig bestehen bleibt.

Verglichen mit der Vergangenheit hat unsere moderne Wissenschaft einen hohen Aufschwung genommen und erfüllen unsere Zeitungen einen nützlichen Zweck, — aber die ideelle Literatur, oder auch nur die gewöhnliche Romanliteratur, macht meines Erachtens keine wesentlichen Fortschritte. Man sehe sich die fruchtbaren Erzeugnisse des zeitgenössischen Romans, der Novelle, des Dramas usw. an. Dasselbe endlose Gespinst verwickelter, übertriebener Liebesgeschichten, die offenbar von den Amadissen und Palmerins des dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts drüben in Europa herstammen. Die Kostüme und alles sonstige Zubehör auf moderne Form gebracht, die Würze heißer und abwechslungsreicher, die Drachen und Menschenfresser weggelassen, — aber der eigentliche Inhalt, meine ich, ist nicht fortgeschritten, — ist just so sensationell, just so verrenkt und so ziehmlich derselbe geblieben, nicht mehr und nicht weniger.

Was ist der Grund, daß wir in unserer Zeit, in unserem Lande keinen frisch aus unserer Umgebung geborenen Mut, keine eigene gesunde Kraft, — nicht den Mississippi, die handfesten Männer des

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Westens, des Südens, keine geistigen und physischen Tatsachen usf. in der Gesamtheit unserer Literatur, zumal in ihrem dichterischen Teil, sehen, — sondern anstatt dessen immer nur eine kleine Minderheit von Dandys und Blasierten, feine Herrchen, die vom Ausland importiert sind im fünfhundertsten Aufguß und uns überfluten mit ihren dünnen Salongefühlen, die sich an Sonnenschirmen, Schmachtliedern und Reimgeklingel erregen, — oder die über irgend etwas winseln und flennen, von einem fehlgeborenen Einfall zum andern jagen und ewig beschäftigt sind mit irgendeiner dyspeptischen Verliebtheit in dyspeptische Frauenzimmer. Während, in niegesehenem Strom, die größten Ereignisse und Umwälzungen, die stürmischsten Leidenschaften der Geschichte heute mit unvergleichlicher Schnelligkeit und Großartigkeit sich auf dem Schauplatz unseres und aller Kontinente kreuzen, neuen Stoff darbieten, neue Ausblicke voll neuer Bedürfnisse eröffnen und kühn aufspringende Schöpfungen der Literatur herausfordern, die, begeistert durch sie, sich in höchste Höhen aufschwingen und der Kunst in aller ihrer Erhabenheit dienen (was nur ein anderer Name ist für „Gott dienen“ oder „der Menschheit dienen“). Wo ist der Mann der Literatur, wo ist das Buch, dem ein edleres Ziel vorschwebt, als im alten Geleise zu trotten, längst Gesagtes zu wiederholen und — höchster Triumph! — gut gekauft zu werden und gelehrt und elegant zu sein?

Man betrachte die Wege des Fortschritts, die diese Staaten zurückgelegt haben, bis sie nun heute frei, gleichberechtigt für immer, fest zusammengefügt für immer an ihrem Platze stehen. Europäische Abenteuer? Die Antike? Asien und Afrika? Alte Geschichte — Wunder-Romantik? — Nein, unsere eigenen unanzweifelbaren wirklichen Taten! Sie jagen einander, unerhört, strahlend wie Feuer! Wenn ich ihre Geschichte lese, von den Taten und Tages des Kolumbus an bis auf die Gegenwart und einschließlich der Gegenwart — vor allem den letzten Sezessionskrieg, — so ist mir bei jeder Seite zumute, als müßte ich innehalten und mich besinnen, ob ich micht nicht geirrt habe und unter die leuchtenden Phantasiebilder eines Traums geraten bin. Aber es ist kein Traum. Wir stehen, leben, bewegen uns in dem ungeheuren Strom des Materialismus und Spiritualismus unseres Zeitalters. Das positivste aller Reiche ist für uns gegründet worden. Die Gründer sind in andere

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Sphären übergegangen, — aber welches sind die furchtbaren Pflichten, die sie uns hinterlassen haben?

Ihre Politik haben die Vereinigten Staaten meines Erachtens, trotz all ihren Fehlern, bereits im wesentlichen und ein für allemal auf ihre eigenen, eingeborenen, gesunden, weit vorausschauenden Grundsätze gegründet, die nie wieder umgestürzt werden können und ein sicheres Fundament für alles übrige bilden. Zusammen mit ihr müssen natürlich auch ihre zukünftigen religiösen Formen, ihre Soziologie, Literatur, ihre Lehrer, Schulen, die Art der äußeren Erscheinung usw. ein geschlossenes einheitliches Ganzes bilden, auf ebensolchen Grundsätzen. Denn wie könnten wir so zerspalten, so uns selbst widersprechend bleiben, wie jetzt? Ich sage, wir können Harmonie und Beständigkeit erlangen, indem wir die Einheit aller Dinge und die ethischen Inhalte berücksichtigen und vertrauensvoll auf ihnen weiterbauen. Ich sehe in der Tat, daß für die Neue Welt nach zwei Epochen vorbereitender Schichtungen jetzt eine dritte Epoche, ohne die die andern beiden nutzlos wären, bereit steht und sich in unverkennbaren Zeichen ankündigt. Die Erste Epoche war der Entwurf und die Festlegung der politischen Grundrechte für ungeheure Volksmassen, ja für alles Volk, in der Organisation republikanischer National-, Staatsund Kommunalregierungen, alle aufgebaut in Beziehung zu allen. Dies ist das amerikanische Programm, nicht für Klassen, sondern für den Menschen im allgemeinen, und ist verkörpert in den Grundsätzen der Unabhängigkeitserklärung und, in seiner späteren Entwicklung, in der Bundesverfassung sowie in den Regierungen der Einzelstaaten mit all ihren inneren Angelegenheiten und dem allgemeinen Wahlrecht; die Bedeutung all dieser Grundlagen liegt nicht nur in dem, was sie selbst enthalten, begründen und pflanzen, sondern auch in allem, was mit Notwendigkeit aus ihnen folgt. Die Zweite Epoche ist die des materiellen Gedeihens und Wohlstandes, die Epoche der Produktion, der arbeitsparenden Maschinen, des Eisens, der Baumwolle, der lokalen, staatlichen und kontinentalen Eisenbahnen, des Verkehrs und Handels mit allen Ländern, der Dampfschiffe, Gruben, des Arbeitsmarkts, der Organisation der Großstädte, der Verbilligung des Komforts, zahlloser technischer Lehranstalten, Bücher, Zeitungen, der Währung für den Geldumlauf usf. Die Dritte

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Epoche, die aus den vorhergehenden beiden sich erhebt, um sie und alles zu verklären, verkünde ich nun hier, als einer für viele. Ich verkünde den eingeborenen Geist, der Ausdruck und Form annimmt für diese Staaten, gereift, vergeistigt, selbstbeherrscht, verschieden von allen anderen, expansiver, reicher, freier, — einen Geist, der durch ursprüngliche Autoren und Dichter der Zukunft dargestellt werden soll, durch amerikanische Persönlichkeiten, deren viele, Männer und Frauen, bereits ungekannt überall in den Staaten leben; — und durch eine viel herrlichere, einheimische Entfaltung von Sprache, Gesängen, Opern, Reden, Vorlesungen, Bauten — und durch eine erhabene, feierliche religiöse Demokratie, die entschlossen die Herrschaft ergreift, das Alte auflöst, alle Oberflächen abschält und aus ihrem eigenen inneren Lebensprinzip heraus die Gesellschaft neu aufbaut und demokratisiert.

Nur wenige ahnen, wie tief, wie tief die Bedeutung Amerikas ist, des Vorbildes allen Fortschritts und wahren Glaubens an den Menschen, trotz aller Irrtümer und Bosheit. Die Welt glaubt offenbar, und auch wir haben offenbar geglaubt, daß die Vereinigten Staaten nur dazu da seien, um die Gleichheit der Gerechtsamen Aller und eine Wahlregierung durchzuführen, — um die Würde der Arbeit einzuweihen und eine Nation praktisch tätiger, den Gesetzen gehorsamer, ordentlicher und wohlhabender Menschen zu werden. Ja, dies sind in der Tat Teile der Aufgabe Amerikas; aber sie erschöpfen nicht nur nicht den Begriff von Fortschritt, sondern sind darüber hinaus auch die Vermittler eines viel tieferen, höheren Fortschritts, mit dem sie schwanger gehen. Tochter einer physischen Revolution, — Mutter der wahren Revolutionen, nämlich der des inneren Lebens und der Kunst. Denn solange der Geist sich nicht wandelt, ist jeder Wandel der Erscheinung belanglos.

Ich erinner mich, als ich ein Knabe war, sprachen die alten Leute immer von amerikanischer Unabhängigkeit. Was ist Unabhängigkeit? Freiheit von allen Gesetzen und Schranken, außer denen des eigenen Ich, die von denen des Universums beherrscht werden. Was ist Ländern, Männern, Frauen letzten Endes zu eigen, als einzig und allein ihre innewohnende Seele, Ursprünglichkeit, ihr Sein in sich selbst, frei, im höchsten Gleichgewicht, sich aufschwingend zu eigenem Fluge, sich selbst getreu?



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Gegenwärtig werden die Vereinigten Staaten in ihrer Theologie und ihren sozialend Anschauungen (die wichtiger als ihre politischen Institutionen sind) gänzlich von fremden Ländern beherrscht. Wir sehen, wie die Söhne und Töchter der Neuen Welt, ihres Genius nicht bewußt, das Einheimische, Universelle, Nahe noch nicht entdeckt haben, sondern immer noch das Entlegene, Partielle, Tote importieren. Wir sehen London, Paris, Italien nicht in ursprünglicher Schönheit wie dort, wohin sie gehören, sondern aus zweiter Hand hier, wo sie nicht hingehören. Wir sehen die Brocken der Juden, Römer, Griechen; aber wo sehen wir, auf seinem eigenen Boden, in irgendwelcher getreuen, höchsten, stolzen Verkörperung Amerika selbst? Ich frage mich manchmal, ob ihm auch nur ein Winkel im eigenen Haus gehört.

Nicht als ob in einem gewissen Sinne, und zwar in einem sehr hohen, wahre Theologie, wahre Kunst und wahre Literatur nicht gewisse Züge gemeinsam hätten. Sie sind verbrüdert und binden die Rassen untereinander, sie sind in vielen Einzelheiten, unter Gesetzen, die auf alle unterschiedslos anwendbar sind, unabhängig von Klima und Zeit und wenden sich, aus welcher Quelle sie auch stammen mögen, an Gefühle, — Stolz, Liebe, Geistigkeit, — die dem Menschengeschlecht gemeinsam sind. Nichtsdestoweniger berühren sie selbst da einen Menschen am innigsten (oder vielleicht überhaupt nur), wenn sie ihren Ausdruck finden durch die autochthonen Lichter und Schatten hindurch, durch den Geschmack, die Vorlieben, Abneigungen, besonderen Ereignisse und Eigenheiten hindurch, die aus der eigenen Nationalität, Geographie, Umgebung, überlieferung usw. dieses Menschen geboren sind. Geist und Form sind eins und hängen viel mehr, als man glaubt, von Gemeinschaft, Identität und Ort ab.

Mit der Körperlichkeit und Persönlichkeit eines Lands, einer Rasse — teutonisch, türkisch, kalifornisch oder was sonst — ist immer ein Etwas verwoben — ich kann schwerlich sagen, was es ist — die Geschichte beschreibt nur seine Ergebnisse — es ist dasselbe wie der unaussprechliche Ausdruck mancher Menschengesichter. Auch die Natur in ihren stumpferen Formen ist voll davon, — aber für die meisten ist es da ein Geheimnis. Dieses Etwas ist verwurzelt in den unsichtbaren Wurzeln, in dem tiefsten Sinn diese Ortes, dieser Rasse oder Nationalität; und es in sich

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aufzunehmen und wieder auszuströmen, Worte und Werke aus seinem innersten Kern heraus zu gestalten und in höchste Bereiche zu tragen, das ist die Aufgabe oder ein Hauptteil der Aufgabe der wahren Schriftsteller, Dichter, Historiker, Gelehrten und vielleicht sogar Prister und Philosophen eines jeden Landes. Hier, und hier allein, sind die Grundelemente für eine wirklich wertvolle und dauerhafte lyrische und dramatische Kunst Amerikas.

Aber gegenwärtig sind all die Schwärme von Gedichten, von literarischen Zeitschriften, Theaterstücken, die bislang dem amerikanischen Intellekt und unseren besten Ideen entsprungen sind, zwecklos und ein Hohn, wenn man sie beurteilt nach einem höheren Maßstab als dem, der die Hauptzwecke des Daseins darin sieht, während der einen Hälfte des Lebens fieberhaft Geld zu machen und während der andern vielleicht durch „Amüsement“, Reisen ins Ausland und Geschwätz die Zeit totzuschlagen, — wenn man sie beurteilt im Hinblick auf die Ziele von Patriotismus, Gesundheit, edler Persönlickheit, Religion und demokratischer Kultur! Sie stärken und nähren keinen, bringen nichts Charakteristisches zum Ausdruck, geben niemandem Richtung und Ziel und befriedigen nur den niedrigsten Geschmack hohler Geister . . .

Amerika braucht eine Poesie, die kühn, modern, allumfassend und kosmisch ist, wie es selbst. Diese Poesie darf in keiner Hinsicht die Wissenschaft und das Moderne ignorieren, sondern muß aus der Wissenschaft und dem Modernen Inspiration schöpfen. Sie muß mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit schauen. Wie Amerika, muß auch sie sich von den Vorbildern der Vergangenheit, und wären es die höchsten, freimachen und, bei aller Achtung vor ihnen, den vollen Glauben an sich selbst und an die Erzeugnisse ihres eigenen, demokratischen Geistes haben. Wie Amerika, muß auch sie das Banner des göttlichen Selbsbewußtseins (der tiefsten Grundlage der neuen Religion) in das Vordertreffen stellen und unter allen Umständen hochhalten. Lange genug hat das Volk Dichtungen angehört, worin die Durchschnittsmenschheit sich unterwürfig duckt und demütig Höhere über sich anerkennt. Amerika aber hört nicht auf solche Dichtungen. Aufrecht, von stolzer Selbstachtung geschwellt sei der Gesang, dann wird ihm Amerika mit Wohlgefallen lauschen.



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Das echte Gold, die Edelsteine werden, wenn sie endlich ans Licht kommen werden, wahrscheinlich nicht aus den Bereichen stammen, von denen man sie heute für gewöhnlich erwartet. Der unmündige Genius amerikanischer Dichterkraft schlummert heute zweifellos in weiter Ferne, zum Glück unentdeckt und unbehelligt von den Koterien der Kunstschreiber, der Schwätzer und Kritiker der Salons oder der Sprecher in Hörsälen, — schlummert abseits, seiner selbst nicht bewußt, in irgendeinem Dialekt des Westens, in irgendeiner einheimischen Ausdrucksweise in Michigan oder Tennessee, oder in irgendeiner ländlichen Wahlrede — oder in Kentucky, Georgia oder auf den Karolinen — oder in dem Slang oder Volkslied oder einer Redensart der Arbeiter von Manhattan∗*, Boston, Philadelphia oder Baltimore — oder oben in den Wäldern von Maine — oder fern in der Hütte des kalifornischen Goldgräbers oder in den Rocky Mountains oder längs der pazifischen Bahn — oder in der Brust der jungen Farmer des Nordwestens oder in Kanada oder der Fischer auf den Seen. Rauhe und grobe Wiegen dies! Aber einzig aus solchen Anfängen und eingeborenen Stämmen werden vielleicht Blüten von echt amerikanischem Arom aufbrechen und sprießen, wenn ihre Zeit da ist, und Früchte, die wahrhaft und voll unser eigen sind . . .

Lange vor unserer zweiten Jahrhundertfeier werden wir einige vierzig oder fünfzig große Staaten haben, darunter Kanada und Kuba. Am Ende des gegenwärtigen Jahrhunderts wird unsere Bevölkerung sechzig oder siebzig Millionen betragen. Der Pazifische Ozean wird uns ganz und der Atlantische größtenteils gehören. Wir werden in täglicher elektrischer Verbindung sein mit allen Teilen des Globus. Was für ein Zeitalter! Was für ein Land! Wo sonst ein so großes?! Die Individualität einer einzelnen Nation muß dann, wie immer, die Welt leiten. Kann es zweifelhaft sein, wer der Führer sein sollte? Man bedenke aber, daß immer nur die mächtigste, ursprünglichste, ungeknechtete Seele in Wahrheit und glorreich geführt hat und je führen kann. (Diese Seele — ihr andere Name in diesen Ausblicken ist Literatur.)

In einem schönen Traum wollen wir diese hundert Jahre überspringen und die Schöpfungen, Gedichte und Philosophien Amerikas

**New York. (Anmerkung des übersetzers.)



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überschauen, wenn sie alle Prophezeiungen erfüllt und höchsten Idealen endgültige Gestalt gegeben haben werden. Vieles, was wir jetzt noch nicht ahnen, wird dann vielleicht in üppigem Wachstum dastehen, Reichtum und Kraft literarischer und künstlerischer Darstellung, wobei Charakter als Hauptelement gelten wird und nicht bloße Bildung und Eleganz.

Inbrünstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, persönliche und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erlöser aller Länder und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung für die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird.

In der Entwicklung, dem Bewußtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradschaft (der Freunschaftsliebe, die der die Literatur jetzt beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegengewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vulgären amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum, und werden meinen Schlußfolgerungen nicht beistimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all die Myriaden hörbarer und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas die Fäden männlicher Freundschaft, wie ein halbverborgener Einschlag, durchschimmern werden, warm und zärtlich, rein und süß, stark und lebenslang, in bisher unbekanntem Maße — eine Kameradschaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und ihn gefühlsreich, muskulös, heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten Einfluß ausüben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingt eine solche liebende Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollständig und unnütz ist und unfähig zu dauern.

Starkherzige Fröhlichkeit und Gläubigkeit und Sinn für Gesundheit al fresco soll eine der Vorbedingungen edlen amerikanischen Schrifttums der Zukunft sein. Eines der Merkmale des großen Schriftstellers soll sein, daß ihm der Sinn fehlt für das Verschleierte, Düstere, Böse, den Teufel, die von den Puritanern ererbten grimmigen Vorurteile, Hölle, angeborene Verderbtheit und desgleichen.

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Der große Schriftsteller wird vor allen andern kenntlich sein an seiner heiteren Einfachheit, seinem Festhalten an natürlichen Maßstäben, seinem unbegrenzten Glauben an Gott, seiner Ehrfurcht und daran, daß in ihm kein Raum ist für Zweifel, Blasiertheit, Possen, Spottsucht oder irgendwelche unnatürliche und flüchtige Mode.

Ich darf nicht verfehlen, unermüdlich immer wieder und wieder und noch deutlicher als bisher auf das erhabene Ziel zurückzukommen, sicherlich das stolzeste und reinste, in dessen Dienst der Schriftsteller der Zukunft, auf welchem Gebiete immer, freudig wirken mag. (O möchte doch in der Tat ein solcher Fernblick, wie wir ihn träumen, uns auch dieses Ideal zu seiner Zeit verwirklicht sehen lassen!) Das Gegengewicht zu der materiellen Zivilisation unserer Rasse, unserer Nation, ihres Wohlstands, ihrer Territorien, Fabriken, Bevölkerung, Erzeugnisse, ihres Handels und ihrer Heeresund Seemacht und der lebendige Atem, der durch all das atmet, muß, wie gesagt, ihre moralische Zivilisation sein — deren Formulierung, Darstellung und Förderung die höchste Aufgabe der Literatur ist. Der höchste Gipfel dieser erhabenen Höhe der Zivilisation, die sich über alle Herrlichkeiten und Schätze von Wohlstand, Intellekt, Macht und Kunst als socher erhebt, — ja sogar über Theologie und religiösen Eifer, — muß ihre Entwicklung zu absoluten Gewissen, zu moralischer Gesundheit und Gerechtigkeit sein, als deren Verkörperung sie aus ewigen Tiefen emportaucht. Selbst in religiösem Eifer liegt nocht ein Hauch animalischer Glut. Aber moralische Gewissenhaftigkeit — kristallklar, fleckenlos, nicht nur gottgleich, sondern vollkommen menschlich — weckt ewig Ehrfurcht und Entzücken. Groß ist fühlende Liebe, selbst in der Ordnung des rationalen Universums. Aber wenn wir Abstufungen machen sollen, so bin ich überzeugt, daß es noch etwas Größeres gibt. Kraft, Liebe, Verehrung, Wohlstand, Genie, Schönheit: sie alle versagen irgendwie bei schärfster Betrachtung und Untersuchung in klarsten Stunden, erden irgendwie nichtig. Alsdann kommt geräuschlos, mit schwebenden Schritten, die höchste Herrin, die Sonne, das letzte Ideal. Mit den Namen Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit deuten wir sie nur an, aber beschreiben sie nicht. Für die Welt der Menschen bleibt sie ein Traum, eine Idee, wie sie es nennen. Aber kein Traum ist sie dem Weisen, — sondern das Stolzeste, fast das einzig Verläßliche und Dauernde in

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aller Welt. Ihre Analogie im materiellen Universum ist dasjenige, was diese Welt und alle Dinge auf ihr zusammenhält und ihre Kräfte ewig sicher und wohlbehalten vorwärts trägt. Weil sie im Leben, in der Soziologie, Literatur, Politik, im Geschäftsleben und selbst im Gottesdienst fehlt und man ihr, heute wie je, beständig ausweicht, — daher der Abgrund, die tödliche Kluft und der schwarze Fleck, der der Zivilisation von heute mit all ihren unbestreitbaren Triumphen und überhaupt aller bisher bekannten Zivilisation Hohn spricht.

Die Literatur der Gegenwart ist, obwohl sie gewisse populäre Ansprüche vortrefflich und mit einer Fülle von Sachkenntnis und Wortgewandtheit erfüllt, dennoch im tiefsten Grunde verfälscht und ungesund, und selbst ihre Fröhlichkeit ist angekränkelt. Es tut ihr not, den Einklang mit der Natur und dem Geist der Natur zu finden und ihn wiederzugeben und seine Gesetze zu erkennen und zu befolgen. Ich behaupte, die Frage der Natur, im großen gesehen, schließt die Fragen der ästhetik, des Gefühls und der Religion in sich, und schließt Glückseligkeit in sich. Eine gesund geborene und auferzogene Rasse, aufwachsend im Haus und im Freien unter den rechten harmonischen Bedingungen für Tätigkeit und Entwicklung, würde wahrscheinlich, infolge dieser Bedingungen, Genüge darin finden, zu leben, — und würde in ihren Beziehungen zu Himmel, Luft, Wasser, Bäumen usw. und zu all dem Zahllosen, was es an jedem Tag zu sehen gibt, und in der Tatsache des Lebens selber Glückseligkeit entdecken und genießen, — und dies ihr Sein wäre Tag und Nacht durchflutet von gesunder Entzückung, weit über allen Freuden, die Reichtum, Vergnügungen oder selbst befriedigter Intellekt, Bildung oder Sinn für Kunst zu gewähren vermögen.

Wer meine Betrachtungen liest, wird ihren Hauptgehalt nicht erfassen, wenn er nicht den Punkt wohl beachtet, daß eine neue Literatur, vielleicht auch eine neue Metaphysik, sicherlich eine neue Poesie meines Erachtens die einzig festen und würdigen Stützen und Ausdrucksmittel der amerikanischen Demokratie sein können. In der Zukunftsliteratur dieser Staaten muß daher vor allen Dingen die lang vernachlässigte Natur, die echte Natur, die wahre Idee der Natur wieder völlig zur Geltung und Herrschaft gelangen, den Dichtungen die alles durchdringende Atmosphäre einhauchen und

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den Maßstab bilden für alle hervorragenden literarischen und ästhetischen Schöpfungen.

Ich meine nicht die glatten Wege, gestutzten Hecken, Bosketts und Nachtigallen der englischen Poeten, sondern den ganzen Erdball mit seiner geologischen Geschichte, den Kosmos, wie er Feuer und Schnee trägt und durch den grenzenlosen Raum rollt, leicht wie eine Feder und doch Billionen Tonnen schwer. Ferner — da das, was wir gegenwärtig unvollkommen als Natur bezeichnen, höchstens soviel bedeutet, wie von dem physischen Gewissen, dem Sinn für Materie und animalische Gesundheit erfaßt werden kann — so muß darüber hinaus entschieden das Bewußtsein gepflanzt und entwickelt werden, daß der Mensch etwas unendlich Höheres besitzt, als das physische Gewissen, nämlich das ethische und geistige Gewissen, das ihn auf seine Bestimmung jenseits des Sichtbaren, Sterblichen hinweist.

Indem wir nun wirklich zu den Höhen einer solchen Naturanschauung emporsteigen, schreiten wir, reinste Luft atmend, in den Betrachtungen dieser unserer „Ausblicke“ fort.

Höhepunkt und Endziel literarisch-künstlerischen Ausdrucks und seine tiefsten Genußquellen für die Menschenseele liegen in der Metaphysik, die die Mysterien der Geisteswelt, der Seele selbst, der Frage nach der ewigen Fortdauer unserer Identität in sich schließt. Zu allen Zeiten war der menschliche Geist auf diese Höhen gerichtet und wird es immer sein. Hier wenigstens stehen wir auf gemeinsamem Boden, welcher Rasse oder Epoche wir auch angehören. Auch der Beifall ist einmütig, handle es sich um Altertum oder Neuzeit. Die Autoren, die auf diesem Gebiet Gutes leisten, werden der Menschheit am liebsten sein, und ihre Werke werden immer geschätzt bleiben, sie mögen ästhetisch noch so unvollkommen sein, — mag auch der äußere Erfolg statt in einem schönen Prozentsatz oder Honorar einfach in dem Lorbeerkranz der Sieger bei den großen Olympischen Spielen bestehen.

Der Gipfel der Literatur und Poesie ist immer die Religion gewesen und wird es immer sein. Die indischen Vedas, die Nackas Zoroasters, der jüdische Talmud, das Alte Testament, das Evangelium Christi und seiner Jünger, Platos Werke, Mohammeds Koran, Snorres Edda und so fort bis auf unsere Zeit, bis auf Swedenborg und die unschätzbaren Schöpfungen von Leibniz, Kant und Hegel, — diese sowie

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solche Dichtungen, worin zwar Menschen und Dinge, die menschlichen Leidenschaften und die Erscheinungen des stofflichen Universums besungen werden, worin aber der religiöse Grundton, das Bewußtsein vom Mystischen, die Anerkennung der Zukunft, des Unbekannten, der göttlichen Allgegenwart und des göttlichen Planes nie fehlt, sondern indirekt allem die Färbung gibt, — solche Werke allein stellen die wirklichen Höhen und Gipfel der Literatur dar und ragen empor wie die großen Berge der Erde.

Wenn wir auf diesem Grunde stehen — dem letzten, höchsten, einzig dauernden Grund — und von da aus alle Werke der literarischen und sonstigen Kunst streng beurteilen, müssen wir jedes prätentiöse Werk — seine ästhetischen oder intellektuellen Feinheiten mögen noch so groß sein — entschieden ablehnen, wenn es die göttliche Zentralidee vom All verletzt oder ignoriert oder auch nur nicht preist, — die Idee, die das Universum durchflutet mit einer ewigen Stufenfolge von Zweck in der, wenn auch noch so langsamen Entwicklung des physischen, moralischen und geistigen Kosmos.

Ich sage, wer dieses einfache Bewußtsein und diesen Glauben nicht in sich aufgenommen hat, der hat vergeblich philosophiert und studiert, wie groß auch seine äußere Bildung sein mag. Dieser Gedanke ist nicht ganz neu, — aber es ist die Aufgabe der Demokratie, ihn auszuführen und dafür zu sorgen, daß er mit entschiedener Konsequenz weiter ausgebaut wird. über den Türen alles Unterrichts muß die Inschrift stehen: „Obschon man wenig oder nichts absolut wissen oder erkennen kann, außer von einem vergänglichen Gesichtspunkte aus, so wissen wir doch ein Dauerndes, nämlich daß Raum und Zeit nach dem Willen Gottes fortlaufende Ketten, Vollendungen materiellen Geburten und Anfänge bilden, allen Widerspruch, Zweifel und Furcht lösen und schließlich Glückseligkeit bringen — und daß die Verkündigung dieser Geburten als der Keime geistiger Früchte den wirklichen Verbindungsbogen spannt über allen Unterricht, alle Wissenschaft.“

Die örtlich bedingten Anschauungen von Sünde, Krankheit, Mißgestalt, Unwissenheit, Tod usw. und ihre Beurteilung durch den oberflächlichen Verstand, durch gewöhnliche Gesetzgebung und Theologie müssen bekämpft werden durch eine Wissenschaft, die jenen Glauben kühn annimmt, verbreitet und den Samen pflanzt

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für höhere Gesetze — für die Erklärung des physischen Universums durch das geistige — und die den Weg bahnt für eine Religion, süß und unanfechtbar gleichermaßen für kleine Kinder wie für große Gelehrte.

Die erhebenden und vergeistigenden Ideen vom Unbekannten und Unwirklichen müssen mit Nachdruck zur Geltung gebracht werden, da sie die legitimen Erben des Bekannten und Wirklichen und mindestens ebenso groß wie ihre Eltern sind. Ohne Furcht vor Spott und vor der prahlerischen Wirklichkeit wollen wir auf unserm Platz und festen Grunde stehen und ihn niemals verlassen und dem wachsenden übermaß und übermut dieser Wirklichkeit die Stirn bieten. Dem zur Zeit triumphierenden Schrei der Sinnenwelt, der Wissenschaft, des Fleisches, — dem Schrei, der die Herrlichkeiten von Reichtum, Handel und Landwirtschaft, von Logik, Intellekt und Beweisführung, von unvergänglichen Werken, Bauten aus Stein und Eisen oder selbst die wundervolle Wirklichkeit von Bäumen, Erde, Felsen usw. verkündet, — fürchtet euch nicht, meine Brüder und Schwestern, diesem Schrei mit ebenso zuversichtlicher Stimme die überzeugung entgegenzurufen, die im tiefsten Innern jeder erleuchteten Seele lebt: „Ihr alle seid nichts als Illusionen! Erscheinungen! Träume!“ — Sicherlich dürfen wir die Wirklichkeit nicht verdammen oder völlig leugnen, da der in ihr liegende Sinn unerläßlich ist; aber wie klar erkennen wir, daß sie durch die Seele hindurch auf ein Ziel hin wandert, das wir von höheren, geistigen Gesichtspunkten aus bereits wahrnehmen können; und daß sie, so greifbar sie unter gegenwärtigen Verhältnissen erscheinen mag, mit allem, was zu ihr gehört, vielleicht, nein sicherlich versinken und verschwinden wird.

Ich grüße mit Freuden die ozeangleiche, vielfältige, hochgespannte praktische Energie, das Verlangen nach Tatsachen und selbst den Geschäftsmaterialismus unseres Zeitalters, unserer Staaten. Aber wehe dem Zeitalter oder Lande, in dem diese Dinge und Entwicklungen bei sich selber haltmachen und nicht nach Idee streben. Wie Brennstoff in die Flamme und Flamme in den Himmel vergeht, so muß Wohlstand, Wissenschaft, Materialismus, — ja auch diese Demokratie, auf die wir uns so viel zugute tun, — unfehlbar aufgehen in die höchste Geistigkeit, die Seele. Unendlicher Flug! Unergründliches Geheimnis! Der Mensch, so winzig, schwillt über

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das wahrnehmnbare Universum hinaus und überwindet und überwölbt Raum und Zeit, wenn we auch nur über eine große Idee nachsinnt. So, und nur so, vermag ein menschliches Wesen, sein Geist, über die objektive Natur sich zu erheben und sie zu rechtfertigen, sie, die vielleicht an sich ein bloßes Nichts, aber hierin über alles Verstehen und in göttlichem Sinne dienlich, unentbehrlich und wichtig ist. Und wie der Sinn der objektiven Natur zweifellos irgendwie hierin gefaltet und verborgen liegt, — und wie irgendwie hierin der Daseinszweck dieses Erdballs und seiner mannigfachen Formen und des Tageslichts und der Finsternis der Nacht liegt, — so muß auch der große Schriftsteller, und vor allem der Dichter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines Blutes holen. Dann mögen wir zu einer Dichtung gelangen, die der unsterblichen Seele des Menschen würdig sein wird; die alle aufnehmen und dennoch, über all das hinaus, mittelbar und unmittelbar einen befreienden, lösenden, erweiternden, religiösen Charakter haben wird, — so muß auch der große Schriftsteller, und vor allem der Dichter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines Blutes holen. Dann mögen wir zu einer Dichtung gelangen, die der unsterblichen Seele des Menschen würdig sein wird; die alle Materie und alle Schau der Natur in ihrem eigenen Sinne in sich aufnehmen und dennoch, über all das hinaus, mittelbar und unmittelbar einen befreienden, lösenden, erweiternden, religiösen Charakter haben wird, — eine Dichtung, die mit der Wissenschaft frohlocken, die moralischen Kräfte befruchten und das Trachten nach dem Unbekannten und die geistige Versenkung in das Unbekannte beleben wird . . .

„Die wesentliche Frage“, sagte der Bibliothekar des Kongresses in einem Vortrag vor der sozialwissenschaftlichen Vereinigung in New York, Oktober 1869, „die wesentliche Frage bei der Beurteilung eines Buches ist: Hat es irgendeiner Menschenseele geholfen?— Darin liegt der Prüfstein nicht nur für jeden großen Schriftsteller und sein Buch, sondern für jeden großen Künstler. Mag sein, daß alle Kunstwerke in erster Linie nach ihren künstlerischen Qualitäten beurteilt werden müssen, nach ihrer Gestaltungskraft, ihren dramatischen oder malerischen Fähigkeiten, ihrer Kunst, eine Handlung zu schürzen, oder ihrem Wohllaut usw. Aber wenn sie den Anspruch erheben, Werke ersten Ranges zu sein, so müssen sie streng und scharf danach beurteilt werden, ob sie, im höchsten Sinn und immer nur mittelbar, in den ethischen Prinzipien wurzeln und deren Ausstrahlung sind, und ob sie die Kraft haben, zu befreien, zu erheben, zu erweitern.

Gleichwie im Wirken des Kosmos eine sittliche Tendenz lebt, eine sichtbare oder unsichtbare, allem zugrunde liegende Absicht,

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deren Ergebnis und Rechtfertigung wir geduldig abwarten müssen und die alle Meteorologie, alle Fülle der Erscheinungen in Mineral-, Pflanzenund Tierreich belebt, — all das physische Wachstum und Werden des Menschen und die gesamte Geschichte der Rassen in Politik, Religion, Krieg usw., — so auch in dem Werk, in der Fülle der Werke des größten Schriftstellers. Dies ist der letzte, tiefste Maßstab und Prüfstein einer literarischen oder künstlerischen Leistung ersten Ranges, der, wenn richtig verstanden und angewendet, sicherlich zu Werken und Büchern führen muß, edler als alle bisher bekannten. Sieh auf die Natur (dieses einzige vollkommene, wirkliche Gedicht), die so gelassen inmitten des göttlichen Planes ruht, allumfassend, zufrieden, unbekümmert um alle Eintagskritik und alle die endlosen, wortreichen Schwätzer. Und höre auf das Bewußtsein der Seele, die ewige Identität, den Gedanken, das Etwas, vor dem selbst die Bedeutung von Demokratie, Kunst, Literatur usw. zusammenschrumpft und partiell und meßbar wird, — das Etwas, das vollkommen befriedigt (was jene nicht tun). Dieses Etwas ist das All und das Bewußtsein des Alls, zugleich mit dem Bewußtsein der Seele von sich selbst, die, immerdar unzerstörbar, fröhlich obenauf durch den Raum segelt zu allen Bereichen hin wie ein Schiff auf See. Und nochmals höre auf den Herzschlag in aller Materie und allem Geist, wie er unablässig klopft, — die ewigen Pulsschläge, die ewige Systole und Diastole des Lebens in den Dingen, — daran ich fühle und erkenne, daß Tod nicht, wie man glaubte, das Ende ist, sondern der wahre Anfang, — und daß nichts je verloren gegangen ist oder verloren gehen und sterben kann, weder Seele noch Stoff.

In der Zukunft dieser Staaten müssen unermeßlich größere Dichter erstehen, die die großen Gedichte des Todes schaffen. Die Gedichte des Lebens sind groß, aber wir brauchen die Gedichte vom Zweck des Lebens nicht nur in ihm selbst, sondern über es hinaus. Ich habe Homer gepriesen, die heiligen Sänger des Judentums, äschylus, Juvenal, Shakespeare usw. und ihren unschätzbaren Wert anerkannt. Aber ich sage (vielleicht mir Ausnahme der zweitgenannten, in mancher, nicht jeder Hinsicht): es müssen, für die Zwecke der Zukunft und der Demokratie, Dichter erscheinen (wage ich es auszusprechen?) von höherem Rang als jene alle, — Dichter, die nicht nur von der religiösen Glut und Hingabe Jesaias erfüllt sind oder

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von dem Reichtum des epischen Talents Homers oder der stolzen Charaktere Shakespeares, sondern die auch mit den Prinzipien der Philosophie Hegels und mit moderner Wissenschaft in Einklang stehen. Amerika und die Welt braucht ein Geschlecht von Sängern, die jetzt und immerdar das nationale physische Sein des Menschen mit der Gesamtheit von Zeit und Raum, mit der vielfältigen Erscheinungsfülle der Natur, die ihn umgibt und ihn ewig beunruhigt, da sie zugleich ein Teil von ihm und doch kein Teil von ihm ist, so verknüpfen und in Einklang bringen, daß sie ihn mit völliger Harmonie, Befriedigung und Ruhe erfüllen.

Uralter Glaube, den die Wissenschaft jetzt verscheucht hat, muß wiederhergestellt, durch dieselbe Macht, die sein Schwinden verursachte, wiedergebracht werden — wiederhergestellt zu neuem Schwung, tiefer, weiter, höher als je. Wahrlich, diese allgemeine Blasiertheit, diese feige ängstlichkeit, dieses Schaudern vor dem Tode, diese niedrigen, entwürdigenden Anschauungen dürfen den Geist, der die zukünftige Gesellschaft durchdringen soll, nicht auf immer beherrschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war und jetzt ist. Was der Römer Lukretius in edelster Absicht, aber allzu blindlings für seine und die folgende Zeit negativ zu tun versuchte, muß positiv von einem großen, künftigen Schriftsteller, besonders Dichter geleistet werden, der, immer ganz Dichter bleibend, dennoch zugleich alle Erkenntnisse der Wissenschaft in seine Geistigkeit aufnehmen und aus beiden Elementen und seinem eigenen Genius heraus das große Gedicht vom Tode schaffen wird. Dann wird der Mensch in Wahrheit der Natur und Raum und Zeit wissenschaftlich und liebend zugleich gegenübertreten und seinen richtigen Platz einnehmen, gerüstet fürs Leben, Herr über Glück und Unglück. Und dann wird das lang Ersehnte erfüllt sein und das Schiff einen Anker haben, der ihm auf all seinen früheren Fahrten gefehlt hat.

Noch andere Normen und Weisungen gibt es für die Werke großer Schriftsteller. Das, was in Wahrheit die soziale und politische Welt im Gleichgewicht erhält, ist nicht so sehr Gesetzgebung, Polizei, Verträge und Furcht vor Strafe, sondern der heimliche, ewige, intuitive Sinn der Menschheit für Redlichkeit, Männlichkeit, Anstand usf. Diese beständige Regulierung, Kontrolle und Aufsicht auf dem Wege der Selbsthilfe ist in der Tat die conditio sine qua non der Demokratie; und eines der höchsten und wichtigsten Ziele

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demokratischer Literatur wäre es, diesen Sinn in Individuen und Gesellschaft zu entwickeln, zu pflegen und zu stärken. Eine starke Meisterschaft des überlegenen Ich über die schwächere Allgemeinheit muß durch die Schriftsteller unterstützt und sichergestellt werden, wenn auch nur indirekt dadurch, daß er in seinen Werken für die demokratischen Individualitäten sowohl wie für die demokratische Gemeinschaft das Vorbild erhabener, leidenschaftlicher Körperlichkeit und in und mit ihr das eines erhabenen, gebieterischen Geistes schafft.

Ich gehe noch weiter und blicke — für alle Fälle — der Tatsache in die Augen, daß die Vereinigten Staaten machtvolle einheimische Philosophen, Redner und Dichter brauchen werden als zusammenhaltende Kräfte in kommenden Zeiten der Gefahr, zum Schutz gegen Zerstörung und Zerfall. Denn die Geschichte ist lang, lang, lang. Man mag die Möglichkeiten drehen und wenden wie man will, das Problem der Zukunft Amerikas ist in gewissen Beziehungen ebenso dunkel wie umfangreich. Stolz, Wettbewerb, Sonderinteressen, frevelhafter Eigensinn und beispiellose Willkür brüten schon über uns. Wer soll das schwerfällige Ungeheuer — wer soll Behemoth aufhalten? wer Leviathan zügeln? — Wir mögen es bemänteln, wie wir wollen, quer über den Wegen unseres Fortschrittes erhebt sich riesig und dämmerig die Ungewißheit und furchtbares, drohendes Dunkel. Es ist zwecklos, es zu leugnen: die Demokratie treibt in geiler Fülle die dichtesten, tödlichsten Giftpflanzen und -früchte von allen, lockt immer schlimmere und schlimmere Eindringlinge herbei — und braucht neuere, reichere, stärkere, kühnere Verteidiger und Bezwinger. Unsere Länder, die so viel umfassen (die in der Tat alle aufnehmen und keinen zurückweisen), tragen in ihrer Brust auch die Flamme, die fähig ist, sie selber zu verzehren und uns alle. So kurz auch die Spanne unseres nationalen Daseins erst ist, so sind doch schon Tod und Niedergang bis in dichteste Nähe über uns gekommen, und werden wiederum kommen, ohne Zweifel, wenn sie auch jetzt abgewehrt sind. Künftige Geschlechter werden vielleicht nie wissen, aber ich weiß, mit wie knapper Not im verflossenen Sezessionskrieg unsere Nationaleinheit (in der, wie in einem Schiff im Sturm, all unser bestes Sein, Hoffen und Können auf Gedeih oder Verderb verfrachtet war und noch verfrachtet ist) mehr als einmal und mehr als zweiund

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dreimal just um ein Haar der Vernichtung entging. Ach, daran zu denken! an die Todesangst und den blutigen Schweiß mancher dieser Stunden! an diese grausamen, scharfen, hangenden [sic] Entscheidungsstunden!

Und heute? wo es inmitten dieser Wirbelstürme von unglaublicher Schwätzerei, blinder Parteiwut, Unglauben völlig an Kapitänen und Führern ersten Ranges fehlt, bei höchster Gemeinheit und Niedrigkeit der sich an der Oberfläche breitmachenden Massen, und o jenes furchtbare Problem, die Arbeiterfrage, sich wie eine gähnende Kluft zu öffnen beginnt, die mit jedem Jahr zusehends weiter wird — was für Aussichten haben wir da? Wir segeln auf einer gefährlichen See voll kochender, sich kreuzender Ströme und Unterströme und Strudel — alle so finster und unerprobt — und wohin sollen wir wenden? Es ist, als hätte der Allmächtige vor diese Nation Seekarten gebreitet, um ihr die Wege zu weisen zu einem Herrscherschicksal, strahlend wie die Sonne, aber voll tiefer innerer Schwierigkeiten und schwärender Leiden menschlicher Unvollkommenheit — als wollte er sagen: Hab acht! die einzigen Wege, die dich zur Entwicklung führen, sind lang, voll mannigfacher furchtbarer Hindernisse und Stürme! — Ihr spracht, o Länder Amerikas, in eurer Seele zu euch: Wir wollen das Reich aller Reiche sein, wir wollen eine neue Geschichte machen, eine Geschichte der Demokratie, neben der die alte Geschichte zwergenhaft erscheinen soll — , wir allein wollen der Beginn von etwas viel Umfassenderem und die Krönung unserer Zeit sein. Wenn das, ihr Länder Amerikas, der Entschluß eurer Seele ist und der Preis, um den ihr ringt, dann sei es so! Aber bedenkt, was es euch kosten wird und schon jetzt kostet. Glaubtet ihr, daß Größe für euch reifen würde wie eine Birne? Wollt ihr Größe erlangen, so wisset, daß ihr sie erobern müßt durch Generationen und Jahrhunderte hindurch — daß ihr dafür bezahlen müßt mit einem entsprechenden Preis. Auch euer wie aller Länder Teil ist Kampf und Verrat, Unehrlichkeit der ämter, innerlich fauler Wohlstand, übersättigung im Reichtum, der Dämon der Gier, die Hölle der Leidenschaft, Verfall des Glaubens, ermüdender Aufschub, versteinerte

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Trägheit, immer neue, unvermeidliche Revolutionen, Heilsverkünder, Gewitter, Tode und Geburten, immer neuer Aufschwung zu immer stärkeren Ideen und Menschen.

Und dennoch — versunken in das dunkel-verworrene Rätsel unserer Zukunft, dessen langwierige Lösung sich geheimnisvoll durch die Zeiten erstreckt — habe ich von einer kleinen oder vielleicht schon größeren Schar geträumt, ja sie bereits in Andeutungen geschildert — eine Schar von Tapferen und Wahrhaftigen, wie die Welt sie noch nicht sah — voll gewappnet und gerüstet — vielleicht getrennt durch verschiedene Zeiten und Staaten, im Süden, Norden, Osten oder Westen — an der pazifischen oder atlantischen Küste, in den Südstaaten oder in Kanada — in dem einen Jahr oder Jahrhundert hier, in anderen Jahrhunderten dort — aber immer in Einheit, in seelischer Geschlossenheit, mit wachem Gewissen und Gott-Bewußtsein, erleuchtete Vollbringer, nicht nur in der Literatur, der größten Kunst, sondern in jeder Kunst — ein neuer unsterblicher Orden, eine neue Dynastie, von Generation zu Generation überliefert — eine Schar, eine Klasse, mindestens ebenso fähig, sich mit den Gefahren und Nöten unserer Zeit zu messen, wie jene, die zu ihrer Zeit so lange und erfolgreich in Harnisch oder Kutte die feudale oder priesterliche Welt aufrechthielten und ruhmvoll machten. Im Gegensatz zum Rittertum und all den geschwundenen, zahllosen höfischen Helden, alten Altären, Abteien, Priestern vergangener Geschlechter und Reihen von Geschlechtern ruft heute eine viel ritterlichere und heiligere Sache in einer Neuen Welt zu größerer, erhabenerer Tat, die sie auch vollbringen wird, und die mehr sein wird als das bloße Widerspiel oder Seitenstück dazu.

Nachdem wir nun endgültig auf einem Höhepunkt deiser „Ausblicke“ angelangt sind, gestehe ich, daß die Verkündigung einer solchen Klasse und Institution — eines neuen und größeren Ordens der Literatur — und der Glaube an sie und ihre Möglichkeit (nein, Gewißheit) all diesen Spekulationen zugrunde liegt, und daß alles übrige, all ihre andern Teile, darauf aufgebaut und gegründet sind. Die Schöpfung einer solchen Institution erscheint mir in der Tat als die Vorbedingung nicht nur für unsere künftige nationale und demokratische Entwicklung, sondern überhaupt für unsern dauernden Bestand. Die höchst verkünstelten, materialistischen Grundlagen der modernen Zivilisation mit ihren entsprechenden

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Lebenseinrichtungen und -methoden, mit ihrer übermäßigen Geltung boßen [sic] Intellekts, mit den verderblichen Einflüssen von Reichtum sowohl wie Armut und dem Fehlen aller hohen Charakterideale, — mit all der Fülle von Tendenzen und Lebensformen, denen zu widerstehen nur wenige stark genug sind und die jetzt mit maschinenhafter Geschwindigkeit die Menschengeschlechter nur noch einförmig wie gußeißerne [sic] Ware auszuformen scheinen, — und die wir doch alles in allem, im Vergleich zum feudalen Zeitalter, schließlich hinnehmen und willkommen heißen müssen und aus denen wir das Beste machen müssen um ihrer ozeangleichen realen Großartigkeit willen und weil sie die Massen im großen und ganzen unwiderstehlich durchkneten, — ich sage, all diese furchtbare Herrschaft lediglich materialistischer Einflüsse auf das jetzige Leben der Vereinigten Staaten mit all ihren bereits sichtbaren Ergebnissen, die sich immer mehr häufen und weit in die Zukunft hinein wirken, — all das muß entweder durch mindestens ebenso subtile und mächtige Einflüsse wettgemacht werden, die auf Vergeistigung, reines Gewissen, echtes Schönheitsgefühl und unabhängige, erstlingsfrische Mannheit und Weibheit abzielen; — oder aber unsere moderne Zivilisation mit all ihren Errungenschaften ist umsonst, und wir sind auf dem Wege zu einem Schicksal, einem Zustand, der, in dieser ihrer realen Welt, dem der Verdammten des Fabelreichs gleicht.

Wenn wir so auf die kommenden, in aller Gelassenheit nahenden Zeiten blicken und auf diesen neuen Orden, der in ihnen erwachsen soll, und auf die endlose Kette von Heranbildung, Entwicklung, Entfaltung in Nation und Mensch, die der Sinn des Lebens ist, so sehen wir, in Vorzeichen, inmitten dieser Ausblicke und Hoffnungen, neue gesetzschaffende Kräfte gesprochener und geschriebener Sprache, — nicht nur pädagogische Formen, korrekt, regelrecht, in aller überlieferung bewandert, geschaffen für äußere Richtigkeit, schöne Worte, endgültig geprägte Gedanken, — sondern eine Sprache, die umweht ist vom Hauch der Natur, die Sprünge macht kopfüber, der es vor allem auf Impuls und Wirkung ankommt und auf das Wachstum dessen, was sie pflanzen und zu starker Entwicklung bringen will, — die mit Leben und Charakter wetteifert und die Dinge nicht so sehr ausspricht, als andeutet und zu ihnen hinzwingt. In der Tat, eine neue Theorie literarischen Schaffens

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für höchste Werke der Einbildungskraft, besonders für höchste Dichtung, ist der einzige Weg, der den Vereinigten Staaten offen ist. Bücher müssen verlangt und beschafft werden von der Voraussetzung aus, daß Lesen kein Halbschlaf ist, sondern im höchsten Sinn eine Geistesübung, ein gymnastisches Ringen; daß der Leser selbst etwas dabei tun muß, daß er wachsam sein muß, daß er oder sie in der Tat selbst das Gedicht, die Beweisführung, die Geschichte, den metaphysischen Essay mit aufbauen muß und der Text nur die Andeutungen, den Schlüssel, den Ausgangspunkt oder das Gerippe gibt. Nicht so sehr das Buch muß komplett sein, sondern der Leser. Auf solche Weise könnte eine Nation geschmeidiger und athletischer Geister sich bilden, wohl trainiert, intuitiv, gewöhnt, sich auf sich selber zu verlassen und nicht auf ein paar Koterien von Schriftstellern.

Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, so sehen wir, nicht daß alle unsere ererbten Bibliotheken, all die zahllosen Bücher in Schränken, alle die Urkunden usw. etwas Geringes sind, — sondern wie groß die Gefahr ist, sich ganz von ihnen abhängig zu machen, von den Adern ohne Blut, den Muskeln ohne Nerv, der falschen Anwendung aus zweiter und dritter Hand. Wir sehen, daß das wahre Interesse dieses unseres Volkes an der Theologie, Geschichte, Dichtung, Politik und den persönlichen Vorbildern der Vergangenheit (der britischen Inseln zum Beispiel, aber überhaupt der gesamten Vergangenheit) nicht notwendig darin liegt, uns selbst oder unsere Literatur nach ihnen zu modeln, sondern uns mit ihnen, als mit etwas Abgeschlossenem, Gültigerem, zu vergleichen, ihre Warnungen zu hören und durch sie einen Einblick in uns selbst, in unsere eigene Gegenwart und unsere viel größere, andersartige Geschichte, Religion und Gesellschaftsform der Zukunft zu gewinnen. Wir sehen, daß fast alles, was bisher mit bezug auf die Menschheit unter der Herrschaft der feudalen und östlichen Institutionen und Religionen und für andere Länder geschrieben, gesungen oder festgestellt werden muß in Ausdrucksformen, die der Institution dieser unserer Staaten entsprechen und sich ihr gehorsam einfügen und anpassen.

Gleichwie im physischen Kosmos nach meteorologischen, pflanzlichen und tierischen Zeitaltern zuletzt der Mensch sich erhebt,

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der aus ihnen geboren ist und bestimmt, sie zu erproben, in sich zu konzentrieren, mit Staunen und Liebe auf sie zu blicken, über sie zu herrschen, sie zu krönen und sie in höhere Reiche emporzutragen, — so sehen wir auch aus den sozialen und politischen Zeitaltern der Vergangenheit jetzt diese Staaten sich erheben. Wir sehen, daß nicht, wie viele meinten, alles bereits erreicht und vollendet ist, sondern daß in Wahrheit das Größte immer noch zu tun bleibt, und wir entdecken, daß das Werk der Neuen Welt nicht beendigt, sondern nur eben erst begonnen ist.

Wir sehen unser Land, Amerika und seine Literatur, ästhetik usf. im wesentlichen an als die werdende Ausdrucksform oder als die breiteste Offenbarung der tiefsten Grundelemente und der höchsten Endziele der Geschichte und des Menschen — als die Bildnerin unserer eigensten Physiognomie (nach den ewigen Gesetzen und Bedingungen der Schönheit), die subjektive Bindung und den Ausdruck des Objektiven, hervorgehend aus unserer besonderen Zusammensetzung, überlieferung und Anschauung — und als Niederschlag und Zusammenfassung der nationalen Mentalität, Charaktereigenart, Berufung, der nationalen Heldentaten, Kämpfe und Freiheiten — wo alles das in einer einheimischen literarischen und künstlerischen Formulierung seinen höchsten Ausdruck findet, der unsere Nation davor bewahren wird, ziellos herumzutappen und all ihre materielle Größe, so imposant und gewaltig sie ist, nach flüchtigem Glanze schwinden zu sehen, sondern der Amerika dazu verhelfen wird, sich selbst zu verstehen, hochherzig zu leben und aus seiner Fülle zu spenden und eine vollgestaltete Welt zu werden, die, sicher in sich selber ruhend, erleuchtet und erleuchtend, ihre Bahn durchläuft, — göttliche Mutter nicht allein körperlicher, sondern geistiger anderer Welten, in endloser Nachfolge durch die Zeiten — gegründet immer auf das eine, Wesentliche: den Durchschnitt, das leibhaftig konkrete, demokratische Volkstümliche, auf dem aller Aufbau der Zukunft für alle Zeiten ruhen muß.



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TAGEBUCH 1862–1864


An der Front


Beginne mit meinen Besuchen in den Feldlazaretten der Potomac-Armee. Verbringe einen großen Teil des Tages in einem geräumigen Backsteingebäude am Ufer des Rappahannock, das seit der Schlacht* als Lazarett dient; scheint, daß nur die am schwersten Verwundeten hier aufgenommen sind. Draußen unter einem Baum, zehn Schritt von der Front des Hauses, bemerke ich einen Haufen amputierter Füße, Beine, Arme, Hände usw., eine volle Ladung für einen einspännigen Karren. Mehrere Tote liegen dabei, jeder mit seiner braunwollenen Decke zugedeckt. Im Hof, gegen den Fluß hinab, sind frische Gräber, meistens von Offizieren; die Namen auf Faßdauben oder Holzlatten, die in den schmutzigen Boden gesteckt sind. (Die meisten dieser Leichen wurden später ausgegraben und zu ihren Angehörigen nach Norden geschafft.) Das große Gebäude ist im unteren und oberen Stockwerk gedrängt voll; alles improvisiert, kein System, alles ziemlich schlecht, aber zweifellos so gut, als es sich eben machen läßt; alle Wunden sehr schwer, einige furchtbar; die Leute noch in ihren vertragenen Uniformen, schmutzig und blutig. Unter den Verwundeten sind auch gefangene Rebellen, Soldaten und Offiziere. Mit einem von ihnen, einem Mississippier, einem Hauptmann, der einen bösen Schuß im Bein hatte, unterhielt ich mit eine Zeitlang; er bat mich um Zeitungen, die ich ihm gab. (Ich sah ihn ein Vierteljahr nachher in Washington; das

*Bei Fredericksburg. (Anmerkung des übersetzers.)



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Bein war amputiert; sonst ging es ihm gut.) Ich ging durch die unteren und oberen Zimmer. Einige von den Leuten lagen im Sterben. Ich hatte bei diesem Besuch nichts zu verschenken, sondern schrieb nur im Auftrag der Verwundeten ein paar Briefe an Verwandte zu Hause, Mütter usw. Sprach auch mit dreien oder vieren, die am empfänglichsten schienen und es nötig hatten.

Die Folgen der letzten Schlacht sind hierherum überall wahrzunehmen, an Tausenden von Fällen (Hunderte sterben täglich) in den Feld-, Brigadeund Divisionslazaretten. Das sind nur Zelte, und zwar zum Teil sehr ärmliche. Die Verwundeten liegen am Boden, glücklich, wenn ihre Decken auf Schichten von Tannenoder Fichtenzweigen oder kleinen Blättern ausgebreitet sind. Keine Betten; selten auch nur eine Matratze. Es ist ziehmlich kalt. Der Boden ist hart gefroren und es schneit mitunter. Ich gehe von einem zum andern. Ich weiß nicht, ob ich diesen Verwundeten und Sterbenden viel helfe; aber ich kann sie nicht verlassen. Dann und wann hält sich ein junger Mensch krampfhaft an mir fest, und ich tue für ihn, was ich kann; auf jeden Fall bleibe ich bei ihm und sitze stundenlang neben ihm, wenn er es haben will.

Da liegen sie auf einem freien Platz im Walde, zweibis dreihundert arme Kerls — das ächzen und Schreien — der Blutgeruch vermischt mit dem Duft der Nacht, des Grases, der Bäume — dieses Schlachthaus! Oh, gut ist es, daß ihre Mütter, ihre Schwestern sie nicht sehen können, — daß sie sich das nicht vorstellen können, nie vorgestellt haben. Ein Mann ist von einem Granatsplitter getroffen, ins Bein und in einen Arm — beide sind amputiert — da liegen die abgetrennten Glieder. Andern sind die Beine abgeschossen — andere haben Kugeln in der Brust — andere unbeschreiblich fürchterliche Wunden im Gesicht oder im Kopf, alle verstümmelt, ekelerregend, zerfleischt, aufgerissen, — manche im Unterleib — manche sind noch Knaben — viele Rebellen dabei, schwer verletzt — die Reihe kommt an sie wie an die übrigen — die ärzte behandeln sie gerade so. So sieht es im Verwundetenlager aus — ein Fragment, ein entfernter Widerschein der blutigen Szene — während über das Ganze der klare große Mond hin und wieder sein weiches, ruhiges Licht ausgießt. Mitten im Walde diese Szene

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fliehender Seelen — under dem Knattern und Krachen und gellenden Geschrei — der leise Duft des Waldes — und doch der beißende, erstickende Rauch — der Glanz des Mondes, der immer wieder so friedlich vom Himmel herabblickt — das Gewölbe so himmlisch — das Helldunkel dort oben, diese schwimmenden oberen Meere — einige große, friedliche Sterne dahinter, die schweigend und gelassen hervorkommen und dann verschwinden — die melancholische, verhängte Nacht droben und ringsumher. Und dort, auf den Wegen, den Feldern und in den Wäldern dieser Kampf — niemals und nirgends ein so erbitterter — beide Parteien jetzt in voller Wucht — Massen — kein Scheingefecht, kein halbes Spiel, sondern grimmige, wilde Dämonen kämpfen hier — Tapferkeit und Todesverachtung die Regel, Ausnahmen so gut wie keine.

Welche Geschichte kann je — denn wer weiß alles — das wütend entschlossene Ringen der Armeen in all ihren einzelnen großen und kleinen Abteilungen darstellen — wo, wie hier, jede von Kopf bis Fuß in verzweifelten, tödlichen Willen getaucht ist? Wer weiß etwas von den Nahkämpfen, von den vielen Kämpfen im Dunkeln, in diesen schattenverwobenen, mondstrahlendurchblitzten Wäldern — die hin und her wogenden Gruppen und Rotten — das Schreien, der Lärm, das Knattern der Gewehre und Pistolen — der ferne Kanonendonner — Hurrarufen, Schreie, Drohungen und die schreckliche Musik der Flüche — das unbeschreibliche Durcheinander — Befehle, Ansporn und Zuspruch der Offiziere — alle Teufel im menschlichen Herzen losgelassen — der starke Ruf: „Vorwärts, Leute! Vorwärts!“ — das Blitzen des bloßen Säbels und Gewühl von Flammen und Qualm? Und noch immer der klare, wolkenumzogene Himmel und noch immer wieder das Mondlicht, das silbrig weich seine strahlenden Lichtflecken über alles gießt. Wer will die Szene malen, die plötzliche teilweise Panik am Nachmittag in der Dämmerung? Wer den unwiderstehlichen Vormarsch der zweiten, plötzlich herbefohlenen Division des dritten Korps unter Hooker selbst — diese rasch aufrückenden Phantome durch die Wälder hin? Wer zeigt, was sich da im Schatten heranbewegt, fließend und fest — die Ehre der Armee, vielleicht der Nation zu retten? — Und es war die Rettung. Dort behaupten die Veteranen das Feld.



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Ungenannt bleibt der tapferste Soldat

Wer schreibt, sage ich, wer kann die Geschichte solcher Szenen schreiben? Wer erzählt von den vielen Dutzenden — nein Tausenden ungenannter Helden aus Norden und Süden, unbekannten Heldentaten, unglaublicher, spontaner, äußerster Verzweiflungskraft? Keine Geschichte, kein Gedicht verherrlicht, kein Lied besingt diese Tapfersten von allen — diese Taten. Kein offizieller Generalstabsbericht, kein Bibliothekbuch, keine Zeitungsspalte weiht dem Tapfersten aus Nord oder Süd, Ost oder West den Nachruf. Ungenannt, unbekannt bleiben für immer die tapfersten Soldaten. Unsere Männlichsten — unsere Jungen — unsere kühnen Lieblinge: in keinem Bilde leben sie fort. Ihr Urbild (ohne Zweifel gibt es Hunderte, Tausende wie er) kriecht vielleicht zur Seite unter einen Strauch oder Farrenbusch, zu Tode getroffen — sucht dort Obdach für kurze Zeit — tränkt Wurzeln, Gras und Boden mit rotem Blut — die Schlacht rückt vor, kehrt wieder, huscht von der Szene, fegt vorbei — und dort, vielleicht unter Schmerz und Qual (doch geringer, weit geringer als man denkt) windet sich die letzte Lethargie wie eine Schlange um ihn — die Augen verglasen im Tod — niemand kümmert sich darum — vielleicht lassen eine Woche später bei Waffenruhe die Begräbniskommandos den abgelegenen Platz undurchsucht — und dort zerfällt endlich der tapferste Soldat zu Erde, unbegraben und unbekannt.


Meine Vorbereitung für Besuche

Bei meinen Besuchen in den Lazaretten habe ich gefunden, daß ich durch die bloße Tatsache meiner persönlichen Gegenwart, durch die Ausströmung von einfachem Frohsinn und Magnetismus mehr Erfolg hatte und nützte als durch ärztliche Pflege oder Leckerbissen oder Geldgeschenke oder irgend etwas anderes. Während des Krieges besaß ich vollkommene körperliche Gesundheit. Es war meine Gewohnheit, wenn es sich machen ließ, mich auf jeden meiner täglichen oder nächtlichen Rundgänge, die zwei bis vier oder fünf Stunden dauerten, dadurch vorzubereiten, daß ich mich zuvor durch Ruhe, Baden, frische Kleidung, eine gute Mahlzeit und ein möglichst heiteres Aussehen stärkte.



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Aus einem Bericht im „Brooklyn Eagle“, 19. März 1863

So werde ich besser vertraut mit den einzelnen Fällen und lerne jeden Tag einen besonderen, interessanten Charakter kennen und komme in ein vertrautes und oft zärtliches Verhältnis zu edlen jungen amerikanischen Männern; und dann erst beginnt das eigentliche Gute, das man tun kann. Und dann erst, das gestehe ich egoistischerweise, bin ich so recht in meinem Element. Selbst vom ärztlichen Standpunkt aus ist das von größter Bedeutung; ich kann bezeugen, daß Freundschaft buchstäblich ein Fieber und die Arznei täglicher Zärtlichkeit eine schlimme Wunde geheilt hat. In dem, was ich sage, liegt das letzte Geheimnis einer erfolgreichen Tätigkeit als Krankenpfleger unserer Soldaten, und ich spreche es aus für die, die es verstehen können.


Liebste Mutter!

Ich habe die letzten Tage bis gestern Abend mit einem ziehmlichen Anfall von Halskatarrh und Kopfweh zu tun gehabt; aber heute fühle ich mich beinahe wieder ganz wohl. Ich war fast wie sonst in der Stadt — in den Lazaretten usw. meine ich. Man sagt mir, daß ich mich zu viel an den Krankenbetten aufhalte, bei Fieberkranken, eiternden Wunden usw. Einen Soldaten, der schwer typhuskrank vor etwa vierzehn Tagen hierhergebracht wurde, habe ich in meine ganz besondere Obhut genommen, da ich ihn in einem Zustand fand, der nahe am Sterben war, infolge von Vernachlässigung und einer furchtbaren Reise von vierzig Meilen, schlechten Wegen und schnellem Fahren; und dann wurde er, als er hierher kam, ebenfalls vernachlässigt, da er ein einfacher Junge vom Lande ist, sehr scheu und schweigsam und sich nie beklagte. Ich machte den Arzt auf ihn aufmerksam, setzte die Pflegerinnen in Bewegung, leiß ihn mit Spiritus waschen, gab ihm Stücke Eis zu schlucken und Eis auf den Kopf . . . Er war sehr ruhig, ein sehr vernünftiger Mensch, altmodisch; er wollte nicht sterben, und ich mußte ihn fortwährend belügen, denn er glaubte, ich wisse alles. Und ich tat natürlich, als ob ich ihm stets die volle Wahrheit sagte und es ihm mitteilen und nicht verheimlichen würde, wenn es einmal gefährlich um ihn stehen sollte. Schwer Fieberkranke werden in der Regel

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aus den allgemeinen Sälen in eine besondere Baracke geschafft, und wie mir der Arzt sagte, sollte er auch dorthin gebracht werden. Ich brachte es ihm schonend bei, aber der arme Junge bildete sich sofort ein, daß er als hoffnungslos aufgegeben sei und deshalb dorthin gebracht werde. Dieser Gedanke erschütterte ihn; und obwohl ich ihm diesmal die Wahrheit sagte, hatte ich damit weniger Erfolg als vorher mit meinem Flunkern. Ich überredete den Arzt, ihn dazulassen. Drei Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod, eher noch näher dem Tode. Um es aber endlich kurz zu machen, liebe Mutter, er ist jetzt über die größte Gefahr hinaus. Die ganze Zeit über war er bei vollem Bewußtsein. — Jetzt beginnt er ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen (eine Woche lang aß er nichts; ich mußte ihn zwingen, dann und wann eine Viertel-Orange zu nehmen), und, mag man es nun Anmaßung nennen oder nicht, ich möchte sagen, daß, wenn er wieder aufkommt und gesund wird, ich ihm das Leben gerettet habe.

Mutter, wie ich Dir schon schrieb, Du kannst Dir keine Vorstellung davon machen, wie diese kranken und sterbenden Jünglinge sich an einen anschließen und wie bezaubernd das ist, trotz all dem Traurigen, trotz Schrecken und Tod, die einen hier umgeben. In diesem selben Lazarett, wo dieser Kavallerist liegt, habe ich noch etwa fünfzehn oder zwanzig Fälle, um die ich mich besonders kümmere und zum Teil nicht weniger als um ihn. Es sind zwei von East Brooklyn da . . . Beide sind ziehmlich schwer verwundet, beides Jünglinge unter neunzehn Jahren. O Mutter, wenn ich so durch die Bettreihen gehe, scheint es mir, als wäre es ein Unrecht, diese Kinder ins Heer aufzunehmen und sie so vorzeitigen Erfahrungen auszusetzen. Ich widme mich hauptsächlich dem Armory-Square-Lazarett, weil hier bei weitem die schlimmsten Fälle, die entsetzlichsten Wunden, das größte Leiden zu finden ist, weil hier Trost am meisten nottut. Ich gehe jeden Tag ohne Ausnahme und oft bei Nacht — bleibe manchmal sehr lange. Niemand legt mir etwas in den Weg, weder Wachtposten, Wärter, ärzte noch sonst jemand. Man läßt mir vollständig freie Hand.

Ich gehe jeden Tag und jede Nacht in die Lazarette — ich glaube nicht, daß sich Menschen je so liebten, wie ich und einige dieser

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armen verwundeten, kranken und sterbenden Männer einander lieben. — Mutter, ich bin wirklich stolz darauf, Dir zu sagen, daß ich mir bewußt bin, eine ganze Anzahl von Leben zu retten, dadurch, daß ich sie davor bewahre, sich selber aufzugeben, und daß ich so viel wie möglich bei ihnen bin; die Leute sagen, es sei so, und die ärzte sagen, es sei so — und ich kann mit gutem Gewissen bekennen, daß es wahr ist, obwohl ich es von mir selber sage. Ich weiß, Du wirst es gern hören, Mutter, deshalb sage ich es Dir.

Oh, ich wünschte, Du, Mutter — oder überhaupt Frauen wie Du und Mat* — wären hier, so viele wie möglich, als Hausmütter für die armen kranken und verwundeten Männer. Eure bloße Gegenwart würde schon genügen — oh, wie gut würde es ihnen tun. Mutter, es macht mich krank, zu sehen, welche Art von Menschen hier mit ihrer Pflege betraut sind — so kalt und förmlich, sie fürchten sich, sie anzufassen.

Du weißt nicht, wie sehr ich mich danach sehne, nach Hause zu kommen und euch alle wiederzusehen; Dich, liebe Mutter, und Jeff und Mat und alle. Ich glaube, ich habe Heimweh — ein neues Gefühl für mich — dazu kommt, daß ich alles Grauen des Soldatenlebens gesehen habe, ohne jedoch das kriegerische Erleben mitzumachen, das mich abgelenkt hätte. Es ist schrecklich, so viel zu sehen und nicht helfen zu können.


Ein New Yorker Soldat

Heute Nachmittag, am 22. Juli, blieb ich lange bei Oskar F. Wilbur, Kompagnie G, 154 Rgt. New York, der an Dysenterie und auch einer schlimmen Wunde daniederliegt. Er bat mich, ihm ein Kapitel aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich willigte ein und fragte ihn, was ich lesen solle. Er sagte: „Wähle selbst!“ Ich schlug den Schluß eines der ersten Evangelien auf und las die Kapitel vor, worin die letzten Stunden Christi und die Vorgänge

*W.'s Schwägerin, Frau seines drittjüngsten Bruders Thomas Jefferson W. (Anmerkung des übersetzers.)



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bei der Kreuzigung beschrieben sind. Der arme verfallene junge Mensch bat mich, auch das folgende Kapitel vorzulesen, wo Christus wieder auferstand. Ich las sehr langsam, denn Oskar war schwach. Es gefiel ihm sehr gut, aber die Tränen standen ihm in den Augen. Er fragte mich, ob ich auf Religion etwas halte. Ich sagte: „Vielleicht nicht in der Weise, wie du meinst, mein Lieber, und doch kommt es wohl auf dasselbe hinaus.“ Er sagte: „Sie ist mein ganzer Trost.“ Er sprach vom Tode und sagte, er fürchte ihn nicht. Ich sagteö „Wie, Oskar, glaubst du denn nicht, daß du wieder gesund wirst?“ Er sprach mit Fassung von seinem Zustand. Die Wunde war sehr schlimm, sie eiterte stark. Dann hatte ihn die Dysenterie sehr mitgenommen, und ich fühlte, daß er schon in diesem Augenblick so gut wie im Sterben lag. Seine Haltung war sehr mannhaft und zärtlich. Den Kuß, den ich ihm beim Abschied gab, erwiderte er vierfach. Er gab mir die Adresse seiner Mutter. Ich war öfter so mit ihm zusammen. Er starb wenige Tage nach dem eben Beschriebenen.


Bescheidenheit der Soldaten

Ich kann mich immer wieder nicht genug darüber wundern, unter diesen altjungen amerikanischen Soldaten so wenig Prahler und Prahlerei zu finden. Ich habe Leute gefunden, die seit Beginn des Krieges in jeder Schlacht gewesen sind, und habe mit ihnen über alle Schlachten in den verschiedensten Gegenden der Vereinigten Staaten und über viele Gefechte auf den Flüssen und in den Häfen gesprochen. Ich finde hier Leute aus allen Staaten der Union, ohne Ausnahme. (Es gibt in der Unionsarmee mehr Südländer, besonders aus den Grenzstaaten, als man gewöhnlich annimmt.) Ich bezweifle jetzt, ob man eine richtige Vorstellung von dem bekommen hat, was dieser Krieg in Wirklichkeit ist, oder was das eigentliche Amerika und sein Charakter ist, ohne solche Erfahrungen, wie ich sie jetzt mache.


Virginia

Zerstört, schutzlos, vom Krieg zerstampft, wie Virginia ist, werde ich doch überall, wohin ich komme, von überraschung und

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Bewunderung überwältigt. Welche Möglichkeiten sind hier für Landbau, Verbesserungen, menschliches Leben, Ernährung und Entwicklung. Der Boden ist noch immer weit über dem Durchschnitt aller Nordstaaten. Und die Landschaft, wie weiträumig, überall Gebirge in der Ferne, überall günstig gelegene Ströme. Auch jetzt noch Wälder in Fülle und Reichtum an Blumen, Obst und Früchten aller Art. Himmel und Luft voller Leuchtkraft und sicherlich im allgemeinen sehr gesund. Etwas Reiches, Elastisches ist überall bei Tag und Nacht zu fühlen. Die Sonne, ihrer Kraft froh, strahlt und brennt und ist doch, wenigstens für mich, niemals lästig und ermüdend. Es ist nicht die lechzende tropische Hitze, sondern eine stärkende Glut. Der Nordwind mäßigt sie. Die Nächte sind oft unvergleichlich. Gestern abend (8. Februar) sah ich zum erstenmal den neuen Mond, mit dem klaren Umriß der vollen Scheibe; Himmel und Luft so klar, so durchsichtige Färbungen, es war mir, als hätte ich den Neumond nie zuvor wirklich gesehen. Die Sichel war ganz, ganz schmal. Sie hing zart grade über dem düstern Schatten der Blauen Berge. Ach, möchte sie ein gutes Omen für diesen unglücklichen Staat bedeuten.


Sommer 1864

Ich bin wieder in Washington und mache meine täglichen und nächtlichen Rundgänge. Allenthalben in den Lazaretten gibt es Fälle, wo arme Burschen schon langen liegen und an hartnäckigen Wunden leiden oder schwach und mutlos sind von Typhus und dergleichen und besondere, mitfühlende Pflege brauchen. Zu diesen setze ich mich ans Bett und plaudere mit ihnen oder tröste sie schweigend. Sie haben das ungeheuer gern (und ich auch). Jeder Fall hat seine Besonderheit und verlangt neue Anpassung. Ich habe gelernt, mich darauf einzurichten — ich habe ein gut Teil Lazarettweisheit gelernt. Manche unter den jungen Burschen, die zum erstenmal im Leben von Hause fort sind, hungern und dürsten nach Zärtlichkeit; das ist oft das einzige, was ihnen hilft. Die Leute wollen gern Bleistifte haben und Schreibpapier. Ich habe ihnen billige Taschenbücher gegeben und Kalender für das Jahr 1864, die mit leerem Papier durchschossen sind. Zum Lesen bringe ich gewöhnlich ein paar alte illustrierte Zeitschriften oder

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Geschichtenbücher — sie sind immer beliebt. Auch die Morgenund Abendblätter der Tageszeitungen. Die besten Bücher verschenke ich nicht, sondern leihe sie im ganzen Lazarett herum aus. Die Leute sind immer sehr pünktlich mit dem Zurückgeben. In diesen Lazaretten oder auf freiem Feld mache ich so beständig die Runde; ich habe gelernt, mich jedem Bedürfnis anzupassen nach seiner Art und Weise und werde jedem gerecht nach seinen Umständen, so trivial oder feierlich sie sein mögen — nicht nur Besuche und erheiternde Gespräche und kleine Gaben — nicht nur Waschen und Verbinden von Wunden (ich habe einige Fälle, wo der Patient es von keinem andern getan haben will, als von mir) — sondern ich lese auch Stellen aus der Bibel vor, erkläre sie, bete mit ihnen am Bett, spreche über die christliche Lehre mit ihnen usw. (Ich glaube, ich sehe meine Freunde über dieses Geständnis lächeln, aber ich war nie im Leben ernster.) Im Lager und überall hatte ich die Gewohnheit, vorzulesen oder den Leuten etwas vorzutragen. Sie hatten das sehr gern und liebten deklamatorische poetische Stücke. Wir rückten dann, nach dem Abendbrot, in einer großen Gruppe zusammen und vertrieben uns die Zeit mit solchen Vorlesungen oder mit Gesprächen oder auch mit einem unterhaltenden Spiel, genannt das Spiel der „Zwanzig Fragen“.


Aus einem Bericht in den „New York Times“, 11. Dezember 1864

Für viele von den Verwundeten und Kranken, besonders unter den jüngsten Leuten, liegt in persönlicher Liebe und Liebkosung, in der magnetischen Ausströmung von Sympathie und Freundschaft etwas, was in seiner Weise mehr Gutes tut als alle Arznei der Welt. Ich sprach von meinen regelmäßigen Gaben: Leckerbissen, Geld, Tabak, bestimmten Nahrungsmitteln, allerhand Kleinigkeiten usw. usw. — aber ich fand immer mehr und mehr, daß ich in einer merkwürdig großen Zahl von Fällen am meisten durch jene hier angedeuteten Mittel helfen und die Wagschale zugunsten der Heilung beeinflussen konnte. Der amerikanische Soldat ist voller Zärtlichkeit und liebebedürftig. Und er ist wundersam dankbar dafür, wenn dieses Bedürfnis gestillt wird, während er fern von Hause, unter Fremden, mit schmerzhaften Wunden daniederliegt.

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Viele werden das nur für Sentimentalität halten, aber ich weiß, es ist Tatsache. Ich glaube, daß die bloße Anwesenheit und das Umhergehen einer herzhaften, gesunden, reinen, starken, edelmütigen Persönlichkeit, Mann oder Weib, unter den Verwundeten und im Lazarett beständige, unsichtbare Ströme aussendet und dadurch den Kranken und Verwundeten unermeßlich wohltut.


Abraham Lincoln

Ich sehe den Präsidenten fast täglich, da ich zufällig dort wohne, wo er auf dem Hinund Rückweg zu seinem Landhaus vor der Stadt vorbeikommt . . . Ich sah ihn heute morgen gegen halb neun Uhr hereinkommen und die Vermont Avenue entlangreiten. Er hat immer ein Gefolge von 25 bis 30 Mann Kavallerie, mit gezogenen Säbeln über den Schultern. Man sagt, diese Garde ist gegen seinen persönlichen Wunsch, aber er läßt seine Räte gewähren. Weder ihre Uniformen noch ihre Pferde sind sonderlich stattlich. Mr. Lincoln reitet gewöhnlich ein gut aussehendes, leicht gehendes graues Pferd, ist in schlichtes Schwarz gekleidet, einigermaßen abgetragen und staubig, trägt einen steifen schwarzen Hut und sieht alles in allem so einfach aus, wie der gewöhnlichste Mann . . . Ich sehe ganz deutlich Abraham Lincolns dunkelbraunes Gesicht mit den tiefgefurchten Linien, mit den Augen, in deren Ausdruck für mein Gefühl immer eine tiefe verborgene Trauer liegt. Wir sind so weit gekommen, daß wir Grüße miteinander tauschen, und zwar sehr herzliche. Manchmal fährt der Präsident in einer offenen Equipage . . . Sie kamen einmal sehr nahe an mir vorbei, und ich blickte dem Präsidenten voll ins Gesicht, als sie langsam vorüberfuhren, und sein Blick, obwohl abwesend, war zufällig unverwandt in meine Augen gerichtet. Er verbeugte sich und lächelte, doch tief hinter diesem Lächeln bemerkte ich wohl jenen Ausdruck, den ich andeutete. Kein Künstler hat in seinen Porträts den tiefen, obwohl zarten und indirekten Ausdruck des Gesichts dieses Mannes festgehalten. Da ist noch etwas ganz anderes. Einer der großen Bildnismaler des vorigen oder vorvorigen Jahrhunderts müßte das malen.



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Präsident Lincolns Tod

Er hinterläßt den Geschichtschreibern und Biographen Amerikas nicht allein die dramatischste Erinnerung unseres Landes, — sondern, nach meiner überzeugung, die größte, beste, eigenartigste, künstlerischste und moralischste Persönlichkeit. Nicht als ob er keine Fehler gehabt und während seiner Präsidentschaft begangen hätte; aber Rechtlichkeit, Güte, Scharfsinn, Gewissenhaftigkeit und (eine neue Tugend, unbekannt in anderen Ländern und auch bei uns kaum noch wahrhaft bekannt, aber der Grund und das Band, das alles zusammenhält, wie die Zukunft im größten Maßstab erweisen wird) Unionismus im wahrsten und weitesten Sinne bildeten das Rückgrat seines Charakters. Das besiegelte er mit seinem Tode. Der tragische Glanz seines Todes wirft, alle läuternd und verklärend, um seine ganze Gestalt und sein Haupt eine Aureole, die dauern und durch die Zeit nur noch leuchtender werden wird, da die Geschichte lebt und die Liebe des Landes nicht vergeht. Viele haben mitgeholfen, diese Union zu schaffen; aber wenn ein Name, ein Mann besonders genannt sein soll, so ist er vor allen ihr Bewahrer für die Zukunft. Er wurde ermordet — aber die Union ist nicht ermordet — ça ira! Der eine fällt und der andere fällt. Der Soldat bricht zusammen und sinkt wie eine Welle — aber die Wogenreihen des Ozeans drängen ewig nach. Der Tod verrichtet sein Werk, löscht Hunderte, Tausende aus — Präsident, General, Kapitän und jedermann — aber die Nation ist unsterblich.



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TAGEBUCH 1876–1882

Ich finde, daß der Wald im späten Mai und frühen Juni mein bester Aufenthalt zum Schreiben ist. Dort zeichnete ich mir fast alles auf, was nun folgt, auf Baumstämmen oder -stümpfen sitzend oder auf Zäunen hockend.

Wohin ich auch gehe im Winter oder Sommer, in Stadt oder Land, allein zu Haus oder auf Reisen, — überall muß ich Notizen machen; es ist meine vorherrschende Leidenschaft in der Zeit des Alters und der körperlichen Schwäche.

Wenn ich so die t-Striche und die i-Punkte gewisser beschränkter Bewegungen der letzten Jahre nachmale, so will es mir scheinen, als stecke in den folgenden Auszügen so recht das Abc einer neugelernten Lektion. Wenn du ausgekostet hast, was auszukosten war in Geschäft, Politik, Geselligkeit, Liebe und so fort, — und fandest, daß keines von diesen restlos befriedigt oder auf die Dauer taugt, — was bleibt dann? Die Natur bleibt und ihre Kraft, aus dumpfer Verborgenheit hervozulocken, was in Mann oder Weib an Verwandtem steckt mit freier Luft, mit Baum und Feld, mit dem Wechsel der Jahreszeiten — dem Sonnenschein bei Tage — dem Sternenhimmel bei Nacht. Von dieser überzeugung wollen wir ausgehen. Die Literatur fliegt so hoch und ist so heiß gewürzt, daß unsere Aufzeichnungen vielleicht nur erscheinen werden wie ein paar Atemzüge gewöhnlicher Luft oder ein paar Züge frischen Wassers. Aber das gehört zu unserer Lektion.

Teure, beruhigende, gesunde Stunden der Erholung — nach drei Kerkerjahren der Lähmung — nach dem langen Druck des Krieges, seinen Wunden, seinem Sterben.



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Wer weiß, vielleicht (ich träume und wünsche es mir) bringen die folgenden Seiten Sonnenstrahl oder Grasund Weizengeruch, oder Vogelruf, Sternflimmer bei Nacht, Schneeflockenfall frisch und mystisch irgendeinem Bewohner schwülen Stadthauses oder müdem Arbeiter oder Arbeiterin? — oder auch in ein Krankenzimmer oder Gefängnis, — als kühlenden Hauch oder Arom der Natur für einen fiebernden Mund oder matten Pulsschlag.


Beim Betreten eines langen Farmweges

Jeder hat sein Steckenpferd, meines ist ein richtiger Farmweg, eingezäunt mit altem graugrünen, moosund flechtenbewachsenen Kastanienholzwerk, reichliches Unkraut und Gesträuch fleckenweis zwischen den Steinen, die, hier und da angehäuft, das Geländer stützen: — regellos ausgetretene Pfade dazwischen, Roßund Rinderfährten, — alle Merkmale jeglicher Jahreszeit sichtbar und duftend ringsumher in der Nachbarschaft. — Apfelblüte im frühen April — Schweine, Geflügel, ein Buchweizenfeld im August, ein andres voll langer, wehender Maisbüschel — und schließlich der Teich (die Erweiterung des Baches), der verborgen-schöne, mit jungen und alten Bäumen und was für Schlupfwinkeln und Ausblicken!


Zu Quelle und Bach

So schlendere ich immer weiter, bis zu der Quelle unter den Weiden — die, musikalisch wie zartes Gläserklingen, einen kräftigen Schwall ergießt. Dort, wo das Ufer überhängt wie eine große braune, struppige Augenbraue oder Oberlippe, strömt sie aus der öffnung, so dick wie mein Hals, rein und klar. Gluckst und gluckst in einem fort $ meint etwas, sagt etwas, zweifellos! (könnte man es nur übersetzen) — gluckst dort immer, das ganze Jahr hindurch — setzt nie aus; — Unmengen von Pfefferminze, von Brombeeren im Sommer, — Licht und Schatten nach Belieben — just der rechte Platz für meine Juli-Sonnenbäder und auch Wasserbäder; — aber vor allem immer dies unnachahmliche, weichtönende Glucksen, wenn ich an heißen Nachmittagen hier sitze. Wie dies und alles in mich hineinwächst, Tag um Tag, — alles so einheitlich — der

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wilde, eben spürbare Duft, die sprenkeligen Blätterschatten und die ganzen naturheilkräftigen, elementar-moralischen Einflüsse dieses Platzes.

Plaudre weiter, o Bach, in dieser deiner Sprache! Auch ich will aussprechen, was ich in meinen Tagen und auf meinen Wegen, den heimischen, unterirdischen, verflossenen — in mich aufgenommen habe — und nun dich. Hüpfe, winde deinen Weg — ich begleite dich wenigstens ein Weilchen. Ich besuche dich so häufig, Jahr um Jahr, und du weißt, ahnst nichts von mir, (doch warum dies behaupten? wer kann es wissen?) — aber ich will von dir lernen, bei dir verweilen, von dir empfangen, dir nachahmen, von dir abschreiben.


Erwachen an einem frühen Sommermorgen

Hinweg denn, den göttlichen Bogen gelöst, entspannt den so lange gestrafften! Hinweg von Vorhang, Teppich, Sofa, Buch — von „Gesellschaft“ — von Stadthaus, Straße, modernen Bequemlichkeiten und Luxus, — fort zu meinem frei sich windenden Bach mit seinem ungestutzten Gebüsch und grasigen Ufern — fort von Binden, engen Stiefeln, Knöpfen, dem ganzen gußeisernen zivilisierten Leben — von der Umgebung künstlicher Läden, Maschinen, Ateliers, Bureaus, Empfangsräume — von Schneiderherrschaft und Modekleidern — am besten vielleicht von jeglicher Kleidung, jetzt bei der steigenden Sommerglut, hier in der wasserfrischen, schattigen Einsamkeit. Hinweg, du Seele (laß mich, lieber Leser, dich einzeln beiseitenehmen und ganz frei, lässig, vertraulich zu dir reden), und kehre zumindest für einen Tag und eine Nacht zurück zu unser aller nackter Lebensquelle, an die Brust der großen, schweigenden, ungezähmten, allempfangenden Mutter. Ach! wie viele von uns sind so verhärtet — wie viele so weit hinweggewandert — daß eine Umkehr fast unmöglich ist.

Was meine Notizen betrifft — die nehme ich, wie sie kommen, aus dem Haufen, ohne eigentliche Reihenfolge. Es ist wenig Zusammenhang in den Daten. Sie erstrecken sich wahllos über fünf, sechs Jahre. Alle sind nachlässig aufgezeichnet, im Freien — an Ort und Stelle. Dies werden die Drucker vielleicht zu ihrem ärger gewahr werden, denn ihr Manuskript besteht zum großen Teil aus diesen schnell gekritzelten ersten Zetteln.



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Zugvögel um Mitternacht

Hast du je den Mitternachtsflug von Vögeln belauscht, wenn sie in zahllosen Heerscharen durch Luft und Dunkelheit droben dahinziehen, um ihren frühen oder späten Sommerwohnsitz zu wechseln? Das ist etwas, was man nicht vergißt. Ein Freund weckte mich vorige Nacht kurz nach zwölf, um das eigenartige Geräusch ungewöhnlich großer Flüge zu beobachten, die nach Norden zogen (etwas spät dies Jahr). In der Stille, dem Schatten und dem köstlichen Wohlgeruch jener Stunde, (dem natürlichen Duft, der der Nacht allein eigen ist), schien es mir wundersame Musik. Man konnte die charakteristische Bewegung hören — ein paar Mal das „Brausen mächtiger Schwingen“, aber oft ein langgedehntes, samtenes Rauschen — zuweilen ganz nah — mit andauerndem Rufen und Zwitschern und ein paar Tönen Gesang. Das Ganze dauerte von zwölf bis nach drei. Einzelne Male war die Gattung deutlich zu unterscheiden, ich konnte den Paperlink erkennen, den Tangar, die Wilson-Drossel — den weißköpfigen Sperling, und manchmal kam hoch aus den Lüften der Ruf des Regenpfeifers.


Hummeln

Monat Mai — der Monat der schwärmenden, singenden, paarenden Vögel — der Monat der Hummeln — Fliedermonat — (und auch mein eigner Geburtsmonat). Diesen Abschnitt kritzle ich im Freien, kurz nach Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Bach. Die Lichter, Düfte, Melodien, die Blaumeisen, Grasmücken und Rotkehlchen in jeder Richtung, dies lärmende, vielstimmige Naturkonzert! Als Untertöne das Klopfen eines nahen Spechtes auf seinem Baum und ferner Hahnenschrei. Und dann der frische Erdgeruch — die Farben, das zarte Graugelb und dünne Blau des Horizontes. Das leuchtende Grün des Grases ist noch leuchtender geworden durch die Milde und Feuchtigkeit der letzten zwei Tage. Wie steigt die Sonne schweigend in den weiten, klaren Himmel auf ihrem Tagesweg! Wie baden die warmen Strahlen alles — und kommen küssend und beinahe heiß über mein Gesicht geströmt.

Vor noch gar nicht langer Zeit kam das erste Quaken aus den Froschteichen und zeigte sich das erste Weiß der blühenden Kornelkirsche. Jetzt ist der Boden überall besät von der endlosen üppigkeit

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des Löwenzahnes. Die weißen Kirschenund Birnenblüten — die wilden Veilchen, die mit ihren blauen Augen aufsehen und sich vor meinen Füßen verneigen, wie ich am Waldrand entlangschlendere — der rosa Hauch auf den knospenden Apfelbäumen — das leuchtendhelle Smaragdgrün der Weizenfelder — das dunklere Grün des Roggens — eine warme Spannkraft in der Luft — die Zederbüsche über und über bedeckt mit ihren kleinen, braunen Früchten — der Sommer, voll erwachend — die Amselgesellschaft, ein ganzer geschwätziger Haufen auf irgendeinem Baume versammelt, den Raum mit Lärm erfüllend und die Stunde, da ich hier sitze.

Die Natur schreitet in Marschordnung vorwärts, in Sektionen, wie ein Armeekorps. Jede hat viel für mich getan und tut es noch. Aber in den letzten zwei Tagen war es die große, wilde Biene, die Hummel (oder Brummelbiene, wie die Kinder sie nennen). Wenn ich vom Farmhaus zum Bach hinuntergehe oder humple, komme ich durch den vorhin erwähnten Weg mit seiner Einfassung von rissigen, splitterigen, brüchigen, zerlöcherten alten Latten, dem Lieblingsaufenthalt dieser summenden, haarigen Insekten. Auf und nieder, neben und zwischen diesen Latten, schwärmen, schießen und fliegen sie in unzählbaren Myriaden. Bei meinem langsamen Schlendern begleiten sie mich oftmals gleich einer beweglichen Wolke. Sie spielen eine Hauptrolle auf meinen Streifzügen, morgens, mittags und bei Sonnenuntergang, und beherrschen oft die Landschaft in einer Weise, die ich mir nie hätte träumen lassen — füllen den langen Weg nicht nur in Scharen von vielen hundert, nein zu Tausenden. Groß, lebhaft und geschwind, mit wunderbarer Triebkraft und einem andauernden, lauten, schwellenden Summen, das zeitweilig durch einen Laut, fast wie ein Schrei, unterbrochen wird, schießen sie hin und her, schnell wie der Blitz, jagen einander und vermitteln mir (so winzige Dinger sie sind) ein neues, ganz bestimmtes Gefühl von Kraft, Schönheit, Vitalität und Bewegung. Ist es ihre Paarungszeit? Oder was bedeutet diese Fülle, Schnelle, Emsigkeit, dieser Aufwand? Beim Gehen glaubte ich, mir folge ein besonderer Schwarm, aber bei näherer Betrachtung waren es rasch aufeinanderfolgende, wechselnde Schwärme.



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Ich habe mich zum Schreiben unter einen großen, wilden Kirschbaum gesetzt — die Wärme des Tages ist durch einige Wolken und eine frische Brise gemildert; nicht zu heiß und nicht zu kühl — und hier sitze ich lange und immer länger, eingehüllt in das tiefe musikalische Gedröhn dieser Hummeln, die zu Hunderten um mich herumgleiten, schweben, sausen — große Burschen, mit hellgelber Jacke, großem glänzendem schwellendem Rumpf, plumpem Kopf und hauchdünnen Flügeln, und ihrem unausgesetzten üppigen, weichen Gebrumm. (Wäre das nicht ein Vorwurf zu einer Tondichtung, zu der es den Hintergrund geben könnte? Einer Art Hummelsymphonie? —)

Wie nährt mich dies alles, lullt mich ein, just in der Art, wie ich es brauche: die frische Luft, die Roggenfelder, die Apfelgärten. Die beiden letzten Tage waren makellos schön an Sonne, Wind, Temperatur und allem — nie erlebte ich zwei vollkommenere Tage, und ich habe sie unendlich genossen. Mein Befinden ist etwas besser, und meine Seele hat Ruhe. (Und doch ist der Jahrestag von meines Lebens schwerstem Verluste und Schmerz ganz nah*.)

Wieder eine Aufzeichnung, wieder ein vollkommener Tag: Vormittag von sieben bis neun, zwei Stunden ganz eingehüllt in den Klang von Hummelgebrumm und Vogelmusik. Drüben in den Apfelbäumen und in einer hohen nahen Zeder saßen drei oder vier rotrückige Drosseln. Jede sang ihr bestes Lied und schmetterte die Läufe, wie ich sie schöner niehmals hörte. Zwei Stunden lang höre ich ihnen zu, dem Lauschen hingegeben und lässig die Landschaft in mich aufnehmend. Fast jeder Vogel, habe ich bemerkt, hat seine bestimmte Zeit im Jahr — manchmal sind es nur ein paar Tage — wo er am schönsten singt; und jetzt ist die Zeit dieser Rotrücken. Gleichzeitig wegauf, wegab die hin und her schießenden, dröhnenden musikalischen Hummeln. Auf dem Heimweg umgibt mich ein großer Schwarm als Hofstaat, zieht mit mir wie zuvor.


Sommerbilder — Sommerfaulheit

Nichts kann die stille Pracht und Frische übertreffen, die mich hier am Bach, abends halb sechs Uhr, beim Schreiben umgibt. Mittags hatten wir einen heftigen Regenschauer, mit kurzem Donner

*Der Todestag seiner Mutter, 23. Mai 1873. (Anmerkung des übersetzers.)



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und Blitz; und danach nun dieser nicht außergewöhnliche aber (im Ganzen, nicht in Form oder Einzelheit) unbeschreibliche Himmel vom klarsten Blau, mit rundgeballten, silberumsäumten Wolken und blendend reiner Sonne. Unten Bäume in der Fülle zarten Laubes — von Wasser und Röhricht kommende, langgedehnte Vogelstimmen — am deutlichsten das jämmerliche Miauen eines klagenden Katzenvogels und das vergnügliche Krähen von zwei Eisvögeln. Die letzteren habe ich jetzt eine halbe Stunde bei ihrem üblichen Abendspiel über und in dem Wasser beobachtet; offenbar ein herrlicher Spaß. Sie jagen einander, wirbeln und kreisen rundherum, oft fröhlich ins Wasser hinunter, wobei der Gischt in Diamanten zersprüht, — und dann schießen sie weg, mit schrägen Flügeln, in anmutigem Fluge, manchmal so nah an mir vorbei, daß ich ihre dunkelgrau gefiederten Leiber und ihre milchweißen Hälse deutlich sehen kann.

Als ich mich zum Heimgehen erheben, verweile ich noch und lausche lange einem köstlichen Sanges-Epilog (ist es die Einsiedlerdrossel?). Aus einem der buschigen Verstecke drüben am Moor kommt es — langsam und träumerisch, wieder und immer wieder. Und dazu die Ringelspiele der Schwalben, die zu Dutzenden in konzentrischen Kreisen durch die letzten Strahlen des Abendrots flitzen — wie Blitze eines Luftrads.


Ein Julinachmittag am Teich

Hitze, intensiv, doch um vieles erträglicher in so reiner Luft — weiße und rosa Teichblumen mit großen, herzförmigen Blättern — glasklares Wasser in der Bucht, Ufer mit dichtem Gebüsch und malerischen Buchen, — Schatten, — Rasen; aus Schlupfwinkeln hervor der tremolierende, schwirrende Ruf irgendeines Vogels, der die warme, träge, fast wollüstige Stille zerreißt; — gelegentlich eine Wespe, eine Hornisse, eine Biene oder Hummel (die fliegen mir um Gesicht und Hände, stören mich aber nicht, und ich sie auch nicht; denn es scheint, als untersuchten sie mich, fänden aber nichts, und — fort sind sie!) — der Himmel über mir so weit und klar, und der Bussard dort oben, der seinen langsamen Flug in majestätischen Spiralen und Kreisen zieht — gerade über dem Wasserspiegel zwei große, schieferfarbene Wasserjungfern mit Hauchflügeln, sie

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kreisen und schießen dahin und stehen manchmal regungslos im Gleichgewicht, nur ihre Flügel zittern leise ohne Unterlaß (produzieren sie sich zu meinem Vergnügen?). — Der Teich selber, mit dem schwertförmigen Kalmus; — Wasserschlangen — zuweilen eine Amsel, rote Tupfen auf den Schultern, schräg vorbeifliegend; — Geräusche, die in Einsamkeit, Wärme, Licht und Schatten hörbar werden — das Schnattern einer Teichente — (die Grillen und Grashüpfer sind verstummt in der Mittagshitze, doch höre ich das Lied der ersten Zikaden;) — dann, in ziehmlicher Entfernung, das Rasseln und Schwirren einer Mähmaschine, die, am anderen Ufer der Bucht, in raschem Tempo von Pferden durch ein Roggenfeld gezogen wird — (was war das für ein gelber oder hellbrauner Vogel, so groß wie ein junges Huhn, mit kurzem Hals und langgestreckten Beinen, den ich eben in flatterndem, ungeschickten Flug drüben zwischen den Bäumen sah?) — in meiner Nase der stetige, zarte, doch intensive, würzige Grasund Kleeduft. Und alles deckend, alles umfassend, für Auge und Seele der freie Himmel, durchsichtig und blau — und drüben im Westen geballt, ein Haufen weißgrauer Schäfchenwolken, die der Seemann „Makreelenzüge“ nennt. Mit silbernem Gekräusel, gleich wirren Locken, breitet, dehnt sich der Himmel — ein weites, lautloses, gestaltloses Trugbild — und doch, vielleicht die wirklichste Wirklichkeit und der Gestalter aller Dinge — wer weiß —?

Lichter, Schatten und seltene Wirkungen auf Laub und Gras —, durchsichtiges Grün, Grau usw., alles in der Pracht und Glut des Sonnenuntergangs. Die klaren Strahlen fallen jetzt auf viele neue Stellen, auf die faltigen, rissigen, bronzebraunen unteren Baumstämme, die zu jeder anderen Stunde im Schatten stehen — baden die alten und jungen knorrigen Säulen in starkem Licht, enthüllen mir neue, wundersame Züge stummer, rauher Anmut, die starke Rinde, den Ausdruck leidloser Unberührbarkeit, dazu viele nie zuvor bemerkte Knorren und Zapfen. In der Offenbarung solchen Lichtes, solch ungewöhnlicher Stunde, solcher Stimmung, wundert man sich nicht mehr über die alten Fabeln (ja, warum denn Fabeln?) von Menschen, die krank wurden aus Liebe zu Bäumen und in Verzückung gerieten über die mystische Wirklichkeit der stummen

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unwiderstehlichen Kraft von ihnen, — Kraft, die am Ende vielleicht die letzte, vollkommenste, höchste Schönheit ist.


Heuschrecken und Grillen

Schnarrender, einförmiger Laut von Heuschrecken oder Grillen, diese höre ich bei Nacht, jene so nachts wie tags. Der Morgenund Abendgesang der Vögel hat mich von je entzückt; aber ich merke, daß ich mit ebensoviel Freude diesen seltsamen Insekten lauschen kann. Jetzt um die Mittagszeit, eben da ich schreibe, läßt eine einzelne Heuschrecke sich hören, aus 200 Schritt Entfernung von einem Baum herab, ein langanhaltendes Schwirren, gehörig laut, abgestuft in verschiedene Wirbel oder Schwingungskreise, die an Kraft und Schnelligkeit wachsen bis zu einem gewissen Punkt, — und dann ein flatterndes, sanft auslaufendes Sinken. Jede Strophe dauert ein bis zwei Minuten. Das Lied der Heuschrecke paßt vortrefflich zu dieser Landschaft — es hat Fülle, Ausdruck und Männlichkeit; es ist wie ein feiner alter Wein, nicht süß, aber weit besser als süß.

Aber die Grille — wie soll ich ihre reizvollen Laute beschreiben? Eine singt in einem Weidenbaum, nur 20 Meter von meinem offenen Schlaffenster entfernt, seit vierzehn Tagen singt sie mich jede klare Nacht in den Schlaf. Neulich abends fuhr ich wohl einen halben Kilometer weit durch den Wald und hörte Myriaden von Grillen auf einmal — ein eigenartiger Eindruck; jedoch gefällt mir mein einzelner Nachbar auf dem Baume besser.

Laßt mich jedoch über den Gesang der Heuschrecke noch mehr sagen, wenn ich mich auch wiederhole; ein langes, chromatisches, tremolierendes Crescendo, wie von einer ehernen Scheibe, die, im Kreise geschwungen, Schallwelle auf Schallwelle hervorbringt, beginnend mit einem gewissen mäßigen Takt oder Rhythmus, der schnell an Tempo und Inbrunst zunimmt, einen hohen Grad von Energie und Ausdruckskraft erreicht — und dann rasch und graziös sinkt und erlischt. Nicht die Melodie des Singvogels — weit davon —; dem Durchschnittsmusikanten würde dieser Gesang vielleicht jeder Melodie bar erscheinen, doch hat er für das feinere Ohr gewiß seine eigenen Harmonie; eintönig zwar — doch welch ein Schwung

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in diesem ehernen Dröhnen, um und um, wie Zymbeln oder wie das Schwingen eherner Wurfscheiben.


Was uns ein Baum zu sagen hat

Ich möchte, um das zu erklären, weder den größten noch den malerischsten Baum wählen. Hier vor mir steht einer meiner Lieblinge — eine schöne, kerzengerade gelbe Pappel, etwa 90 Fuß hoch und vier Fuß breit an der Wurzel. Wie stark, lebendig, dauerhaft! Wie wortlos beredt: Wie vermittelt sie das Gefühl von Unbeirrbarkeit und Sein, im Gegensatz zu der Menschenart des bloßen Scheinens. Dann die nahezu seelischen, fühlbar künstlerischen, heroischen Eigenschaften eines Baumes; so unschuldig und harmlos und doch so wild. Er ist, aber er sagt nicht. Wie beschämt er mit seiner zähen, gleichmäßigen Heiterkeit in jedem Wetter dieses flatterhafte Wichtchen Mensch, das beim geringsten bißchen Regen und Schnne unter Dack eilt! Die Wissenschaft (oder besser Halbwissenschaft) spottet über den Gedanken an Dryaden, Hamadryaden und sprechende Bäume. Aber wenn sie auch nicht sprechen, so tun sie doch etwas, das gerade so gut ist wie das meiste Reden und Schreiben, Dichten und Predigen — oder noch viel besser. Ich möchte wirklich sagen, daß die alten Dryadengeschichten so wahr sind wie nur irgendwelche und tiefer als die meisten überlieferungen. („Schneide dies aus,“ wie der Quacksalber sagt — „und bewahre es auf.“) Geh und setze dich in einen Hain oder Wald zu einem oder mehreren dieser stummen Gefährten und lies das Gesagte und denke nach.

Eine Lehre, die die Verschwisterung mit einem Baum — vielleicht überhaupt die größte moralische Lehre, die Erde, Felsen und Tiere uns geben können, ist eben diese Lehre des Eigenwesens, des Seins ohne die geringste Rücksicht auf das, was der Zuschauer (der Kritiker) meint oder sagt und ob es ihm gefällt oder nicht. Welche schlimmere, welche verbreitetere Krankheit durchseucht uns alle, unsere Literatur, unsere Erziehung, unser Verhalten zueinander (ja zu uns selbst), als eine ungesunde Sorge um den Schein (noch dazu meist ganz flüchtige Schein)? Und gleichzeitig kümmern wir uns gar nicht oder kaum um die gesunden, langsam reifenden,

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überdauernden, wirklichen Seiten von Charakter, Büchern, Freundschaft, Ehe — die unsichtbare Grundlagen und Haften der Menschheit! (Denn die gemeinsame Basis, der Nerv, der große Sympathikus, das Plenum der Menschheit, das jedem Dinge sein Gepräge gibt, ist notwendigerweise unsichtbar.)


Der Himmel. Tage und Nächte. Glück.

Ein heller, klarer, frostiger Tag — trockne und frische Luft voll Sauerstoff. Von all den gesunden, schweigenden, köstlichen Wundern, die mich umgeben und durchdringen — (Bäume, Wasser, Gras, Sonnenlicht, erster Frost) — ist es der Himmel, den ich heute am meisten betrachte. Er zeigt das zarte, durchsichtige Blau, das dem Herbste eigen ist, mit nur weißen Wolken, kleinen und größeren, die der großen Halbkugel ihre stille, seelenhafte Bewegung verleihen. Den ganzen Morgen über (sagen wir von sieben bis elf Uhr), behält er dieses klare, doch intensive Blau. Doch wie der Mittag heranrückt, wird die Farbe heller — zwei, drei Stunden lang ganz grau — dann noch um einen Schein blasser bis zum Sonnenuntergang, dessen blendende Pracht ich durch die Lichtungen einer Gruppe großer Bäume hindurch beschaue: — Feuerzungen und eine üppige Entfaltung von Hellgelb, Violett und Rot, mit einem weiten Silberglanz schräg über dem Wasser; — die durchsichtigen Schatten, Lichstreifen, Blitze und lebhaften Farben übertreffen weit alle Gemälde der Welt.

Ich weiß nicht warum und wieso, doch mir scheint, als verdankte ich hauptsächlich diesen Himmeln (und manchmal will mich dünken, obwohl ich den Himmel natürlich jeden Tag meines Lebens sah, als hätte ich ihn zuvor nie wirklich erblickt) in diesem Herbste manche wunderbar zufriedene, fast möchte ich sagen vollkommen glückliche Stunde. Ich las einmal, daß Byron kurz vor seinem Tode einem Freunde erzählte, er habe in seinem ganzen Leben nur drei glückliche Tage gekannt. Auch gibt es die alte deutsche Legende von des Königs Glocke, die auf das gleich hinzielt. Wie ich da draußen im Walde das wundervolle Abendrot durch die Bäume erblickte, fielen Byrons Worte und die Glockengeschichte mir ein, und es erwachte in mir das Bewußtsein, daß ich eine

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glückliche Stunde erlebte. (Meine besten Augenblicke jedoch bringe ich wohl nie zu Paper; wenn sie über mich kommen, mag ich nicht durch Aufzeichnungen den Zauber zerstören. Dann gebe ich mich nur ganz der Stimmung hin und lasse mich auf den Fluten ihrer stillen Entzückung tragen.)

Was ist überhaupt Glück? Ist dies eine seiner Stunden oder ihm ähnlich? So unfaßbar — ein bloßer Hauch, ein verschwindender Lichtschein? Ich bin nicht sicher — so laßt mir die Wohltat der Ungewißheit. Hast du, Durchsichtiger, in deinen azurblauen Tiefen Arznei für Kranke, wie mich? (Oh, die körperliche Zerrüttung und seelische Unruhe der letzten drei Jahre!) Und träufelst du sie nun, leise, mystisch, unsichtbar durch die Luft auf mich herab?


Ein Wintertag am Meeresstrand.

Jüngst verbrachte ich einen schönen Dezembermittag an der Seeküste von New Jersey, die ich durch eine kaum mehr als einstündige Eisenbahnfahrt über Old Camden und Atlantic erreichte. Ich war zeitig aufgebrochen, gestärkt durch schönen, starken Kaffee und ein gutes Frühstück (von geliebten Händen, von meiner lieben Schwester Lou zubereitet — wie viel besser schmecken doch dann die Speisen, und wie viel besser nähren und stärken sie einen und machen vielleicht noch den ganzen Tag angenehm.)

Mindestens fünf bis sechs Meilen liefen unsere Geleise durch weitgedehnte Wiesen von Dünengras, dazwischen kleine Lagunen und Rinnsale überall. Der Schilfgeruch — meiner Nase eine Wonne — brachte Erinnerungen an die Südbucht meiner Heimatinsel. Ich wäre gern noch bis zur Nacht durch diese flachen, duftenden Seeprärien gereist. Von halb zwölf bis zwei Uhr war ich fast ständig nahe am Strand oder in Sehweite des Ozeans, lauschte seinem heiseren Murmeln, trank die willkommen, belebende Brise. Zuerst eine schnelle Wagenfahrt über fünf Meilen harten Sand — unsere Räder hinterließen kaum eine Spur; — dann nach Tisch, da noch zwei Stunden übrig waren, ging ich zu Fuß in einer anderen Richtung — (sah und traf kaum jemand) — ergriff Besitz von etwas, das wohl einst der Gesellschaftsraum von einer alten Badehausanlage gewesen sein mochte und hatte einen weiten Ausblick — reizvoll, erquickend, unbegrenzt — ganz für mich allein. Unmittelbar vor

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und neben mir eine dürre Strecke Schilf und indisches Gras — und Weite, einfache, schmucklose Weite. Ferne Boote und von weither eben noch sichtbar die schleppende Rauchwolke eines heimkehrenden Dampfers; etwas deutlicher Schiffe, Briggs, Schoner; die meisten hatten alle Segel vor dem steifen, stetigen Wind gesetzt.

Wie anziehend, wie fesselnd sind doch Meer und Strand! Wie verliert man sich in ihre Einfachheit, ja in ihre Leere!

Was ist das in uns, daß durch diese Richtungslosigkeiten und Richtungen geweckt wird? Dieser Wellenschlag, dieser grauweiße, salzige, eintönige, leblose Strand — diese gänzliche Abwesenheit von Kunst, Büchern, Unterhaltung, Eleganz — wie unbeschreiblich wohltuend, selbst an einem Wintertag wie heut: rauh und doch so zart anzuschauen, so vergeistigt, an unfaßbare Tiefen des Gefühls rührend, inniger als alle Gedichte, Gemälde, Musik, die ich je gelesen, gesehen, gehört. (Doch will ich gerecht sein — vielleicht ist es nur deshalb so, weil ich diese Gedichte gelesen, diese Musik gehört habe.)


Strandträume

Schon als Knabe hatte ich den Gedanken, den Wunsch, etwas, ein Gedicht vielleicht, über die Seeküste zu schreiben, — über diese vielsagende Trennungslinie, die zugleich Berührung und Verbindung ist und das Feste mit dem Flüssigen vermählt, — dieses seltsame, lauernde Etwas, (als welches zweifellos jede objektive Form schließlich einmal dem subjektiven Geiste erscheint,) das weit mehr bedeutet, als sein bloßer, erster Anblick verrät, ist er auch noch so großartig, und Reales und Ideales verschmilzt und jedes zu einem Teil des anderen macht. In meiner Jugend und frühem Mannesalter auf Long Island streifte ich stundenund tagelang an den Küsten von Rockaway und Conney Island entlang, oder ostwärts nach Hampton oder Montauk. Einmal, an dem letzteren Ort (beim alten Leuchtturm: in jeder Richtung, soweit das Auge reichte, nichts als wogende See) fühlte ich —, ich weiß es noch genau —, daß ich eines Tages ein Buch schreiben müsse, das diesem flutenden, mystischen Thema Ausdruck verliehe. Ich erinnere mich, wie mir's dann später kam, daß die Seeküste nicht das Thema eines bestimmten, lyrischen, epischen oder literarischen Versuches,

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sondern vielmehr ein unsichtbarer Einfluß werdeb sollte, ein alles durchdringendes Maß und Vorbild mir und meiner Dichtung. (Ich möchte hier jungen Schriftstellern einen Wink geben. Ich glaube, ich habe die gleich Regel unbewußt auch auf andere Mächte als Meer und Küste angewandt, — ich habe es vermieden, sie nach einer toten Schablone zu bedichten, da sie mir zu groß für bloß formale Behandlung waren, und war zufrieden, wenn ich indirekt zeigen konnte, daß wir einander kennengelernt und durchdrungen haben, wenn auch nur einmal, so doch zur Genüge, — daß wir wirklich ineinander aufgegangen sind und einander verstanden haben.)

Ein Traum, ein Bild taucht seit Jahren von Zeit zu Zeit (manchmal lange nicht, aber ganz sicher immer wieder einmal) leise vor mir auf und hat, glaube ich, obwohl es nur eine Vorstellung ist, mein praktisches Leben stark beeinflußt, — sicherlich meine Schriften, denen es Form und Farbe gegeben hat. Es ist nichts mehr und nichts weniger als eine unermeßliche Strecke weißbraunen Sandes, hart und glatt und breit; der Ozean rollt unablässig majestätisch darauf zu, mit langsamem, abgemessenem Schwung, mit Rauschen und Zischen und Schäumen und dumpfen Stößen dazwischen wie von tiefen Pauken. Die Szene, dieses Bild, steigt, wie gesagt, seit Jahren von Zeit zu Zeit vor mir auf. Manchmal erwache ich bei Nacht und kann es deutlich hören und sehen.


Frühlingsvorspiel, Wiedergeburt

Heute das erste Zwitschern, fast Singen eines Vogels. Dann sah ich am offenen Fenster in der Sonne zwei Honigbienen herumflitzen und summen.

An diesem wundervollen Abend, in dem sanften Rosa und blassen Gold des schwindenden Lichtes, hörte ich das erste Wispern und Sich-Regen des erwachenden Frühlings — ganz leise — ich weiß nicht, ob aus Erdboden oder Wurzeln, oder von der Bewegung von Insekten, — doch war es hörbar, wie ich so an einen Zaun gelehnt stand und lange in den westlichen Horizont sah. Im Osten erschien der Sirius, als die Schatten wuchsen, in blendender Pracht. Und

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der große Orion; und ein bißchen nach Nordosten der Große Bär, kopfabwärts.

Sonnenuntergang. Eine einsame, lustige Stunde am Teich; ich übe Arme, Brust, meinen ganzen Körper an einer zähen, jungen Eiche (faustdick, 12 Fuß hoch), ziehe und stemme und atme die gute Luft. Nachdem ich eine Weile mit dem Baum gerungen habe, kann ich spüren, wie sein junger Saft und seine Lebenskraft aus dem Boden quillt und mich vom Scheitel bis zur Sohle durchglüht wie Wein der Gesundheit. Zur Abwechslung, als Dreingabe, lasse ich dann laute Stimmübungen vom Stapel. Deklamatorisches, Sentimentales, Schmerz, Zorn aus dem Vorrat unserer Dichter und Dramatiker — oder fülle meine Lungen und singe wilde Lieder und Kehrreime, die ich bei den Schwarzen im Süden hörte, — oder patriotische Lieder, die ich von den Soldaten lernte. Ich lasse das Echo dröhnen, kann ich euch sagen! Zwischen zwei derartigen Kraftausbrüchen, im sinkenden Zwielicht, schrie ein Käuzchen am anderen Ufer der Bucht vier-, fünfmal hintereinander sein tu-u-u-u — leise, nachdenklich (wie mir schien, auch ein wenig spöttisch) entweder als Applaus für die Negerlieder oder vielleicht als ironischen Kommentar zu dem Schmerz, Zorn oder Stil unserer Dichter.


Eine der Wunderlichkeiten des Menschen

Wie kommt es, daß man in all der heiteren, verlassenen Einsamkeit, allein, tief in diesem Waldesschweigen, — oder, wie ich fand, in der wilden Prärie, in der Bergesstille — nie ganz frei ist von dem Instinkt (ich verliere ihn nie, und andere sagen mir im Vertrauen das gleiche von sich), sich umzuschauen, ob nicht jemand erscheinen, aus dem Boden wachsen, oder hinter einem Baum, einem Felsen hervortreten werde? Ist das ein unterbewußtes, vererbtes überbleibsel von der UrWachsamkeit des Menschen, das von den wilden Tieren herstammt? oder von seinen wilden Vorfahren von einst? Es ist durchaus weder Nervosität noch Angst. Es ist, als lauere vielleicht etwas Unbekanntes in diesen Büschen und einsamen Orten. Nein, ganz sicherlich ist da irgend etwas lebendig unsichtbar Gegenwärtiges.



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Ein Nachmittagsbild

Gestern Nacht und heute schwer und regnerisch, bis zum halben Nachmittag, wo der Wind sich plötzlich drehte, die Wolken wie Vorhänge rasch fortzogen und der klare Himmel durchkam und mit ihm zugleich der schönste, erhabenste wunderbarste Regenbogen, den ich jemals sah; ganz vollständig, sehr farbig an seinen Erdenenden und in der Höhe nach allen Richtungen einen leuchtenden violetten, gelben, grünen Dunst ausstrahlend, durch den die Sonne leuchtete — ein unbeschreiblicher Lichtund Farbenausbruch, so üppig und doch so zart, wie ich es nie zuvor erblickte. Dann das Nachspiel: eine volle Stunde verging, ehe das letzte dieser Erdenenden verschwand. Dahinter der Himmel: ein durchsichtiges Blau, mit vielen kleinen weißen Wolken und Flocken. Dazu ein Abendrot, das alle Sinne der Seele verschwenderisch, zärtlich, voll erfüllte und beherrschte. Ich schließe diese Zeilen am Teich; durch die Abendschatten fällt eben noch genug Licht, um den westlichen Widerschein auf dem Wasserspiegel zu sehen, mit dem umgekehrten Bild der Bäume. Hin und wieder höre ich das klatschende Geräusch eines Hechtes, der herausspringt und das Wasser kräuselt.


Die Tore öffnen sich

Ich fühle leibhaftig den Frühling, oder doch seine Vorboten. Ich sitze im hellen Sonnenschein, am Rande des Baches, der Wind kräuselt leise das Wasser. Nichts als Einsamkeit, Morgenfrische, Lässigkeit. Meine zwei Eisvögel leisten mir Gesellschaft, segeln, wenden, stoßen, tauchen, manchmal launisch getrennt, und gleich wieder vereint. Wieder und wieder höre ich ihre zwitschernden Kehllaute; eine ganze Zeit lang nichts als diesen eigenartigen Ton. Gegen Mittag werden auch andere Vögel warm; ich höre die schnarrenden Laute des Rotkehlchens und eine Musik zweier Stimmen, davon eine ein köstliches, helles Glucksen, und mehrere andere Vögel, die ich nicht unterzubringen weiß. Dazu kommt noch von Zeit zu Zeit (ja, eben höre ich's) ein leises Quarren von ein paar ungeduldigen Fröschen am Rande des Teiches. Hie und da rauscht

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zischend ein ziehmlich starker Wind durch die Bäume. Ein armes, kleines totes Blatt, lang vom Frost gefesselt, wirbelt plötzlich von irgendwoher im wilden Taumel neuer Freiheit hoch in die Lüfte, in Raum und Sonnenlicht, und stürzt dann plötzlich hinab aufs Wasser, wo es festgehalten wird und bald versinkend dem Blick entschwindet. Noch sind Büsche und Bäume kahl, doch haben die Buchen noch zum großen Teil die verschrumpelten, gelben Blätter vom vorjährigen Laube, viele Zedern und Fichten sind noch grün, und das Gras zeigt schon Spuren kommender üppigkeit. Und über dem Ganzen ein wundervoller Dom vom reinsten Blau, ein Spiel von kommendem und gehendem Licht, und große Herden von weißen, still dahinschwimmenden Wolken.


Der gewöhnliche Erdboden

Auch der Erdboden — laßt andere See und Luft beschreiben — (wie ich es zuweilen versuche) — doch ich will nun den einfachen Erdboden zum Thema nehmen, und weiter nichts. Dieser braune Boden hier, just zwischen Winterende und Frühlingsanfang und Wachstum — der Regenschauer des Nachts und der frische Duft am nächste Morgen — die roten Würmer, die sich aus dem Boden hervorwinden — die toten Blätter, das keimende Gras und das heimliche Leben darunter — der Wille zu neuem Beginn — an geschützten Stellen bereits einzelne kleine Blumen — der ferne Smaragdglanz des Winterweizens und der Roggenfelder — die noch nackten Bäume mit hellen Durchblicken, die im Sommer verdeckt sind, — das zähe Brachfeld, das Pflug-Gespann, der kräftige Bursch, der seinen Pferden aufmunternd zupfeift — und dort, in langen, schräg aufgeworfenen Streifen, die dunkle, fette Erde.


Vögel, Vögel, Vögel

Ungewöhnlich sangesreich sind in diesen Tagen (den letzten des April, den ersten des Mai) die Amseln; überhaupt schwirren, pfeifen und hocken alle möglichen Vögel hoch in den Bäumen. Nie sah und hörte ich sie so, war so mitten unter ihnen, so von ihnen und ihrem Treiben umdrängt, überschwemmt, wie in diesem Monat.

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Laßt mich aufzählen, was ich hier finde: Amseln (in Mengen), Ringeltauben, Eulen, Spechte, Königsvögel, Krähen (in Mengen), Wachteln, Eisvögel, Hühnerhabichte, Gelbvögel (auch Beutelstare genannt), Bussarde, Zaunkönige, Drosseln, Rohrdommeln, Feldlerchen (in Mengen), Kuckucke, Teichschnepfen, Rotkehlchen, Raben, Grauschnepfen, Adler, Fischreiher, Waldtauben.

Schon früh kamen Blaukehlchen, Killdeer, Regenpfeifer, Rotkehlchen, Waldschnepfen, Feldlerchen, weißbauchige Schwalben, Sandpfeifer, Wilson-Drosseln.


Sternhelle Nächte

Wieder bricht eine jener ungewöhnlich durchsichtigen, schwarzblauen Sternennächte an, die gleichsam zeigen wollen, daß, so strahlend und prächtig der Tag sein mag, dennoch dem Nicht-Tag etwas zu eigen bleibt, was ihn übertrifft. Das seltenste, schönste Beispiel eines langanhaltenden Helldunkels von Sonnenuntergang bis neun Uhr. Ich ging zum Delaware hinunter und fuhr immer wieder hinüber und herüber. Venus wie leuchtendes Silber hoch im Westen. Die große, dünne, blasse Sichel des Neumonds, eine halbe Stunde hoch, langsam hinter eine düstere Wolkenwand sinkend und dann wieder hervortauchend. Arktur gerade über mir. Ein leiser, würziger Meeresduft von Süden her. Die dämmerige milde Kühle; jede Einzelnheit der unbeschreiblich beruhigenden und stärkenden Szenerie deutlich zu erkennen; — eine jener Stunden, die der Seele zuraunen, was sich nicht in Worte fassen läßt. (Oh, wo fände Geistigkeit ihre Nahrung ohne Nacht und Sterne?) Die gestaltlose Weite der Luft und das verschleierte Blau des Himmels schienen Wunder genug.

Als die Nacht vorrückte, wandelte sich ihr Geist und Kleid zu noch umfassenderer Pracht. Ich wurde mir fast einer deutlich bestimmten Gegenwart bewußt: der schweigenden Nähe der Natur. Das große Sternbild der Wasserschlange streckte seine Windungen über mehr als den halben Himmel. Der Schwan flog mit ausgebreiteten Schwingen die Milchstraße hinab. Die nördliche Krone, der Adler, die Leier, alle an ihrem Platz dort oben. Aus dem ganzen Gewölbe schossen Lichtblitze, Grüße an mich, durch das klare

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Blauschwarz herab. Jedes gewöhnliche Bewußtsein von Bewegung, jedwedes animalische Leben schien ausgeschaltet, schien ein Traum; eine seltsame Macht, gleich der gelassenen Ruhe ägyptischer Gottheiten, ergriff die Herrschaft, durch ihre Unfaßbarkeit um nichts weniger gewaltig. Zuvor hatte ich viele Fledermäuse gesehen, die sich in dem hellen Zwielicht wiegten und ihre schwarzen Gestalten hin und her über den Fluß schnellten; doch jetzt waren sie ganz verschwunden. Der Abendstern und der Mond waren fort. Regsamkeit und Friede waren ruhig beisammengelagert in den flutenden Schatten des Alls.

Hell war der Tag, und mein Geist gleichfalls im „sforzando“. Nun kommt die Nacht, ganz anders, unsagbar nachdenklich mit ihrer eigenen, zarten und milden Pracht. Venus verharrt im Westen mit einem wollüstigen Glanze, wie sie ihn im ganzen Sommer noch nicht zeigte. Mars geht früh auf, und der düster-rote Mond, zwei Tage nach Vollmond; Jupiter im nächtlichen Meridian, und der lange gekrümmte Skorpion dehnt sich voll sichtbar im Süden, den Antares am Halse. Mars durchschreitet jetzt als oberster Herrscher den Himmel; den ganzen Monat über gehe ich nach dem Abendessen hinaus, um ihn zu beobachten; manchmal stehe ich um Mitternacht auf, um noch einmal einen Blick auf seinen unvergleichlichen Glanz zu werfen. (Ich lese, daß kürzlich ein Astronom durch das neue Teleskop von Washington feststellte, daß der Mars jedenfalls einen Mond, vielleicht sogar zwei, hat.*) Blaß und fern, doch im Himmelsraum nahe, geht Saturn ihm voran.


Königskerzen

Große, sanfte Königskerzen, von samtenem Gewebe und heller, bräunlich-grüner Farbe, wachsen überall auf den Feldern, je weiter der Sommer vorrückt. Anfangs, wenn sie noch niedrig und unentfaltet sind, wirken sie mit ihren breiten Blättern (acht, zehn, zwanzig Blätter an jeder Pflanze) wie Rosetten auf dem Erdboden. Auf den zwanzig Morgen Brachland, am Ende des Feldweges, und besonders in den Furchen längs der Zäune, stehen sie in Menge, erst dicht

*A. Hall im Jahre 1877. (Anmerkung des übersetzers.)



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über dem Boden, doch bald schießen sie hoch, schon sind die Stengel vier, fünf, ja sieben und acht Fuß hoch; die Blätter so breit, wie meine Hand, die untersten doppelt so lang — so frisch und tauig in der Frühe. Ich höre, daß der Farmer die Königskerze für ein gemeines, nutzloses Unkraut hält; doch mir ist sie lieb geworden. Jedes Ding enthält seine Lehre, in der der Hinweis auf alle anderen Dinge enthalten ist — und in letzter Zeit scheint mir's manchmal, als konzentriere sich für mich alles in diesem wetterharten, gelbblumigen Unkraut. Wenn ich am frühen Morgen den Feldweg daherkomme, verweile ich stets vor ihrem weichen, wolligen Vlies, ihren Stengeln und breiten Blättern, die von zahllosen Diamanten glitzern. Zusammen kehren wir, sie und ich, nun seit drei Jahren in jedem Sommer schweigend zurück; nach so langen Pausen stehe oder sitze ich immer wieder bei ihnen und träume — verwoben mit all den andern Stunden und Stimmungen der Erholung meines gesunden oder kranken Geistes, der hier dem Frieden so nahe ist, wie nur möglich.


Ferne Geräusche

Die Axt des Holzhauers — der gleichmäßige Fall eines einzelnen Dreschflegels — das Krähen des Hahnes im Hühnerhof (mit den unvermeidlichen Antworten aus anderen Hühnerhöfen) — das Brüllen der Rinder — doch vor allem, fern und nah, der Wind — hoch in den den Baumwipfeln, tief in den Büschen, oder auf Gesicht und Händen so leise streichelnd, in diesem mild-leuchtenden Mittag, dem kühlsten seit langer Zeit (2. Sept.); — ich will es nicht Seufzer nennen, denn für mich hat der Wind immer einen festen, gesunden, fröhlichen Ausdruck, abwechslungsreich bei aller Einförmigkeit, bald rasch, bald langsam, bald rauh, bald zart. Wie zischelt der Wind in dem Fichtenwäldchen dort drüben. Oder auf See, — ich kann mir im Augenblicke vergegenwärtigen, wie er die Wogen peitscht, wie weithin Schaumgeister spritzen, und das freie Pfeifen und den Salzgeruch, — und dieses weite große Paradoxon, das bei all seiner Bewegung und Rastlosigkeit ein Gefühl von ewiger Ruhe vermittelt.


Andere Begleiter

Sonne und Mond jedoch, hier und zu dieser Zeit! Nie schien das prächtige, königliche Gestirn am Tage so wunderbar, so groß, so

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glühend und liebevoll, — nie bei Nacht ein so blendender Mond, wie gerade in den letzten drei, vier Nächten.


Ein Sonnenbad. Nackheit.

Wieder ein Tag ganz frei von ausgesprochener Hinfälligkeit und Schmerzen. Es scheint wirklich, als flösse ungesehen Friede und Stärkung auf mich herab, wie ich so langsam in der guten Luft durch diese Wiesenwege und Felder humple — wie ich hier einsam mit der Natur sitze — der offenen, stummen, mystischen, fernen, doch fühlbaren, beredten Natur. Ich lasse mich versinken in die Landschaft, in den vollkommenen Tag. Ich hocke an dem klaren Wasserlauf und trinke die Ruhe, — hier aus seinem leisen Glucksen, dort aus dem tieferen Rauschen seines drei Fuß hohen Wasserfalls. — Kommt, oh, ihr Trostlosen, wenn noch Entschlußkraft in euch schlummert, — kommt zu der unfehlbaren Heilkraft von Bachufer, Wald und Feld. Zwei Monate lang (Juli und August 77) hab' ich sie nun in mich aufgenommen, und sie beginnen einen neuen Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Einsamkeit — jeden Tag mindestens zwei oder drei Stunden Freiheit, Bad, kein Geschwätz, keine Fesseln, keine Kleider, keine Bücher, kein „Benehmen“!

Soll ich dir sagen, Leser, worauf ich meine schon fast wiederhergestellte Gesundheit zurückführe? Darauf, daß ich seit fast zwei Jahren, mit wenigen Unterbrechungen, ohne Arzneimittel und täglich in der frischen Luft bin. Vorigen Sommer fand ich eine besonders geschützte kleine Schlucht, etwas abseits von meinem Bach; ursprünglich eine große, ausgeschachtete Mergelgrube, nun verlassen und ausgefüllt von Büschen, Bäumen, Gras, einer Weidengruppe, einer einzelnen Erhöhung und einer Quelle mit köstlichem Wasser, die mitten hindurch fließt mit zwei oder drei kleinen Wasserfällen. Hierher flüchtete ich mich an jedem heißen Tage, und so mache ich es auch in diesem Sommer. Hier begreife ich, was jener Alte meinte, der sagte, er sei selten weniger allein, als wenn er allein sei. Nie zuvor kam ich der Natur so nahe, noch sie so nahe zu mir. Eine Stunde oder so nach dem Frühstück schlenderte ich zu der Verborgenheit besagter Schlucht hinab, die ich und

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einige Drosseln usw. ganz für uns allein hatten. Ein leichter Südwest blies durch die Wipfel. Es war just der Ort und die Stunde für mein adamitisches Luftbad nebst Bürsten des Körpers von Kopf bis Fuß. So hing ich denn die Kleider auf einen nahen Zaun, behielt den alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und bequeme Schuhe an den Füßen und hatte zwei herrliche Stunden! Zuerst Arme, Brust und Seiten mit den steif-elastischen Borsten gebürstet, bis sie feuerrot waren — dann ein teilweises Bad im klaren Wasser des rinnenden Baches — alles sehr gemächlich, mit vielen Ruhepausen — alle paar Minuten barfuß herumgelaufen im nahen, schwarzen Schlamm, als fettes Moorbad für meine Füße, — ein zweites und drittes Mal in dem kristallklaren Wasserlauf kurz abgespült — mit dem duftenden Handtuch abgerubbelt — langsame, lässige Promenaden auf dem Rasen auf und ab in der Sonne, abwechselnd mit Ruhepausen und dann wieder Abreibungen mit der Bürste. Manchmal nehme ich meinen Feldstuhl von Ort zu Ort mit, da mein Bereich hier ziehmlich ausgedehnt ist (fast hundert Ruten) und ich mich ganz sicher fühle vor Störungen (und das würde mich auch keineswegs aus der Fassung bringen, wenn es zufällig einmal vorkäme).

Wie ich langsam über das Gras ging, schien die Sonne hell genug, daß ich meinen mitgehenden Schatten sehen konnte. Irgendwie schien es mir, als würde ich eins mit all und jedem Ding um mich her, je nach seinem Wesen. Die Natur war nackt und ich auch. Es war eine zu lässige, einschläfernde, wonnige und ausgeglichene Stimmung, um darüber nachzugrübeln. Doch mag ich mir etwa die folgenden Gedanken gemacht haben: Vielleicht ist unser innerer, nie verlorner Zusammenhang mit Erde, Licht, Luft, Bäumen usw. nicht durch Augen und Gemüt allein zu erfassen, sondern mit dem ganzen fleischlichen Körper, den ich ebenso wenig wie die Augen geblendet und verbunden haben will. Süße, gesunde stille Nacktheit in der Natur! — oh, könnte die arme, kranke, geile Stadtmenschheit dich nur einmal wieder wirklich kennenlernen! — Ist also Nacktheit nicht unanständig? — Nein, an sich nicht. Eure Gedanken, eure Heuchelei, eure Furcht, euer Ehrbartun: die sind das Unanständige. Es kommen Stimmungen, wo diese unsere Kleidung nicht nur zu lästig wird zum Tragen, sondern in sich selbst unanständig. Vielleicht hat der Mann oder das Weib, die das freie

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heitere Hochgefühl der Nacktheit in der Natur nie kennenlernen durften (und wie viele Tausende sind das!), nie wirklich gewußt, was Reinheit ist — noch was Glauben, Kunst und Gesundheit eigentlich ist. (Wahrscheinlich entsprang der ganze Schatz an höchster Philosophie, Schönheit, Heroismus, Form, wie die alte hellenische Rasse ihn aufweist, — die höchste Höhe und tiefste Tiefe, die die Kultur auf diesen Gebieten kennt, — aus ihrer natürlichen und religiösen Idee der Nackheit.)


Die Eichen und ich

Ich schreibe dies, elf Uhr vormittags, unter einer dicht belaubten Eiche am Ufer, unter der ich vor plötzlichem Regen Schutz suchte. Ich kam hierher (es war den ganzen Morgen trüb und regnerisch, doch vor einer Stunde hörte es etwas auf) zu der schon erwähnten, täglichen, einfachen Leibesübung, die ich so liebe: um an diesem jungen Eichbäumchen hier zu ziehen und von ihm gezogen zu werden, mitzuschwingen mit der zähen Geschmeidigkeit seines aufrechten Stammes, — vielleicht etwas von seiner elastischen Faser, seinem klaren Safte in meine alten Sehnen hineinzubekommen. Ich stehe auf dem Rasen und übe dies Gesundheitsstemmen mäßig schnell und mit Unterbrechungen fast eine Stunde lang, und atme dabei die frische Luft in tiefen Zügen. An dem Bach entlang habe ich drei oder vier von Natur günstige Ruheplätze $ außerdem trage ich einen Stuhl mit mir und benütze ihn für bedachtsamere Gelegenheiten. An anderen geeigneten Stellen habe ich, außer dem eben erwähnten Eichbäumchen, in bequemer Reichweite starke und geschmeidige Stämme von Buchen und Stechpalmen ausgesucht zu meiner Naturgymnastik für Arm-, Brustund Rumpfmuskeln. Bald fühle ich Saft und Kraft in mir aufsteigen, wie Quecksilber in der Wärme. Dort in Sonne und Schatten halte ich äste oder schlanke Stämme zärtlich umfaßt, ringe mit ihrer harmlosen Stärke und w e i ß, daß die Lebenskraft von ihnen auf mich übergeht. (Oder vielleicht ist es ein Austausch zwischen uns — vielleicht gewahren die Bäume von alldem mehr, als ich mir je träumen ließ.)

Nun aber in vergnüglicher Gefangenschaft hier unter der großen Eiche — der Regen strömt, der Himmel ist mit bleiernen Wolken

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bedeckt — auf der einen Seite nichts als der Teich, auf der andern ein Grasflecken, besät mit den weißen Blüten der wilden Möhre — Axtklänge von einem fernen Holzschlag her: — warum bin ich so (beinahe) glücklich, ganz allein hier in dieser nichtssagenden Umgebung (wie die meisten Leute es nennen würden)? Warum würde jede Störung — selbst durch Leute, die ich gern habe, — den Zauber vernichten? Aber bin ich denn allein? Zweifellos kommt eine Zeit — vielleicht ist sie für mich gekommen — wo man mit seinem ganzen Wesen, vornehmlich im Gemüt, jene Identität fühlt zwischen dem subjektiven Ich und der objektiven Natur, die Schelling und Fichte so gerne betonen. Wie es ist, weiß ich nicht, aber oft werde ich mir hier einer Gegenwart bewußt — in klaren Stimmungen bin ich mir ihrer gewiß, und weder Chemie noch Logik noch ästhetik kann die geringste Erklärung dafür geben. Die ganzen beiden letzten Sommer hat sie meinen kranken Leib und meine kranke Seele gestärkt und genährt, wie nie zuvor. Dank, unsichtbarer Arzt, für deine stumme, köstliche Arznei, deinen Tag und deine Nacht, deine Wasser und deine Lüfte, für die Ufer, das Gras, die Bäume und sogar für das Unkraut!


Schmetterlinge

Schmetterlinge, nichts als Schmetterlinge flattern beständig hin und her (statt der Hummeln der letzten drei Monate, die ganz verschwunden sind) — alle Arten, weiße, gelbe, braune, purpurne — hin und wieder glitzert ein prächtiger Bursche lässig vorbei auf Flügeln, getupft mit allen Farben wie die Paletten der Maler. über der Brust des Teiches sehe ich viele weiße kreuz und quer ihren müßigen, launischen Flug verfolgen. Nah dem Platz, wo ich sitze, wächst ein hochstengeliges Kraut, verschwenderisch gekrönt mit tiefroten Blüten, auf die die scheeigen Insekten sich niederlassen und verweilen, manchmal vier oder fünf zur selben Zeit. Dann besucht sie ein Kolibri und ich beobachte ihn, wie er kommt und fortfliegt, zierlich sich wiegt und vorbeischimmert. Diese weißen Schmetterlinge geben neue, schöne Kontraste zu dem reinen Grün des Augustlaubs (wir haben kürzlich reichlichen Regen gehabt) und zu der gleißenden Bronze des Wasserspiegels. Man kann sogar

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manche von diesen Insekten zähmen; ich habe da einen großen, schönen Falter, der kennt mich und kommt zu mir und hat es gern, wenn ich ihn auf meiner ausgestreckten Hand halte.


Ein anderes Mal, später

Ein zwölf Morgen großes Feld reifer Kohlköpfe mit ihrer vorherrschenden Farbe von Malachitgrün; und darüber und dazwischen schweben und fliegen nach allen Richtungen Myriaden dieser weißen Schmetterlinge. Als ich heute den Feldweg heraufkam, sah ich eine lebendige Kugel aus ihnen, drei oder vier Fuß im Durchmesser, viele Dutzende zusammengeballt, die rollten, immer ihre Kugelform bewahrend, durch die Luft, sechs bis acht Fuß über dem Erdboden.


Erinnerung aus einer Nacht

Ich sitze am Teich, alles ist still, die breite, glänzende Fläche liegt vor mir. — Das Blau des Himmels und die weißen Wolken spiegeln sich darin — darüber huscht hie und da der Schatten eines fliegenden Vogels. Letzte Nacht war ich hier unten mit einem Freund bis nach Mitternacht; alles ein Wunder an Glanz — die Pracht der Sterne und der vollkommen runde Mond — die ziehenden Wolken, Silber und lichtes Gelbbraun — manchmal Massen von dunstig erleuchtetem Windgewölk — und schweigend an meiner Seite mein lieber Freund. Die Schatten der Bäume und Streifen Mondlichts auf dem Gras — die leicht bewegte Luft und der kaum spürbare Duft des nahen reifenden Kornes, die unbewegte durchgeistigte Nacht, unaussprechlich reich, zärtlich, inhaltvoll — alles in allem etwas, das die Seele durchdringt und noch lange nachher die Erinnerung stärkt, nährt und beruhigt.


Wilde Blumen

Das war, und ist noch, eine Festzeit für wilde Blumen; ganze Meere von ihnen stehen an den Wegen durch die Wälder, säumen die Ränder der Bäche, wachsen an all den alten Zäunen entlang

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und sind verschwenderisch über die Felder verstreut. Eine achtblättrige, goldgelbe Blüte, hell und licht, mit einem braunen Büschel in der Mitte, fast so groß wie ein silbernes Halbdollarstück, ist sehr verbreitet; auf einer langen Fahrt gestern sah ich sie in Massen an den Ufern jedes Baches stehen. Dann gibt es ein schönes, mit blauen Blüten bedecktes Kraut (von dem Blau der alten chinesischen Teetassen, die unsere Großtanten sammelten), bei dem ich immer stehenbleibe, um es zu bewundern; es ist ein wenig größer als ein Zehncentstück und sehr verbreitet. Weiß jedoch ist die vorherrschende Farbe. Von den wilden Möhren habe ich gesprochen; auch von dem wohlriechenden Immergrün. Aber alle Farben und Schönheiten sind vertreten besonders an den oft vorkommenden Strecken sprossender Zwergeichen und Zwergzedern hier herum. Wilde Astern in allen Farben. Trotz des Frosthauchs halten sich die abgehärteten kleinen Dinger in all ihrer Blütenpracht. Ebenso die Blätter der Bäume, manche fangen an, gelb oder braun oder graugrün zu werden. Die tiefe Weinfarbe der Färberbäume und Gummibäume läßt sich schon sehen und das Strohgelb der Birke.


Der Delaware — Tage und Nächte

Mit der Rückkehr des Frühlings zu den Wolken, den Lüften, den Wassern des Delaware kommen auch die Seemöwen wieder. Ich werde es niemals müde, ihrem weitausladenden, leichten, spiralenförmigen Flug zuzusehen oder wie sie schweben mit langsamen, unbewegten Flügeln oder herunteräugen mit ihrem gebogenen Schnabel oder nach Nahrung ins Wasser tauchen. Die Krähen, deren es übergenug den Winter hindurch gab, sind mit dem Eise verschwunden. Nicht eine ist jetzt zu sehen. Die Dampfboote sind wieder zum Vorschein gekommen — stattlich daherschnaufend, frisch bemalt für die Sommerarbeit.

Aber laßt mich das Ganze zusammenfassen und aufzählen: — den Fluß selbst, den ganzen Weg vom Meer her — Cape Island auf einer Seite und Henlopen-Leuchtturm auf der anderen, die breite Bucht hinauf nach Norden, und so bis Philadelphia und weiter bis Trenton; — die Gegenden, die ich am besten kenne (da ich einen großen Teil der Zeit in Camden zubringe, sehe ich die

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Dinge von diesem Aussichtspunkt) — die großen, hochmütigen, schwerbeladenen Ozeandampfer, die einoder auslaufen — die mächtige Breite hier zwischen den zwei Städten, durchschnitten von dem Windmühleneiland — gelegentlich ein Kriegsschiff, manchmal ein fremdes, vor Anker, mit seinen Geschützen und Stückpforten, und die Boote und braungebrannten Schiffer, und die regelmäßigen Ruderschläge, und die fröhlichen Schwärme von Ausflüglern — die häufigen großen, schönen Dreimaster, einige neu und sehr schmuck mit ihren weißgrauen Segeln und gelbem Fichtengestänge — die Schaluppen, die mit günstigem Wind daherrauschen — (ich sehe eben eine, wie sie herbeikommt mit breiten Segeln, ihr Gaffeltoppsegel leuchtet in der Sonne, hoch und malerisch — wie schön zwischen Himmel und Wasser!) — die wimmelnden Werften und Anlegeplätze die Stadt entlang — die Flaggen der verschiedenen Nationen, das starke, englische Kreuz auf seinem Grund von Blut, die französische Trikolore, das Banner des großen deutschen Kaiserreiches und die italienischen und spanischen Farben; — manchmal am Nachmittag die ganze Szenerie belebt von einer Flotte von Yachten, die mit halber Fahrt langsam vom Rennen in Gloucester heimkehren, und, wenn man den Blick nordwärts wendet, die langen Streifen weißflockigen Dampfes oder schmutzigschwarzen Rauches von der Küste von Kensington oder Richmond her, fächerförmig, schräg sich herüberziehend im Westsüdwestwind.


Szenen auf Fähre und Fluß — Winternächte

Dann die Camdenfähre! Welche Fröhlichkeit, Abwechslung, Belebtheit, Geschäftigkeit bei Tag. Was für beruhigende, schweigende, wunderbare Stunden bei Nacht, wenn ich im Boot überfahre, fast niemand außer mir darin, und allein auf dem Deck hin und her gehe, vorn oder achtern. Welche Zwiesprache mit dem Wasser, der Luft, dem köstlichen chiarascuro — der Himmel und die Sterne, die nichts, kein Wort zu dem Intellekt sprechen, und doch so beredt, so mitteilsam zu der Seele sind. Und die Fährleute — wie wenig wissen sie, was sie mir gewesen sind, Tag und Nacht, — wie viele Wolken von Verdrossenheit, Langerweile, Schwäche sie in ihrer rauhen Art mir vertrieben haben. Und die

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Lotsen — die Kapitäne Hand, Walton und Giberson am Tag; und Kapitän Olive nachts; Eugen Crosby, der mich mit seinen starken jungen Armen so oft stützte, umfing, sicher auf das Schiff geleitete über die Löcher auf der Brücke, über alle Hindernisse.

Ich habe von den Krähen gesprochen. Ich beobachte sie immer vom Boot aus. Ihre schwarzen Flecken heben sich gegen Schnee und Eis in dieser Jahreszeit überall ab — fliegend und flatternd oder auf kleinen oder größeren Schollen den Strom hinauf und hinab schwimmend. An einem Tag war der Fluß beinahe eisfrei — nur eine einzige lange Scholle abgebrochenen Eises bildete einen schmalen Streifen, der schnell die Strömung hinunterschwamm, über eine Meile weit. Auf diesem weißen Streifen waren die Krähen versammelt, Hunderte von ihnen — eine spaßige Fahrt.

Dann der Warteraum, ein genaues Bild des Lebens. Nachmittags, gegen halb vier Uhr; es beginnt zu schneien. Im Theater hat eine Nachmittagsvorstellung stattgefunden, von halb fünf bis fünf Uhr kommt der Strom der heimkehrenden Damen. Ich habe niemals in dem geräumigen Zimmer eine frohere, lebendigere Szene sich abspielen sehen — schöne, gutgekleidete Frauen und Mädchen aus Jersey, Dutzende von ihnen, die eine Stunde lang hereinströmen, mit hellen Augen und glühenden Gesichtern, aus der frischen Luft kommend — ein paar Sternchen Schnee auf den Kleidern und Hüten, wenn sie eintreten. — Die Wartezeit von fünf oder zehn Minuten — das Plaudern und Lachen — (Frauen können sich köstlich untereinander amüsieren, mit vielen witzigen Einfällen, in fröhlicher Hingegebenheit) — dazu die Laute der Glockenzeichen, der Dampfpfeifen der abfahrenden Schiffe mit ihren rhythmischen Pausen und Untertönen, — die vertraulichen Bilder, Mütter mit ihrer Schar Töchter (ein reizender Anblick), Kinder, Bauern, — die Bahnbeamten mit ihren blauen Röcken und Kappen — alle die verschiedenen Charaktere aus Stadt und Land dargestellt oder angedeutet. Dann draußen ein verspäteter Reisender, der sinnlos dem Boot nachrennt, nachspringt. Gegen sechs Uhr verdichtet sich der menschliche Strom allmählich — jetzt ein Gedränge von Fuhrwerken, Karren, aufgehäuften Kisten, jetzt ein Zug Rindvieh, der große Aufregung hervorruft, die Treiber mit schweren Stöcken, mit denen sie die dampfenden Flanken der verängstigten Tiere bearbeiten.



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Eine Januarnacht

Schöne Fahrten über den breiten Delaware heute nacht. Der Fluß nach acht Uhr voll von größtenteils aufgebrochenem Eis, aber ein paar große Schollen machen unser stark gebautes Dampfboot dröhnen und erzittern, als es gegen sie stößt. Im klaren Mondlicht breiten sie sich aus, seltsam, unirdisch, silberig, mattglänzend, so weit ich sehen kann. Stoßend, zitternd, manchmal wie tausend Schlangen zischend, gibt die steigende Flut, wie wir mit ihr oder durch sie hindurchfahren, einen mächtigen Grundton, im Einklang mit dem ganzen Bild. Die Pracht zu Häupten droben ist unbeschreiblich; aber es ist etwas Hochmütiges, fast Anmaßendes in der Nacht, niemals noch bin ich mir so des verborgenen Gefühls, ich möchte beinahe sagen der Leidenschaftlichkeit der schweigenden, unendlichen Sterne da oben bewußt geworden. In solcher Nacht kann man verstehen, warum seit den Tagen der Pharaonen oder des Hiob in dem mit Planeten besäten Himmelsdom die feinste, tiefste Kritik am menschlichen Stolz, Ruhm, Ehrgeiz empfunden wurde.


Eine andere Winternacht

Ich kenne nichts „Erfüllenderes“, als in einer klaren, kühlen Mondnacht auf dem weiten, festen Verdeck eines starken Schiffes zu stehen, das stolz und unwiderstehlich durch dieses dicke, marmorne, glänzende Eis stößt. Der ganze Fluß ist jetzt davon bedeckt — einige ungeheure Schollen. Es liegt etwas so Verzaubertes über der Szene — zum Teil durch die Art des bläulichen Lichtes, des Mondzwielichtes; — nur die großen Sterne können sich in dem Leuchten des Mondes durchsetzen. Die Luft ist scharf, angenehm für Bewegung, trocken, voll Sauerstoff. Und das Gefühl von Kraft — der feste, zornige, gebieterische Eifer unserer starken, neuen Maschine, indes sie ihren Weg durch die großen und kleinen Schollen pflügt!


Eine andere

Zwei Stunden lang fuhr ich über den Fluß, hin und her, nur zum Vergnügen — zu stiller Erregung. Himmel und Fluß

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veränderten sich öfters. Der Himmel hielt eine Zeitlang zwei große Fächer heller Wolken ausgebreitet, durch die der Mond hindurchging, leuchtend jetzt und eine Aureole von durchsichtigem Gelbbraun mit sich führend, und jetzt die ganze Weite mit hellem, dunstigem Lichtschleier, mit gemessener, frauenhafter Bewegung zog. Dann bei einer anderen Fahrt ist der Himmel vollkommen klar und Luna in all ihrem Glanz. Der Große Wagen im Norden mit dem Doppelstern an der Deichsel, viel deutlicher als gewöhnlich. Dann die glänzige Lichtspur auf dem Wasser, tanzend und sich kräuselnd. Verwandlungen, Bilder, Gedichte — unnachahmlich.


Eine andere

Ich studiere bei der überfahrt heute nacht die Sterne unter günstigen Umständen. Es ist spät im Februar und wieder besonders klar. Hoch im Westen die Plejaden, zitternd mit feinem Gefunkel im sanften Himmel — der Aldebaran, der die V-förmigen Hyaden führt — und droben im Süden die Capella mit ihren Zicklein. In voller Entfaltung im hohen Süden der majestätischste von allen, Orion, weit ausgebreitet, mächtig, der Hauptakteur auf dieser Bühne, mit der blitzenden, gelben Rosette an seiner Schulter und seinen drei Königen — und etwas gegen Westen Sirius, voll ruhigen Stolzes, der wunderbarste Einzelstern. Ich ging spät an Land (ich konnte mich von der Schönheit und Lindigkeit der Nacht nicht trennen) und während ich herumstand oder langsam weiterwanderte, hörte ich die hallenden Rufe der Bahnleute in dem Hof des Westjersey Depots, das Schieben und Rangieren der Züge, Lokomotiven usw. inmitten der allgemeinen Stille, und ein Etwas in der akustischen Beschaffenheit der Luft, musikalische, ergreifende Effekte, wie ich sie nie zuvor wahrgenommen. Ich verweilte lange, lange und lauschte.

Eine jener ruhigen, angenehm kühlen, köstlich klaren und wolkenlosen ersten Frühlingsnächte — die Atmosphäre wieder von dem seltsamen, gläsernen Blauschwarz, das den Astronomen so willkommen ist. Genau acht Uhr abends; die Szenerie droben von

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feierlichster, unvergleichlicher Schönheit. Venus fast unten im Westen, von einer Größe und einem Glanz, als wollte sie sich vor ihrem Untergehen selbst übertreffen. Schwellender, mütterlicher Himmelskörper, — ich nehme dich wieder in mich auf. Ich denke zurück an jenen Frühling vor Abraham Lincolns Ermordung, als ich ruhelos die Ufer des Potomac um Washington durchstreifte und dich beobachtete, hoch dort oben, schwermütig wie ich selbst:

„Als wir wanderten auf und ab in dem mystischen Dunkelblau,
Als wir in Schweigen wanderten in der durchsichtigen, schattigen Nacht,
Als ich sah, du habest mir etwas zu sagen, da du Nacht für Nacht dich mir neigtest,
Da du dich tief vom Himmel herniedersenktest als wie an meine Seite (indes die anderen Sterne alle zuschauten),
Da wir miteinander wanderten in der feierlichen Nacht.“

Mit der scheidenden Venus, groß bis zuletzt und bis zum Rande des Horizontes leuchtend, welch ein Schauspiel bietet das weite Gewölbe in diesem Augenblick! Merkur war just nach Sonnenuntergang sichtbar — ein seltener Anblick. Arkturus ist jetzt aufgegangen, genau im Nordosten. In ruhiger Pracht strahlen alle die Sterne des Orion an ihrem Platz im Meridian gegen Süden mit dem Sterbild des Hundes ein wenig links. Und jetzt steigt eben Spica auf, spät, tief und leicht verschleiert. Castor, Regulus und die übrigen alle leuchten ungewöhnlich hell (weder Mars noch Jupiter noch Mond bis zum Morgen). Am Rand des Flusses blinken viele Lichter — zwei oder drei ungeheure Schlote zwei Meilen aufwärts, die dicke Schmelzflammen ausstoßen, vulkanartig, die ganze Umgebung erleuchtend — und manchmal ein elektrisches oder Karbidlicht mit dantesken Infernostrahlen, weitausgereckten Speichen, furchtbar, geisterhaft mächtig.


Zwei Stadtteile

Kein Viertel dieser Stadt bietet an diesen schönen Mainachmittagen ein glänzenderes, lebhafteres, gedrängteres Menschenschauspiel als die Gegend, die die 14. Straße (besonders das kurze Stück zwischen Broadway und 5. Avenue) samt Union Square und Umgebung umfaßt. Alle die Straßen sind hier breit und die Plätze

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groß und frei — jetzt überflutet vom flüssigen Gold des machtvollen Sonnenscheins der letzten zwei Nachmittagsstunden. Gegen fünf Uhr muß der ganze Stadtteil an den Tagen meiner Beobachtung 30 bis 40 000 schön gekleidete Menschen enthalten haben, alle in Bewegung, viele gut aussehend, viel schöne Frauen, oft junges Volk und Kinder, die letzteren in Gruppen mit ihren Bonnen — die Trottoirs überall gedrängt voll dichten Gewühls (aber keine Zusammenstöße, keine Störung), voll Massen leuchtender Farben, Bewegung, geschmackvollen Toiletten (die Frauen kleiden sich zweifellos besser als früher und ebenso die Männer). Es ist, als ob New York an diesen Nachmittagen zeigen wollte, was es an erlesenen menschlichen Gestalten und Physiognomien, an unnachahmlicher Verschwendung von Fahrzeugen, Waren, Glanz, Magnetismus und Glück zu bieten hat.

Ein anderes Bild, ebenfalls von fünf bis sieben Uhr nachmittags. Die ganze 5. Avenue entlang und den ganzen Weg von den Ausgängen des Zentralparks in der 59. Straße bis hinunter zur 14. ein Mississippi von Pferden und reichen Fahrzeugen, nicht ein oder zwei Dutzende, sondern Hunderte und Tausende. Die breite Straße ist von ihnen erfüllt und vollgepfropft — ein regsames, blendendes, hastiges Gewühl, mehr als zwei Meilen lang. (Ich möchte wissen, ob es nie ins Stocken kommt, aber ich glaube, das geschieht nie.) All dies zusammen ist für mich das märchenhafte Bild von New York. Ich liebe es, einen der Omnibusse in der 5. Avenue zu besteigen und der reißenden Prozession entgegenzufahren. Ich glaube nicht, daß London oder Paris oder irgendeine andere Stadt der Welt einen derartigen Wagenkorso aufzuweisen hat, wie ich ihn hier fünfoder sechsmal an diesen schönen Mainachmittagen gesehen habe.


Ein schöner Nachmittag von vier bis sechs Uhr

Zehntausend Fahrzeuge eilen durch den Park an diesem vollkommenen Nachmittag. Welch ein Schauspiel! Und ich habe alles gesehen und genau und mit Muße beobachtet. Privatkaleschen, Droscken und Coupés, schöne Pferde, Schoßhunde, Bediente, modische Kleider, Ausländer, Kokarden an Hüten, Federbüsche — die ganze ozeangleiche Flut von New Yorks Reichtum und „Adel“.

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Es war ein imposanter, reicher, endloser Zirkus in größtem Maßstab, voll Bewegung und Farbe in der Schönheit des Tages, in der klaren Sonne und milden Luft. Familiengruppen, Paare, einzelne Fahrer — natürlich meist elegant gekleidet — viel Stil (aber vielleicht wenig oder nichts, selbst hierin, durch sich selbst voll gerechtfertigt). Durch die Fenster von zwei oder drei der vornehmsten Wagen sah ich Gesichter, fast leichenhaft, so aschfarben und schlaff. In der Tat ließ die ganze Angelegenheit in Geist und Haltung weniger vom echten Amerika erkennen, als ich von einem so erlesenen Massenschauspiel erwartet hätte. Ich glaube, daß es als Beweis für den grenzenlosen Reichtum und Luxus des schon erwähnten Adels überwältigend war. Aber das, was ich in diesen Stunden sah, ich benutzte zwei andere Gelegenheiten, zwei andere Nachmittage, um dieselbe Szene zu beobachten), bestärkte mich in einem Gedanken, der bei jedem neuen Blick, den ich auf die höchsten Schichten unserer reichen und vornehmen Welt werfe, immer wieder in mir auftaucht — nämlich der Gedanke, daß sie sich nicht behaglich fühlen, daß sie sich ihrer selbst zu bewußt sind, in viel zu viele Wachshüllen eingeschlossen und weit davon entfernt, glücklich zu sein, — daß nichts in ihnen ist, worum wir, die wir arm und einfach sind, sie zu beneiden brauchen, und daß sie statt des ewigfrischen Duftes von Gras und Wald und Küste immer nur den Geruch von Seifen und Parfüm atmen, der, so erlesen er sein mag, doch an den Friseurladen erinnert, — an etwas, das irgendwie in wenigen Stunden schal und dumpfig wird.


Schwalben am Fluß

Bewölkt und naß und Ostwind, die Luft ohne sichtbaren Nebel, aber sehr schwer von Feuchtigkeit. Als ich vormittags über den Delaware fuhr, sah ich eine ungewöhnliche Menge fliegender Schwalben, kreisend, hin und her schießend, anmutig über jede Beschreibung, dicht überm Wasser. In dichten Schwärmen flogen sie um den Bug des Fährbootes, als es an seinem Tau festgebunden lag, und als wir losfuhren, beobachtete ich ihre flink wendenden, sich schneidenden und kreuzenden Schleifenflüge über den Landungspfeilern und hin und her über dem breiten Strom und bis dicht an

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ihn herab. Obwohl ich Schwalben mein Leben lang gesehen hatte, war es mir, als hätte ich mir nie zuvor ihre besondere Schönheit und Eigenart in der Landschaft klar gemacht. Als ich vor einiger Zeit in einer riesigen alten Scheune eine lang den Flug dieser Vögel beobachtete, wurde ich an das 22. Buch der Odyssee erinnert, wo Odysseus, sich offenbarend, die Freier erschlägt und Minerva in Gestalt einer Schwalbe sich durch die Höhe der Halle emporschwingt, hoch oben auf einem Balken sitzt, wohlgefällig auf das Gemetzel blickt und sich in ihrem Element fühlt, frohlockend, freudig.


Die Prärien


(Rede vor einer Volksversammlung in Topeka, Kansas)

Wenn euch daran liegt, ein Wort von mir zu hören, will ich über diese eure Prärien zu euch sprechen; sie machen mir den tiefsten Eindruck von all den Bildern, die ich auf diesem meinem ersten leibhaftigen Besuch im Westen sehe oder gesehen habe. Als ich in rasendem Tempo hierher fuhr, mehr als tausend Meilen weit, durch das schöne Ohio, durch das brotspendende Indiana und Illinois, durch das weite Missouri, das alles hervorbringt, was es nur gibt; als ich eure reizende Stadt teilweise in den letzten zwei Tagen durchforschte und als ich auf dem Oreadenhügel bei der Universität stand und meine Augen über weite Flächen lebendigen Grüns nach allen Richtungen hin schweifen ließ — war ich tief ergriffen, sage ich, und werde es für den Rest meines Lebens bleiben, von diesem Wesenszug der Topographie eurer westlichen zentralen Welt — diesem ungeheuren Etwas, das sich nach seinen eigenen unbegrenzten Maßen unbeschränkt ausstreckt und das in diesen Prärien lebendig ist und, schön wie Träume, das Reale und Ideale miteinander vereint.

Ich frage mich, ob die Menschen dieses kontinentalen inneren Westens wissen, wieviel Kunst sie in diesen Prärien haben — wie urwüchsig und ganz euer eigen — wieviel Einwirkung auf die Bildung eines Charakters für euer zukünftiges Menschentum, breit, patriotisch, heroisch und neu? wie ganz sie zu der Größe und stolzen Monotonie des Himmels und zu dem Ozean mit seinen Wassern passen? wie befreiend, beruhigend, nährend sie für die Seele sind?



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Denn sind nicht sie es eigentlich, die uns unsere führenden modernen Amerikaner gegeben haben, Lincoln und Grant? — Männer aus dem breiten Durchschnitt, im Vordergrunde ihres Charakters ganz praktisch und real, aber dennoch (für diejenigen, die Augen haben zu sehen) mit den feinsten Untergründen eines Ideals, das sich so hoch wie nur irgendeines erhebt. Und sehen wir in ihnen nicht die vorausgeworfenen Schatten der zukünftigen Rassen, die diese Prärien füllen werden?

Nicht als ob die Yankeeund Atlantischen Staaten und jeder andere Teilstaat — Texas und die Staaten im Südosten und am Golf von Mexiko, das Reich an der pazifischen Küste, die Territorien und Seen im kanadischen Grenzstrich (noch ist der Tag nicht, an dem ganz Kanada dazu gehört, aber er wird kommen) — nicht, als ob sie alle nicht ebenbürtige, ungeteilte und untrennbare Glieder dieser Nation wären, die conditio sine qua non der menschlichen, politischen und kommerziellen Neuen Welt. Aber dieses bevorzugte zentrale Flachland von rund 2000 Meilen im Geviert scheint vom Schicksal bestimmt zu sein, die Heimat von dem zu werden, was ich Amerikas charakteristische Idealität und charakteristische Realität nennen möchte.


Ein egoistischer „Fund“

„Ich habe das Gesetz meiner eigenen Gedichte gefunden“, war das unausgesprochene, aber immer entschiedenere Gefühl, das in mir erwachte, als ich Stunde um Stunde durch all diese grimme, doch freudige, elementare Einsamkeit fuhr — diese Fülle von Stoff, diese völlige Abwesenheit von Kunst, dieses fessellose Spiel urwüchsiger Natur — Spalt, Schlucht und kristallener Bergstrom zahllose Male wiederholt, auf hunderte von Meilen hin — die Breite und absolute Ungebundenheit, mit der alles gefügt ist — die phantastischen Formen, gebadet in durchsichtigem Braun, zarten Rots und Graus, manchmal tausend, manchmal zweioder dreitausend Fuß hoch emporragend — auf ihren Gipfeln sind zuweilen riesige Massen gelagert, in die Wolken tauchend, bloß ihre Umrisse aus dunstigem Lila zu erkennen. — („Inmitten der erhabensten Bilder der Natur,“ sagt ein alter holländischer geistlicher Schriftsteller, „inmitten der Tiefen des Ozeans, wenn das möglich wäre, oder unter den zahllosen

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rollenden Welten droben in der Nacht denkt der Mensch an sie und beurteilt sie nicht abstrakt an sich, sondern immer mit Beziehung auf seine eigene Persönlichkeit und darauf, wie sie etwa auf ihn einwirken oder sein Schicksal bestimmen könnten.“)


Künstlerischer Charakter der Landschaft

Redet mir noch einmal davon, nach Europa zu gehen, um die Ruinen feudaler Burgen oder die überreste des Kolosseums oder die Schlösser von Königen zu besuchen, wenn ihr hierher kommen könnt! Auch Abwechslung gibt es hier; nach den tausend Meilen weiten Prärien von Illinois und Kansas — sanftem, ergiebigem Flachland für Korn und Weizen von zehn Millionen demokratischer Farmen der Zukunft — türmen sich hier in allen nur denkbaren Formen diese gar nicht nutzbaren Bergriesen auf, sich in den Himmelsraum wölbend, Schönheit, Schrecken, Macht ausströmend, mehr als Dante oder Angelo jemals ahnten. Ja, ich meine, der Milchsaft einer Dichtung, Malerei, Beredsamkeit, ja selbst einer Metaphysik und einer Musik, die für die Neue Welt passen soll, muß erst aus dem Anblick dieser Berge seine Kraft ziehen, ehe er endgültig stark genug wird.


Bergströme

Die spirituelle Belebtheit und Durchgeistigung dieser ganzen Region besteht für mich großenteils in ihren eigenartigen Strömen, denen man überall begegnet, da der Schnee der unzugänglichen oberen Gebiete beständig schmilzt und durch die Schluchten herabfließt. Nicht wie die Gewässer ländlicher Ebenen oder Bäche mit bewaldeten Ufern und Rasen oder dergleichen. Die Formen, die das Element des Wassers auf der Erdkugel annimmt, können erst dann von einem Künstler voll verstanden werden, wenn er diese einzigartigen Bergströme studiert hat.


ätherische Eindrücke

Aber der seltsame Eindruck, wenn ich mich umschaue, liegt vielleicht in den atmosphärischen Farbtönen. Die Prärien, durch die ich auf meiner Reise hierher fuhr, und diese Berge und Wälder

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scheinen mir neue Lichter und Schatten hervorzubringen. überall diese unnachahmliche Luft — Abstufungen und Himmelstönungen; noch nirgends sah ich solche durchsichtigen Lilas und Graus. Ich könnte mir einen hervorragenden Landschaftsmaler denken, einen feinen Koloristen, der, nachdem er eine Zeitlang hier gezeichnet hätte, seine ganze frühere Arbeit (das Entzücken der üblichen Ausstellungsbesucher) als schmutzig, roh und gekünstelt verwerfen würde. Dicht vor unseren Augen dehnt sich eine unendliche Mannigfaltigkeit aus, hoch droben das nackte Weißbraun, über der Baumgrenze; fern an manchen Stellen Schneeflecken das ganze Jahr über (keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel in diesen eisigen Höhen). Während ich schreibe, sehe ich den Snowy Range durch den blauen Duft, herrlich und fern. Ich sehe deutlich seine Schneefelder.


Eine Literatur des Mississippitales

Als ich an einem Regentag in Missouri lag und ausruhte, nachdem ich lange umhergelaufen war, um mir alles anzuschauen, geriet ich über ein dickes Buch, das ich da fand, „Milton, Young, Gray, Beattie and Collins“, hatte aber bald genug davon, erfreute mich indessen, wie schon so oft, eine Weile an W. Scotts Dichtungen „Lay of the last Minstrel“, „Marmion“ usw., — hörte dann auf, legte das Buch weg und beschäftigte mich mit dem Gedanken an eine Poesie, die im Lauf der Zeit der fruchtbaren Gegend, in deren Mitte ich mich befand, Ausdruck und Nahrung geben könnte. überall in den Vereinigten Staaten braucht es nur einen Augenblick überlegung, um klar zu erkennen, daß all die populären Buchund Bibliotheksdichter, wie sie entweder von England importiert werden oder hierzulande ihre Nachahmer und Doppelgänger finden, unseren Staaten fremd sind, soviel sie auch von uns allen gelesen werden. Um aber völlig zu verstehen, wie absolut im Gegensatz zu unserer Zeit und unserem Land, und wie kleinlich und beschränkt sie sind und welche Anachronismen und Absurditäten sie — vom amerikanischen Standpunkt aus — vielfach enthalten, muß man eine Zeitlang in Missouri, Kansas und Colorado wohnen oder reisen und mit Land und Volk dieser Staaten in Fühlung kommen.



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Wird je der Tag kommen — gleichgültig wie spät —, da diese Modelle und Gliederpuppen von den britischen Inseln, ja auch die kostbaren Traditionen der Klassiker, nur Reminiszenzen, Studienobjekte sein werden? Der reine Atem, die Ursprünglichkeit, die grenzenlose Fruchtbarkeit und Weite, die seltsame Mischung von Zartheit und Kraft und Mäßigung, von Realem und Idealem, von all den eigentümlichen und tüchtigen Elementen in diesen Prärien, den Rocky Mountains, dem Mississippi und Missouri — wird das alles je in unserer Poesie und Kunst Gestalt erlangen und irgendwie zum Maßstab werden?

Vor kurzem war ich auf einem Dampfer im New Yorker Hafen, sah den Sonnenuntergang über den dunkelgrünen Hügeln von Navesink und betrachtete den unvergleichlichen Kranz von Küste, Hafen und Meer um Sandy Hook. Aber kaum eine oder zwei Wochen, und mein Blick fällt auf die dunklen Gipfelkonturen der „Spanish Peaks“. In dem mehr als 2000 Meilen weiten Zwischenraum findet trotz einer unendlichen und widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit zweifellos eine merkwürdige, völlige Verschmelzung statt, in der nach und nach alles ausgeglüht, verdichtet und vereinheitlicht wird. Aber eindringlicher, umfassender und dauerhafter als durch die Gesetzgebung der Einzelstaaten oder den gemeinsamen Boden des Kongresses und des höchsten Gerichtshofs oder durch die grausame Schweißung unserer Nationalkriege oder durch die Stahlbande unserer Eisenbahnen oder durch alle Verkittungsund Schmelzprozesse unserer materiellen und kommerziellen Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart würde meines Erachtens eine solche Verdichtung durch eine große, pulsierende, lebenskräftige Dichtung oder eine Reihe von Dichtungen oder eine ganze Literatur erzielt werden. Die Ebenen, die Prärien und der Mississippistrom mit der ganzen Weite seines vielgestaltigen Tales müßten den konkreten Hintergrund dieser Literatur bilden. Und Amerikas Bevölkerung, Leidenschaften, Kämpfe, Hoffnungen — wie sie sind — müßten die lodernde Flamme, das Ideal dazu sein.


Amerikas Größe

Die überlegenheit und Lebenskraft unseres Amerika liegt in der Masse des Volkes, nicht in einer Aristokratie, wie in der alten

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Welt. Die Größe unseres Heeres während des Bürgerkrieges lag in der Linie; und so ist es auch bei der Nation. Andere Länder ziehen ihre Lebenskraft aus Wenigen, aus einer Klasse, wir aber aus der Gesamtheit des Volkes. Unsere Führer sind nicht gerade bedeutend und sind es nie gewesen; aber der Durchschnitt des Volkes ist gewaltiger als alles in der bisherigen Geschichte. Ich denke manchmal, daß sich unsere überlegenheit auf allen Gebieten, einschließlich Literatur und Kunst, in dieser Weise zeigen wird: Wir werden keine großen Individuen haben, aber ein großes, unvergleichlich großes Durchschnittsvolk.


Die Frauen des Westens

Von dem, was ich von den Frauen der Präriestädte zu sehen bekomme, bin ich nicht so befriedigt. Ich schreibe dies, während ich gemütlich in einem Laden an der Hauptstraße von Kansas sitze und ein Menschenstrom auf den Trottoirs an mir vorüberflutet. Die Damen (ebenso wie in Denver) sind alle elegant gekleidet und erscheinen vornehm an Gesicht, Benehmen und Tun, aber sie haben weder in Gestalt noch Geistigkeit eine irgendwie in ihrer Art hohe angeborene Eigenart (wie die Männer sie zweifellos in ihrer Art haben). Sie sehen „intellektuell“ und elegant, aber dyspeptisch und im großen Granzen puppenhaft aus. Sie haben offenbar den Ehrgeiz, ihre Schwestern im Osten zu kopieren. Etwas ganz anderes und Höheres muß kommen, um mit der herrlichen Männlichkeit des Westens zu wetteifern, sie zu ergänzen, zu erhalten und fortzupflanzen.


Das Boston von heute

In den interessanten aber fragwürdigen Briefen Dr. Schliemanns über seine Ausgrabungen aus der alten homerischen Zeit lese ich, daß die Städte, Ruinen usw., die er aus ihren Gräbern schaufelt, zweifellos in Schichten gelagert sind, — das heißt, daß auf den Fundamenten eines alten, sehr tief gelegenen Komplexes immer eine zweite Stadt oder ein zweiter Ruinenkomplex und über diesem wieder ein anderer ruht — und zuweilen noch ein anderer darüber

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— deren jeder das Ergebnis einer langen oder auch rapiden Entwicklung darstellt, die von der vorigen verschieden ist, aber unzweifelhaft aus ihr hervorgewachsen ist und auf ihr ruht. In der moralischen, gefühlsmäßigen, heroisch-menschlichen Entwicklung (die nach meiner Meinung das Wesentliche einer Rasse ist) hat etwas ähnlichkes sicherlich in Boston stattgefunden. Wie die Metropole Neu-Englands heute ist, kann man sie als sonnig beschreiben, als heiter, aufnahmefähig, voll Glut und Glanz, mit einem gewissen Element von Sehnsucht, von großartiger Toleranz, mit der sich aber nicht spaßen läßt. Man liebt hier gut zu essen und zu trinken — die äußere Erscheinung so kostbar, als es die Mittel erlauben. An Häusern, Straßen, Menschen ist in ihrem besten Durchschnitt jenes feine Etwas (gewöhnlich dem Klima zugeschrieben; es ist aber nicht das — es ist etwas Undefinierbares in der Rasse, im Verlauf ihrer Entwicklung), das hinter all dem Trubel von Tätigkeit, Studium, Geschäft einen glücklichen und frohen, im Gegensatz zu einem schwerfälligen und finsteren Gemeingeist ausströmt. Es erinnert mich an die Leuchtkraft, die von den altgriechischen Städten zu uns kommt. In der Tat ist sehr viel Hellenisches in Boston, und die Menschen werden auch stattlicher, voller, mit freieren Bewegungen und Farbe im Gesicht. Ich habe nirgends (dies ist nun zwar nicht griechisch) so viele schöne grauhaarige Frauen gesehen. Während meines Vortrages ertappte ich mich mehr als einmal dabei, daß ich eine Pause machte, um sie mir anzusehen. Es waren viele unter den Zuhörern, — gesund, frauenhaft und mütterlich, wunderbar anmutig und schön — so, wie sie, glaube ich, keine Zeit und kein Land außer dem unsrigen aufzuweisen hat.


Millets Gemälde

Besuchte das Haus von Quincy Shaw, drei oder vier Meilen weit, um eine Sammlung von J. F. Millets Gemälden zu sehen. Zwei Stunden der Entzückung. Noch nie war ich so überwältigt von solcher Ausdrucksform. Ich stand lange, lange vor dem „Säemann“. Ich glaube die Kunsthändler nennen das Bild den „Ersten Säemann“, da der Künstler noch eine oder zwei Kopien davon machte und, wie manche meinen, sich in jeder wieder vervollkommnete.

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Ich bezweifle es aber. Es ist etwas darin, das kaum wieder zu erreichen sein dürfte, eine erhabene Düsterkeit und urwüchsige gebundene Wildheit. Außer diesem Meisterstück waren noch viele andere da (ich werde die einfache Abendszene, „Tränken der Kuh“, nie vergessen), alle unvergleichlich, alle vollkommen als Bilder, als Kunstwerke an sich; und dann glaubte ich jenen undefinierbaren ethischen Endzweck des Künstlers (ihm selbst wahrscheinlich unbewußt) darin zu entdecken, wonach ich immer suche. Mir erzählten sie alle die ganze Vorgeschichte und die Ursache der großen französischen Revolution, das vorherige lange An-die-Erde-Drücken der Massen eines heroischen Volkes zu elendem Hungern und Darben — die Vorenthaltung aller Rechte, den Versuch, die Menschheit um Generationen zurückzuhalten — und doch die Naturgewalt, titanisch, nur um so stärker und zäher durch solche Unterdrückung — furchtbar lauernd, um hervorzubrechen, rachebrütend — der Druck gegen die Dämme, das endliche Bersten, die Erstürmung der Bastille — die Hinrichtung des Königs und der Königin — der Wettersturm von Mord und Blut. Doch wer wird sich wundern?


„Könnten wir die Menschheit anders wünschen?
Wollen wir ein Volk von Holz und Stein?
Keine Gerechtigkeit in Schicksal und Zeit?“

Das echte Frankreich, sein Grundelement, lebt sicherlich in diesen Bildern . . . Abgesehen von allem anderen werde ich meines kurzen Aufenthaltes in Boston immer gedenken, weil er mir die Neue Welt von Millets Bildern eröffnete. Wird Amerika je einen solchen Künstler haben, der aus des Landes eigenstem Lebenskern, aus seinem Körper und seiner Seele hervorginge?


Vögel — und eine Warnung

Wieder daheim; auf eine Weile unten in den Wäldern von Jersey. Zwischen acht und neun Uhr vormittags ein ganzes Vogelkonzert, von allen Seiten her, zusammenklingend mit dem frischen Duft, dem Frieden, der Natürlichkeit rings um mich her. Seit kurzem sehe ich die Rotdrossel, von der Größe des Rotkehlchens*, oder ein

*Das amerikanische Rotkehlchen ist etwa dreimal so groß wie das unsrige. (Anmerkung des übersetzers.)



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bißchen kleiner, Brust und Schultern hell, mit unregelmäßigen dunklen Streifen, langem Schwanz, — sie kauert zur Zeit stundenlang oben auf einem hohen Busch oder einem Baum, lustig singend. Ich gehe oft nahe zu ihr hin und höre ihr zu, da sie nicht scheu zu sein scheint. Ich liebe es, zuzusehen, wie ihr Schnabel und ihre Kehle arbeitet, wie der Körper sich seitwärts hin und her bewegt und der lange Schwanz wippt. — Ich höre den Specht; bei Nacht und am frühen Morgen das Weben des Ziegenmelkers — mittags das köstliche Gurgeln der Drossel und das Mio-o-o des Katzenvogels. Viele kann ich nicht mit Namen nennen; ich erkundige mich aber auch nicht besonders danach. Man darf nicht zu viel wissen oder zu genau und wissenschaftlich sein bei Vögeln und Bäumen und Blumen und Gewässern; eine gewisse Freiheit, ja sogar Unbestimmtheit, vielleicht Unwissenheit, Gläubigkeit erhöht die Freude an diesen Dingen und an dem Gefühl für Vögel, Wald, Fluß und See überhaupt. Ich wiederhole es — man soll nicht alles zu genau wissen wollen oder die Gründe, warum. Meine eigenen Aufzeichnungen sind aus dem Stegreif hingeschrieben unter der Breite von Mittel-New Jersey. Wenn sie auch beschreiben, was ich sah, was mir vor Augen kam, so dürfte doch der gelernte Ornithologe, Botaniker oder Entomologe mehr als einen Schnitzer darin entdecken.


Boston Common*

An diesen schönen Tagen und Nächten verbringe ich ein gut Teil meiner Zeit im Stadtpark — jeden Mittag von halb zwölf bis gegen eins — und fast an jedem Abend bei Sonnenuntergang noch eine Stunde. Ich kenne all die großen Bäume, besonders die alten Ulmen an der Tremontund Beacon-Straße, und habe mit den meisten eine schweigend-vertraute Freundschaft geschlossen, während ich so in der durchsonnten, aber ziehmlich kühlen Luft auf den weiten ungepflasterten Wegen umhergehe.

In dieser Gegen an der Beacon-Straße, zwischen denselben alten Ulmen, ging ich vor einundzwanzig Jahren an einem klaren, kalten Februarmittag mit Emerson zwei Stunden lang auf und ab. Er

*Der Stadtpark in Boston. (Anmerkung des übersetzers.)



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war damals im besten Alter, scharf, phyisisch und moralisch magnetisch, gegen alles gewaffnet und ließ, wenn er wollte, das Seelische ebenso wirkungsvoll wie das Intellektuelle spielen. Während jener zwei Stunden war er der Sprecher und ich der Zuhörer. Es war eine Beweisführung, ein Auskundschaften, Besichtigen, Angreifen, Bedrängen (ein Armeekorps in Schlachtordnung, Artillerie, Kavallerie, Infanterie) von allem, was gegen jenen Teil (einen Hauptteil) in der Komposition meiner Gedichte, die „Kinder Adams“, vorgebracht werden konnte. Für mich kostbarer als Gold, diese Abhandlung — sie gab mir für alle Zukunft die seltsame und widerspruchsvolle Lehre: jeder einzelne Punkt von Emersons Beweisführung war unwiderleglich; keines Richters Anklagerede je vollständiger und überzeugender; ich könnte die Beweise nie besser formulieren hören — und dann fühlte ich auf dem Grund meiner Seele die klare und unverkennbare überzeugung, daß ich allem trotzen und meinen eigenen Weg gehen müsse. „Was haben Sie nun auf das alles zu sagen?“ sagte Emerson, als er schließlich innehielt. „Nur, daß ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich doch entschlossener fühle als je, an meiner eigenen Theorie festzuhalten und sie zu bestätigen“, war meine freimütige Antwort. Worauf wir weggingen und ein gutes Mittagessen im „American House“ einnahmen. Und von da an schwankte oder zweifelte ich nie mehr (wie es, offen gestanden, vorher zweioder dreimal der Fall gewesen war).


Nur ein neues Fährboot

Ein solcher Anblick, wie ihn der Delaware gestern abend eine Stunde vor Sonnenuntergang bot, auf der ganzen Strecke zwischen Philadelphia und Camden, ist der Aufzeichnung wert. Es war Flutzeit, eine gute Brise von Südwest, das Wasser blaß, lohfarben und gerade genug bewegt, um alles frisch und fröhlich zu beleben; ein beginnender Sonnenuntergang von ungewöhnlichem Glanz, ein breites Wolkengewühl ganz in goldenem Dunst, aus dem blendende Lichtstrahlen hervorschossen. Mitten in alledem, in dem klaren Graugelb des Abendlichtes, dampfte das große neue Boot den Fluß herauf, die „Wenoah“, so schön, wie man sich nur etwas

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vorstellen kann; leicht und schnell daherschäumend, ganz blank und weiß, voll leuchtend roter und blauer Flaggen, die in der Brise flatterten. Nur ein neues Fährboot, und doch in seiner Zweckmäßigkeit dem Schönsten, was die Geschicklichkeit der Natur hervorbringt, vergleichbar und ebenbürtig. Hoch oben im unsichtbaren äther wiegten sich und kreisten vier oder fünf große Seefalken anmutig, während hier unten, inmitten der malerischen Pracht von Himmel und Fluß, diese Schöpfung technischer Schönheit, Bewegung und Kraft schwamm, in ihrer Art nicht weniger vollkommen.


Nach dem Versuch, ein gewisses Buch zu lesen

Ich habe versucht, ein prachtvoll gedrucktes und gelehrtes Buch über die „Theorie der Dichtkunst“ zu lesen, das ich heute früh von England zugeschickt bekam, — habe es aber schließlich als verlorene Mühe aufgegeben. Hier ein paar willkürliche Notizen, die sich daraus ergaben, die ich daraufhin niederschrieb, wie ich sie eben in meinen Papieren finde:

In der Jugend und im Mannesalter sind alle Gedichte angefüllt mit Sonnenschein und mit dem wechselreichen Prunk des Tages. Wie aber as Seelische mehr und mehr die Oberhand gewinnt (das Sinnliche immer noch dabei), wird die Dämmerung die Atmosphäre des Dichters. Auch ich habe die strahlende Sonne gesucht und suche sie noch immer und mache meine Gedichte entsprechend. Aber jetzt, da ich alt werde, bedeuten die Halblichter des Abends viel mehr für mich.

Das Spiel der Einbildungskraft mit den sinnlichen Gegenständen der Natur als Symbolen — mit Glauben, Liebe und Stolz als dem unsichtbaren Antrieb, den Bewegkräften von allem —, daraus setzt sich das seltsame Schachspiel eines Gedichts zusammen.

Die gewöhnlichen Leser oder Kritiker fragen immer: „Was bedeutet es?“ Eine schöne Musiksymphonie oder ein Sonnenuntergang oder Meerwogen, die sich auf den Strand wälzen — was bedeuten sie? Gewiß, im innerlichst-unfaßbaren Sinn bedeuten sie etwas — wie Liebe und Religion und das beste Gedicht auch; aber

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wer kann diese Bedeutung ergründen und definieren? Dies soll kein Freibrief sein für Willkür und verrückte Eskapaden — es soll nur die Tatsache rechtfertigen, daß die Seele sich häufig über etwas freut, was für Vernunft und überlegung unerklärlich bleibt.

Im besten Fall ist eine Lehre der Poetik so viel, als von einer Unterhaltung ferner oder verborgener Sprecher im Dunkeln zu hören ist, von der wir nur ein abgebrochenes Gemurmel vernehmen können. Was nicht zu uns dringt, ist weit mehr, vielleicht die Hauptsache.

Erhabenste Stellen von Dichtungen sind nur in freiem Abstand zu genießen, wie wir manchmal bie Nacht nach Sternen schauen, nicht indem wir direkt auf sie blicken, sondern etwas zur Seite.

(Einem poetischen Schüler und Freund.) — Ich versuche nur, dich in Beziehung zur Dichtkunst zu bringen. Dein eigenes Hirn, Herz und deine eigene Fortentwicklung muß die Sache nicht nur verstehen, sondern selbst reichlich dazu beitragen.


Edgar Poes Bedeutung

Wenn ich die Krankheit diagnostiziere, die „Menschheit“ genannt ist — (um einmal aus der Geistesverfassung heraus zu sprechen, die die beherrschende in der Persönlichkeit und den Schriften des Mannes zu sein scheint, von dem ich rede) — so will es mir scheinen, daß die Dichter irgendwie ihre ausgeprägtesten Symptome sind. Wenn wir die Künstler — Musiker, Maler, Schauspieler usw. als ein Ganzes nehmen und sie allesamt als Ausstrahlungen oder Speichen dieses wild wirbelnden Rades betrachten und die Dichtung als Mittelpunkt und Achse des Ganzen, — wo in der Tat könnten wir besser als hier die Urbeweggründe, Triebkräfte und Merkmale unserer Zeit, den Krankheitsfall unserer Epoche studieren?



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Nach einstimmigem Urteil gibt es nichts Besseres für einen Mann oder ein Weib, als ein vollkommenes, edles Leben, moralisch fleckenlos, mit einem glücklichen Gleichmaß von Tätigkeit, physisch gesund und rein, ein Leben, das auch dem sympathischen, menschlich-gefühlsmäßigen Element sein Recht und nicht mehr als sein Recht gewährt, — ein Leben bei alledem, das weder hastet noch ruht noch ermüdet bis ans Ende. Und dennoch gibt es noch eine andere Form von Persönlichkeit, die dem künstlerischen Sinn weit lieber ist (da er das Spiel der stärksten Lichter und Schatten liebt), — die den höchstvollkommenen Charakter, das Gute, Heroische, zwar niemals erreicht, aber dennoch nie aus dem Auge verliert, sondern durch Fehlschläge, Sorgen, zeitweiligen Zusammenbruch hindurch immer wieder zu ihm zurückkehrt und — mag sie auch oft dagegen sündigen — leidenschaftlich danach ringt, solange Geist, Muskeln und Stimme der Kraft gehorchen, die wir Willen nennen. Diese Art von Persönlichkeiten sehen wir mehr oder weniger in Burns, Byron, Schiller und George Sand. Aber nicht in Edgar Poe. Dagegen liegt der Dienst, den Poe dem zuerst bezeichneten Charakter erweist, sicherlich darin, daß er einen absoluten Kontrast und Widerspruch dazu schafft, was beinahe ebenso wertvoll ist, als wenn er ein vollkommenes Beispiel davon darstellen würde.

Beinahe ohne jede Spur von einem moralischen Prinzip oder von dem Realen und seiner Größe oder von den einfacheren Herzensregungen, weisen die Gedichte Poes ein intensives Talent für technische und abstrakte Schönheit auf, mit einer bis zum übermaß getriebenen Reimkunst, einer unverbesserlichen Vorliebe für Nachtmotive, einem dämonischen Unterton hinter jeder Seite, — und das Endurteil über sie wird wahrscheinlich sein, daß sie zu den elektrischen Lichtern der phantastischen Literatur gehören, glänzend und blendend, aber ohne Wärme . . .

Lange Zeit und bis vor kurzem fand ich keinen Geschmack an Poes Schriften. Ich wollte und will noch, daß in der Dichtung die klare Sonne scheint und frische Luft weht — daß Kraft und Gesundheit auch in den stürmischsten Leidenschaften waltet, nicht Delirium — und daß die ewigen Sittengesetze hinter allem stehen. Obwohl Poes Genius diese Forderungen nicht erfüllt, so hat er es doch zu einer Anerkennung seiner Eigenart gebracht, und auch

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ich bin dahin gelangt, diese Anerkennung zu billigen und seinen Wert zu schätzen.

In einem Traum, den ich einmal hatte, sah ich ein Schiff auf See im Sturm um Mitternacht. Es war kein großes, vollgetakeltes Schiff noch stolzer Dampfer, der sicher duch das Geheul steuerte, sondern es schien eine jener wundervollen kleinen Schonerjachten zu sein, die ich oft so munter hüpfend im Hafen von New York oder im Long Island-Sund hatte vor Anker liegen sehen, — und die jetzt steuerlos, mit zerfetzten Segeln und geknickten Spieren durch die wilden Schloßen und Winde und Wellen der Nacht dahinflog. An Deck stand eine schlanke, zarte, schöne Gestalt, ein dunkler Mann, der offenbar all das Grausen, die Finsternis und Zerstörung mit Lust genoß, deren Mittelpunkt und Opfer er war. Diese Gestalt meines düsteren Traumes mag ein Bild Edgar Poes sein, seines Geistes, seines Geschicks und seiner Dichtungen, die selber allesamt düstere Träume sind.


Ein Wink der wilden Natur

Als ich heute über den Delaware fuhr, sah ich einen großen Flug wilder Gänse, gerade über mir, nicht sehr hoch, in V-Form geordnet, sich abhebend gegen die hell rauchfarbenen Mittagswolken. Ich sah sie ganz deutlich, obwohl nur einen Augenblick, und wie sie dann weiterflogen nach Südosten, bis sie allmählich verschwanden. — Seltsame Gedanken lösten sich in mir in diesen kaum zwei oder drei Minuten, als ich diese Geschöpfe durch den Himmel ziehen sah — durch das weite, luftige Reich — überall nur dieses Rauchgrau ohne Sonne — das Wasser unten — der rapide Flug der Vögel, just für einen Augenblick auftauchend — mir einen Wink zublitzend von der ganzen Weite der Natur mit ihrer ewigen, unverfälschten Frische, ihren nie von Menschen besuchten Bereichen von See, Himmel und Küste — und dann verschwindend in der Ferne.


Carlyle von amerikanischen Gesichtspunkten aus beurteilt

Es besteht gegenwärtig sicher eine unerklärliche Wechselbeziehung — ob sie nun andauert oder nicht, ist gleichgültig —

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zwischen diesem verstorbenen Autor und unsern Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Maße, wie wir Westler endgültige Gestalt annehmen und bisher unbekannte Formen und Ergebnisse erzielen, ist es interessant, zu beobachten, mit welch neuen Sinnen wir auf repräsentative Persönlichkeiten und Ereignisse blicken, die aus der Alten Welt erwachsen sind. Ohne Frage ist seit Carlyles Tode nicht nur das Interesse an seinen Büchern, sondern an jeder persönlichen Einzelheit, die den berühmten Schotten betrifft, heute in unserem Lande lebhafter und allgemeiner als in seiner eigenen Heimat. Ob es mir nun gelingt oder nicht, — auch ich möchte über den Ozean reichen, die dunkeln Wahrsagungen des Mannes über Menschheit und Politik prüfen und alles (das ist die Idee, die mir kommt) widerlegen durch einen, der diesen Fragen viel gründlicher das Horoskop gestellt hat — G. F. Hegel.*

. . . Es war das grausame Schicksal Carlyles, das Kreißen und die Wehen einer alten Ordnung mitzuerleben und in hohem Maße selbst zu verkörpern, die inmitten einer erstickenden Fülle von Morbidität eine neue Ordnung gebar . . . Aber man stelle sich vor, daß er, oder seine Eltern vor ihm, nach Amerika gekommen, durch die aufmunternden Wirklichkeiten und die Tatkraft unseres Landes und Volkes erfrischt worden wäre, — daß er unter uns, besonders im Westen, aufgewachsen wäre und Auge in Auge mit dem Leben gerungen hätte, — daß er die unbegrenzte Luft, die schrankenlosen Möglichkeiten bei uns einund ausgeatmet hätte, geistig hingegeben an die Theorien und Entwicklungen unserer Republik, inmitten praktischer Tatsachen, wie sie einem in Kansas, Missouri, Illinois, Tennessee oder Louisiana entgegentreten. Ich sage Tatsachen, Dinge, denen man Auge in Auge gegenübersteht, so verschieden von Büchern und von all den Bagatellen und bloßen Berichten in den Bibliotheken, von denen der Mann beinahe ganz

*Besonders erwähnenswert ist hierbei (vielleicht ein Fall jenes Humors, womit Geschichte und Vorsehung ihren Ernst zu kontrastieren pflegen), daß, obwohl keine meiner großen Autoritäten zu ihren Lebzeiten die Vereinigten Staaten ernstlicher Erwähnung würdigte, alle Hauptwerke beider heute mit Fug und Recht gesammelt und unter dem fettgedruckten Titel zusammengebunden werden könnten: „Spekulationen für den Gebrauch Nordamerikas und der dortigen Demokratie in ihren Beziehungen zur Metaphysik, einschließlich Lehren und Warnungen (auch Ermutigungen, und zwar im weitesten Sinne) von der Alten Welt für die Neue.“



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zehrte, und die selbst sein starker und lebendiger Geist, wenn es hoch kommt, nur reflektierte. (Ein Witzwort sagte über den Dreißigjährigen, daß es in Schottland niemand gäbe, der so viel aufgelesen und so wenig gesehen habe.) . . .

Carlyles Schaffen auf dem Gebiete der Literatur gleicht nach Anlage und Ausführung in ein oder zwei Hauptpunkten dem Wirken Immanuel Kants auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie. Aber der Schotte hatte nichts von dem magenstarken Phlegma und der unerschütterlichen Gelassenheit des Königsberger Weisen; auch erkannte er nicht wie dieser seine eigenen Grenzen, vor denen er haltgemacht hätte. Er schafft Gestrüpp, Giftranken und Gesträuch weg — wenigstens haut er tapfer darauf ein und schlägt alles kurz und klein. Kant tat etwas ähnliches auf seinem Gebiete, und das war auch alles, was er tun wollte; seine Arbeit hat den Boden für immer völlig geebnet — und wahrscheinlich hat kein anderer Sterblicher der Menschheit je einen größeren Dienst erwiesen. Der schmerzlichste Fehler Carlyles aber scheint mir darin zu bestehen, daß er offenbar inmitten eines Wirbels von Nebel, Leidenschaft und sich kreuzenden Absichten immer fest glaubte, er besitze zur Heilung der Weltübel ein Universalmittel, und es sei sein Lebensberuf, es zu verbreiten.

Carlyle hatte zwei Anker, oder Rüstanker, um sein Schiff im äußersten Notfall im Gleichgewicht zu erhalten. Von dem einen wird sogleich des Näheren die Rede sein. Den anderen, vielleicht den wichtigeren, konnte er nur in einer ausgesprochenen Form persönlicher Energie, in einem außerordentlichen Grade von entscheidender Willensund Tatkraft finden, in Menschen, die „zum Herrschen geboren“ sind. Wahrscheinlich floß dem Schotten in allen Adern ein Element, das sich für diese Art Charakter vor allem andern in der Welt erwärmte und das ihn meines Erachtens zum Hauptverherrlicher und -verkünder solcher Charaktere in der Literatur machte, — mehr als Plutarch und Shakespeare. Die großen Massen der Menschheit sind ihm nichts, wenigstens nichts weiter als chaotisches Rohmaterial; für ihn gelten nur die großen Planeten und glänzenden Sonnen! Gegen Idee fast unveränderlich gleichgültig und kalt, wurde er unfehlbar durch eine kraftvolle Persönlichkeit ersten Ranges zu leidenschaftlichen Lobpreisungen und wildem Entzücken hingerissen. In solchem Falle wurde auch

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der Anspruch an Pflichterfüllung herabgeschraubt und vertuscht. Alles, was man unter den Worten Republikanismus und Demokratie versteht, war von Anfang an nicht nach seinem Geschmack und wurde ihm bei zunehmenden Alter verhaßt und zum Abscheu. Bei einem so zweifellos aufrichtigen und gewissenhaften Geist wie dem seinen ist es erstaunlich, welche wichtigen Faktoren er hartnäckig ignorierte.

Zum Beispiel die Aussicht, nein Gewißheit, daß das demokratische Prinzip jedem einzelnen Staate der heutigen Welt nicht sowohl zu vollkommenen Gesetzgebern und Beamten verhelfen wird, sondern daß es das einzig wirksame Mittel ist, um sicher, wenn auch noch so langsam, das Volk im großen Maßstabe zu freiwilliger Selbstregierung und Selbstverwaltung zu erziehen (das Endziel der politischen und aller übrigen Entwicklung), das „Regieren“ allmählich auf ein Minimum zu beschränken und die ganze Bureaukratie und all ihr Tun den Teleskopen und Mikroskopen von Parteien und Komitees zu unterwerfen — und, was das Größte von allem ist, jenen Gewässern der großen Tiefe, die offenbar ein für allemal ihre alten Schranken durchbrochen haben, eine umfassende, gesunde, immer wiederkehrende Bewegung von Ebbe und Flut zu ermöglichen, nicht Stagnation und gehorsame Genügsamkeit, mit der man bei dem Feudalismus und Klerikalismus der antiken und mittelalterlichen Welt auskam, — daran scheint Carlyle nie gedacht zu haben. Es war prachtvoll, wie er bis zuletzt jeden Kompromiß ablehnte. Er war merkwürdig antik. Seine barsche, malerische, höchst machtvolle Erscheinung und Stimme versetzt einen aus dem England der Gegenwart um mehr als 2000 Jahre zurück in die Gegend zwischen Jerusalem und Tarsus . . .

Der zweite Hauptpunkt in Carlyles Lehre war die Idee der Pflichterfüllung. (Das ist einfach ein neues Kodizill — wenn es besonders neu ist, was keineswegs feststeht — des altehrwürdigen Vermächtnisses der Monarchie, der vermoderten Gesetze von Legitimität und Königtum.) Er scheint sich manchmal bis zum Wahnsinn aufgeregt zu haben, wenn Leute, die mindestens ebenso tief dachten wie er, ihn darauf aufmerksam machten, daß diese Formel zwar wertvoll, aber ziehmlich vage sei, und daß es für philosophische Betrachtung auf jedem Gebiet, sei es Weltgeschichte oder individuelle Angelegenheiten, noch viele andere Gesichtspunkte gebe...



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Es gibt, abgesehen vom bloßen Intellekt, im Wesen jeder hervorragenden menschlichen Identität (in ihrer moralischen Gesamtheit, einheitlich betrachtet, nicht nur im eigentlichen moralischen Sinn, sondern als Ganzes einschließlich des Körpers) ein wunderbares Etwas, das ohne Beweis, häufig ohne sogenannte Bildung (es wäre zwar das Ziel und die Krone aller Bildung, die diesen Namen verdiente) zu einer Ahnung der absoluten Ausgleichung in Raum und Zeit gelangt, der Ausgleichung dieses ganzen vielgestaltigen rasenden Chaos von Falschheit, Frivolität, Geilheit, — dieser Narrenschwärmerei, unglaubliche Heuchelei und allgemeinen Unbeständigkeit, die wir „die Welt“ nennen; ein inneres Schauen jenes göttlichen Fadens und unsichtbaren Bandes, das das gesamte Wirrsal der Dinge, die ganze Geschichte und Zeit, alles Geschehen, sei es noch so trivial oder noch so wichtig, wie einen angekoppelten Hund an der Hand des Jägers festhält. Eine solche innere Schau, ein solches tiefes geistiges Zentrum — bloßer Optimismus erklärt nur die Oberfläche oder den äußern Rand der Sache — fehlte Carlyle großenteils, vielleicht ganz. Er scheint vielmehr im Spiel seiner Geistesfunktionen von einem Gespenst, das er während seines ganzen Lebens nicht bannen konnte, verfolgt worden zu sein — griechische Philologen finden, glaub ich, dieselbe phantastische Trugerscheinung bei Aristophanes in seinen Komödien — von dem Gespenst des Weltuntergangs.

Wie höchster Triumph oder größtes Mißlingen im Menschenleben, in Krieg oder Frieden, von einem kleinen, verborgenen Zentralpunkt, kaum mehr als ein Blutstropfen, einem Pulsschlag oder Lufthauch abhängen kann! Es ist sicher, daß alle diese gewichtigen Fragen, Demokratie in Amerika, Carlyleismus und der Drang zu tiefster, politischer oder literarischer Forschung sich um einen einfachen Punkt in der spekulativen Philosophie drehen.

Das tiefste Problem, das den Menschengeist beschäftigen kann, auf dessen Lösung Wissenschaft, Kunst, die Grundlagen und Bestrebungen von Nationen und überhaupt alles vernünftige Menschenglück (heute 1882 hier in New York, Texas, Kalifornien ebenso wie zu allen Zeiten in allen Ländern) im innersten und letzten Grunde beruht und wovon alles ausgehen muß, sofern es entscheidende Beweiskraft haben soll — dieses Problem liegt ohne Zweifel in der Frage: Was ist die alles verschmelzende Erklärung, das Band, das

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Verhältnis von dem (radikalen demokratischen) Ich, der menschlichen Identität von Verstand, Gemüt, Geist usw. einerseits, zu dem (konservativen) Nicht-Ich, zu der Gesamtheit des materiellen, objektiven Universums und seiner Gesetze samt ihrer letzten Ursache in Raum und Zeit andererseits?

Immanuel Kant hat diese Frage offen gelassen, obschon er die Gesetze der menschlichen Vernunft erklärte, oder, kann man auch sagen, teilweise erklärte. Schellings Antwort oder Andeutung einer Antwort (sehr wertvoll und wichtig, soweit sie geht) ist die: Die gleiche, allgemeine Vernunft, Leidenschaft, ja auch die Maßstäbe von Recht und Unrecht, die bewußt und ausgesprochen im Menschen leben, existieren unbewußt oder als wahrnehmbare Analogien auch im ganzen Universum der äußeren Natur, in all ihren Gegenständen, groß oder klein, und in all ihren Bewegungen oder Prozessen, — so daß also der ungreifbare Menschengeist und die konkrete Natur, trotz Dualität und Trennung, im innersten und wesentlichen gleichbedeutend und eins wären.

Aber G. F. Hegels umfassendere Darstellung der Sache bleibt wohl das letzte und beste Wort, das bis jetzt darüber gesagt worden ist. Er übernimmt in der Hauptsache das eben auszugsweise erwähnte System, aber er führt es aus, befestigt es, bringt alles darin unter, wobei er gewisse ernstliche Lücken jetzt zum erstenmal ausfüllt, so daß es ein zusammenhängendes metaphysisches System wird, eine wirkliche Antwort, (soweit es überhaupt eine Antwort geben kann), auf die obige Frage, ein System, das, wie ich entschieden zugebe, durch zukünftige Gehirne erweitert, revidiert und sogar ganz neu aufgebaut werden mag, das aber auf jeden Fall, als Ganzes betrachtet, heute in hellem Glanze erstrahlt, den Gedanken des Universums erleuchtet und sein Geheimnis dem menschlichen Geist deutet — mit tröstlicherer wissenschaftlicher Sicherheit als irgendwin früheres System.

Nach Hegel ist die ganze Erde mir ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit — Vergangenheit: gegenwärtige Zustände, zukünftige Geschehnisse, die Gegensätze von Materiellem und Spirituellem, von Natürlichem und Künstlichem — all das sind nach der Anschauung des Kollektivisten nur notwendige Seiten und Entfaltungen, verschiedene Stufen und Glieder in dem endlosen Prozeß der schöpferischen Idee, die trotz unzähliger scheinbarer Mißerfolge und Widersprüche

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durch eine zentrale und ununterbrochene Einheit zusammengehalten wird — es gibt überhaupt keine Widersprüche oder Mißerfolge, sondern nur Ausstrahlungen eines einheitlichen, folgerichtigen und ewigen Zwecks. Die gesamte Masse des Seins strebt und fließt stetig, unbeirrbar dem dauernden Utile und Morale zu, wie die Flüsse zum Meer. Wie das Leben das Allgesetz und das unaufhörliche Wirken des sichtbaren Universums, der Tod aber nur die andere oder unsichtbare Seite desselben ist, so sind das „Utile“, die Wahrheit und die Gesundheit die zusammenhängend-unveränderlichen Gesetze des moralischen Universums, und Laster und Krankheit mit all ihren Störungen nur vorübergehende, wenn auch noch so vorherrschende Erscheinungsformen.

Auf die Politik wendet Hegel überall den gleichen alles umfassenden Maßstab und Glauben an. Nicht eine einzelne Partei oder eine einzelne Regierungsform ist absolut und ausschließlich die wahre. Die Wahrheit beruht in dem richtigen Verhältnis der Dinge zueinander. Eine Mehrheit oder Demokratie kann so schmählich regieren und so viel Unheil anrichten wie eine Oligarchie oder wie Despotismus, — wenn auch mit weit weniger Wahrscheinlichkeit. Das große übel ist aber eine Verletzung entweder des eben erwähnten Verhältnisses oder des Moralprinzips. Das Trügerische, Ungerechte, Grausame und sogenannte Unnatürliche ist — obwohl in einem gewissen Sinne zugelassen (wie Schatten zum Licht) und unvermeidlich im göttlichen Plane — im Gesamtsinne dieses Planes nur partiell, unwesentlich, zeitweilig und trotz noch so großem scheinbaren übergewicht sicherlich bestimmt, zugrunde zu gehen, nachdem es viele große Leiden verursacht hat.

Die Theologie überträgt Hegel in die Wissenschaft. Alle scheinbaren Widersprüche in der Auffassung des göttlichen Wesens durch verschiedene Zeitalter, Nationen, Kirchen, Anschauungen sind nur unvollständige und unvollkommene Darstellungen einer einzigen Wesenseinheit, von der alle ausgehen, — rohe Versuche oder auseinandergezogene Teile, die zugleich als unter sich verschieden und zusammengehörig betrachtet werden müssen. Kurz (um es in unserer eigenen Sprache auszudrücken oder zusammenzufassen), der Denker oder Analytiker oder Betrachter, der infolge einer unerforschlichen Verbindung von geschulter Weisheit und natürlicher Intuition die moralische Einheit und Wohlbeschaffenheit des Schöpfungsplanes in

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Geschichte, Wissenschaft, in allem Leben aller Zeit, Gegenwart und Zukunft am uneingeschränktesten und in vollkommenem Glauben annimmt, der ist der wahrste Kosmosanbeter und der Fromme und der tiefste Philosoph zugleich. Wer aber unter dem Bann seiner selbst und seiner Verhältnisse in dem gesamten Walten der göttlichen Vorsehung, Dunkelheit und Verzweiflung sieht, und wer in dieser Beziehung leugnet oder Ausflüchte sucht, der ist der ärgste Sünder und Ungläubige, gleichgültig, wieviel Frömmigkeit auf seinen Lippen gaukelt.

Ich fühle mich um so mehr berechtigt, Hegel hier ein wenig frei zu zitieren*, als ich damit nicht nur Geist und Buchstaben Carlyles widerlegen und mit Wurzel und Boden im Ganzen und Einzelnen ausrotten, sondern auch den Lehrsätzen der Evolutionisten das Gleichgewicht halten kann, nachdem Darwin kürzlich gestorben und verdientermaßen verherrlicht worden ist. So unaussprechlich wertvoll diese Lehrsätze für die Biologie und so unentbehrlich sie einem zielbewußten Studium für alle Zukunft auch sind, sie umfassen und erklären durchaus nicht alles — und das letzte Wort oder Flüstern ist noch über keinen Mund gekommen, das auf die höchsten jener Sätze folgen und immerdar hoch über ihnen und über technischer Metaphysik schweben muß. Gewiß, die Schätze, die von den Deutschen Kant, Fichte, Schelling und Hegel und auch von dem Engländer Darwin auf seinem Gebiet der Menschheit vererbt wurden, sind für die Heranbildung von Amerikas Zukunft unentbehrlich. Und doch möchte ich behaupten, daß ihnen allen, auch den besten, im Vergleiche zu den leuchtenden Blitzen und dem hohen Schwunge der alten Propheten und Seher, der geistlichen Dichter und Dichtungen aller Länder (wie in der hebräischen Bibel) etwas zu fehlen scheint, nein sicherlich fehlt. Es ist ihnen eine

*Ich habe absichtlich alles wiederholt, nicht nur um den ewig lauernden Pessimismus und Weltschmerz Carlyles zu widerlegen, sondern weil es die amerikanischsten Gesichtspunkte sind, die ich kenne. Meines Erachtens sind die obigen Grundsätze Hegels eine wesentliche und krönende Rechtfertigung der Demokratie der Neuen Welt in den schöpferischen Gebieten von Raum und Zeit. Sie haben das Element in sich, das anscheinend nur die Größe, die Mannigfaltigkeit und Lebenskraft Amerikas zu fassen, auf Breitem Raum zu verkörpern oder zu assimilieren oder auch nur hervorzubringen vermag. Es scheint mir merkwüridg, daß sie in Deutschland oder überhaupt in der Alten Welt entstanden; während ein Carlyle, möchte ich sagen, ganz das zu erwartende, legitime Produkt Europas ist.



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gewisse Kälte eigen, ein Unbefriedigtlassen des innersten Gemüts, ein Mangel an lebendiger Glut, Liebe, Wärme, wie sie von den alten Sehern und Dichtern ausströmt und von der bei den scharfsinnigsten modernen Philosophen bis jetzt nichts zu spüren ist.

Carlyles Name ist für unsere Zwecke im großen ganzen der Reihe der eben genannten hervorragendsten Sittenärzte unserer Zeit beizuzählen, — mit Emerson und noch zwei oder drei anderen, — wenn auch sein Rezept drastisch ist und vielleicht zerstörend wirkt, während das der anderen assimilierend und auf natürliche Weise stärkend ist. Feudalistisch im Innersten, wie seine Werke sind, geistige Erzeugnisse und Ausstrahlungen des Feudalismus, enthalten sie doch für das demokratische Amerika ewig wertvolle Lehren und Beziehungen. Nationen oder Individuen, wir lernen sicherlich am gründlichsten von Ungleichartigem, von einem aufrichtigen Gegner, von dem Licht, das, wenn auch aus Verachtung, auf gewisse wunde Punkte und Verpflichtungen geworfen wird.

In vielen Einzelheiten war Carlyle in der Tat einem der hebräischen Propheten der Vorzeit vergleichbar, ein neuer Micha oder Habakuk. Seine Reden sprudeln manchmal hervor aus abgundtiefer Inspiration. Immer wertvoll, solche Männer; jetzt so wertvoll wie je. Seine rauhen, polternden, höhnischen, widerspruchsvollen Töne, — was täte mehr Not under den geschmeidigen, abgeschliffenen, goldanbetenden, Jesus und Judas gleichzusetzenden, stimmrecht-übermütigen Lauten des heutigen Amerika. Er hat unser 19. Jahrhundert mit dem Lichte eines mächtigen, durchdringenden und vollkommen ehrlichen Intellektes erster Ordnung erhellt, das er auf Politik, soziales Leben, Literatur und hervorragenden Persönlichkeiten Englands und des Kontinents warf, — tief unzufrieden mit allem und erbarmungslos das Kranke an allem enthüllend. Während er aber die Krankheit bezeichnet und darüber tobt und schimpft, ist er selbst in der gleichen Atmosphäre geboren und aufgewachsen, ein charakteristisches Symptom dieser Krankheit.


Natur und Demokratie

Demokratie ist vor allem andern mit der frischen Luft verwandt, ist sonnig und stark nur in Verbindung mit der Natur — genau so wie die Kunst. Etwas ist erforderlich, um beide zu mäßigen,

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sie im Zaum zu halten und sie vor Ausschreitung und Verfall zu bewahren. Ich wollte zum Schluß Zeugnis ablegen für eine sehr alte Weisheit und Notwendigkeit. Die amerikanische Demokratie mit ihren Myriaden von Einzelpersönlichkeiten, mit ihren Fabriken, Werkstätten, Läden, Bureaus, mit all den dichtgedrängten Straßen und Häusern ihrer Städte und all ihren mannigfachen verkünstelten Lebensbedingungen muß entweder gestärkt und belebt werden durch regelmäßigen Kontakt mit Licht, Luft und Wachstum unter freiem Himmel, mit Landleben, Tieren, Feldern, Bäumen, Vögeln, Sonnenwärme und weiten Räumen droben, oder sie wird sicherlich verdorren und verblassen. Wir können keine starken Rassen von Handwerkern und Arbeitern und keine wahre Gemeinschaft (der einzige eigenste Zweck Amerikas) haben, wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird. Ich kann mir keine blühenden, heroischen, demokratischen Kräfte in den Vereinigten Staaten oder überhaupt einen ihrer Hauptbestandteile bilden, die die Quelle aller Gesundheit und Schönheit sind und aller Politik, Wohlfahrt, Religion und Kunst der Neuen Welt zugrunde liegt.



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GESAMMELTES


Aus der Vorrede zu:
„Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei ...“
1872

Als ich vor Jahren den Plan zu meinen Gedichten auszuarbeiten begann und ihn lange Zeit (vom 28. bis 35. Lebensjahr) immer wieder überdachte und umgestaltete, wobei ich viel experimentierte, niederschrieb und vieles wieder fallen ließ, lag allem andern ein tiefes Motiv zugrunde und hat dem Plan und seiner Ausführung seither zugrunde gelegen, — das religiöse. Trotz vieler Wechsel und obwohl die Ausdrucksform ganz andere Gestalt angenommen hat, als ich sie mir ursprünglich gedacht hatte, bin ich in der Ausarbeitung meiner Gedichte von diesem Grundmotiv nie abgewichen. Selbstverständlich nicht, um es in der hergebrachten Weise zur Schau zu stellen oder etwa mit einem Blick auf die Kirchensitze Hymnen oder Psalmen zu schreiben oder konventionellem Pietismus und dem krankhaften Schmacht von Frömmlern Ausdruck zu geben, — vielmehr auf neue Art, abzielend auf die breitesten Grundlagen und Gebiete der Menschheit, in Einklang mit der frischen Luft von Meer und Land. Ich will sehen, sagte ich zu mir, ob für meine dichterischen Zwecke in der Durchschnittsmenschheit, wenigstens in deren moderner Entwicklung bei uns, in dem kräftigen Gemeingefühl, in den eingeborenen Sehnsüchten und Elementen nicht eine Religion, ein gesunder religiöser Keim liegt, — tiefer und größer und fruchtbarer als alle bloßen Sekten und Kirchen, — so grenzenlos, freudig und lebenskräftig wie die Natur selbst, — ein Keim, der zu lange ohne Pflege, unbesungen, beinahe unbekannt

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geblieben ist. Mit dem Aufblühen der Wissenschaft beginnt ersichtlich die alte Theologie des Ostens, schon längst kindisch geworden, zu sterben und zu verschwinden. Die Wissenschaft aber — und das wird sich vielleicht als ihr Hauptverdienst erweisen — bereitet ebenso ersichtlich den Weg für ein unbeschreiblich Höheres, — für den jungen, aber vollkommenen Sprößling der Zeit — die neue Theologie — Erbin des Westens — stark und liebevoll und wunderbar herrlich.

Für Amerika, und für jetzt und allezeit, ist die höchste und abschließende Wissenschaft die von Gott, — und was wir Wissenschaft nennen, ist nur ihr Diener, wie es auch die Demokratie ist oder sein soll. Und ein Dichter, wie es auch die Demokratie ist oder sein soll. Und ein Dichter Amerikas (sagte ich zu mir) muß sich mit solchen Gedanken erfüllen und sein Allerbestes aus ihnen heraus singen. — Gleichwie es meines Erachtens keine gesunde und vollkommene Persönlichkeit noch eine große elektrische Nationalität gibt, wenn nicht die Religion als Grundelement alle anderen Elemente durchdringt (wie die Wärme in der Chemie, selbst unsichtbar, dennoch das Leben alles sichtbaren Lebens ist, so kann es keine Poesie geben, die dieses Namens würdig wäre, ohne daß jenes Element allem zugrunde liegt. Sicherlich ist die Zeit gekommen, wo die Religionsidee in den Vereinigten Staaten entlastet wird von bloßem Klerikalismus, von Sonntagsheiligung und Kirchen und Kirchenbesuch, und wo ihr jene allgemeine, wichtigste, unentbehrlichste und heiterste Stellung zugewiesen wird, der sich alles anzupassen hat, Charakter, Bildung und Tun der Menschen.

Das Volk, besonders die jungen Männer und Frauen Amerikas, müssen anfangen zu lernen, daß Religion wie Poesie etwas ganz anderes ist, als sie dachten. Sie ist in der Tat für die Macht und Fortdauer der neuen Welt zu wichtig, als daß sie noch länger den Kirchen, alten oder neuen, katholischen oder protestantischen, dieses Heiligen oder jenes, überlassen werden dürfte. Sie muß von nun an der Demokratie en masse und der Literatur überantwortet werden. Sie muß in die Dichtungen der Nation eingehen. Sie muß die Nation erschaffen.



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Eine Notiz auf gut Glück



Soll die Erwähnung von Dingen, wie ich sie kurz, aber deutlich und entschlossen in dem Kapitel „Kinder Adams“ meiner „Grashalme“ zur Sprache gebracht habe, in Poesie und Literatur erlaubt sein? Sollte die Neuerung nicht vielmehr durch Kritik und öffentliche Meinung verurteilt werden? Und wenn das nichts nützt, durch den Staatsanwalt? — Zweifellos, ohne jedes Kapitel mit einzuschließen, konnte ich nicht ein Werk verfassen, das erklärtermaßen, wie nie zuvor, die vollständige menschliche Identität, die physische, moralische, seelische und intellektuelle, behandelte (in gewissem Sinne gab ich der physischen den Vorrang und die Führung); auch hätte ich sonst nicht die bona fides, die Lauterkeit und Vollständigkeit der Darstellung erreichen können, die zu meinem Plane gehörte. Aber ich möchte meinen Standpunkt noch mehr als bisher befestigen und erweitern. Und wenn ich auch von niemandem verlange, meiner Theorie beizupflichten, liegt mir doch offen gestanden etwas daran, meine dichterischen Versuche und meine Prinzipien von ihrem eigenen Boden aus wenigstens teilweise verstanden zu wissen. Es scheint mir am besten, der Frage mit völligem Freimut gegenüberzutreten.

Es gibt, allgemein gesprochen, zwei Gesichtspunkte, nach denen sich die Welt zu diesen Dingen verhält. Der erste, der konventionelle biederer Leute und biederer Literatur überall, unterdrückt jede direkte Benennung und macht nur ganz verblümte Andeutungen — (wie es die Griechen mit dem Tod machten, der in der gebildeten Gesellschaft Griechenlands nicht gerade heraus benannt, sondern euphemistisch umschrieben wurde). In der heutigen Gesellschaft hat dies Verhalten — ohne auf die Argumente und Einzelheiten, die zahlreich, verschiedenartig und verwirrend sind, näher einzugehen — zu einem Zustand von Unwissenheit, Vertuschung, verborgen gehaltener Krankheit und Schwäche geführt, der sicherlich einen Hauptfaktor des Weltübels bildet. Diesem unwissenschaftlichen, unästhetischen und durchaus unreligiösen Verhalten, das uns die Vergangenheit vererbt hat (die Ursachen sind verschieden; eine liegt in uralten Lehren menschenfreundlicher Weiser, die damit die herrschende Roheit und Animalität

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des Nomadenzeitalters bändigen wollten; eine andere im Puritanertum oder vielleicht Protestantismus selbst; eine dritte wird am Schluß dieser Ausführungen bezeichnet werden) — diesem Verhalten sind wohl größtenteils die Mißgeburten, die ungenügende Reife, der frivole Sinnenkitzel und jenes pathologische Hinsiechen und Kränkeln der Menschen zu verdanken, das meines Erachtens der Grund und Ursprung jeder Art von übel und Kränklichkeit ist. Sein Geruch, wie von etwas Schleichendem, Tückischem, Pestartigem scheint nach und nach alle moderne Literatur, Konversation und Sitte zu durchseuchen.

Der zweite Gesichtspunkt, und zwar der weit umfassendere — wie denn die Welt im Werktagskleid die in Salontoilette an Zahl weit übertrifft — ist der des gewöhnlichen Lebens, von den ältesten Zeiten her und besonders in England (vgl. die ersten Kapitel von Taines Englischer Literaturgeschichte und Shakespeare beinahe überall); ein Gesichtspunkt, den unser heutiges Zeitalter von einem lachlustigen Geschlecht ererbt hat in dem Witz (oder was als Witz gilt) in Männergesellschaft, in den erotischen Geschichten und Gesprächen, die jene bloß lüsterne Sinnlichkeit, die nach Viktor Hugo die allgemeinste Eigenschaft aller Zeiten und Länder ist, erregen, ausdrücken und ausmalen sollen. Dieser zweite Zustand, so schlimm er ist, gleicht wenigstens einer Krankheit, die zum Vorschein kommt und deshalb weniger gefährlich ist als eine verheimlichte.

Mir scheint für eine weiter Stufe, einen dritten Gesichtspunkt, die Zeit gekommen und Amerika der Platz dafür zu sein. Derselbe Freimut, Glaube und Ernst, den nach Jahrhunderten von Ablehnung, Kampf, Unterdrückung und Märtyrertum die Gegenwart der Behandlung von Politik und Religion entgegenbringt, muß für diese Frage einen Plan und Maßstab schaffen, nicht so sehr im Hinblick auf das, was man Gesellschaft nennt, auf auf nachdenklichste Männer und Frauen und auf gedankenreichste Literatur. Denselben Geist, der in dieser Beziehung den physiologischen Schriftsteller und Demonstrator auf seinem wichtigen Gebiet charakterisisert, glaubte ich einmal auf einem gewiß nicht weniger wichtigen Gebiet bekunden zu müssen.

In der vorliegenden Notiz wage ich diesen Plan und diese Anschauung nur anzudeuten, für die ich mich in meiner eigenen literarischen Tätigkeit schon vor mehr als zwanzig Jahren

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entschieden und die ich in meinen gedruckten Gedichten deutlich formuliert habe (wie denn Bacon sagt, eine abstrakte Idee oder Theorie sei wertlos, wenn sie nicht zu einer Tat oder einem Werk als konkretem Beispiel führe) — die Anschauung nämlich, daß der Geschlechtstrieb an sich, solange er normal und gesund bleibt, seinem Wesen nach zu Recht besteht, anerkannt werden muß und kein unbedingt unpassendes Thema für den Dichter ist, ebensowenig wie zugestandenermaßen für den Naturforscher; — daß ferner, was den ganzen Aufbau, den Organismus und Endzweck der „Grashalme“ anbelangt, alles auf einer schwachen oder gar keiner Grundlage beruhen würde, wenn ich jenem Thema ausgewichen wäre und mich nicht offen dazu bekannt hätte, als zu der alles umfassenden Basis (die gesunde Natürlichkeit von allem sollte ja die Atmosphäre der Gedichte sein). Ich möchte also die Frage im bedeutsamsten Sinne stellen und auf ihre äußere Konsequenz hin, so anmaßend das auch erscheinen mag.

Kurz gesagt, wie die Anerkennung der gesunden Natürlichkeit von Geburt, Natur und Menschheit der Schlüssel ist zu jeder wahren Theorie vom Leben und Universum, wenigstens der einzigen Theorie, aus der heraus ich geschrieben habe, so ist sie auch, und zwar unbedingt, der einzige Schlüssel zu den „Grashalmen“ und zu jedem einzelnen Teil derselben. Das ist der Grund, warum ich gerade für diese Gedichte zwanzig Jahre lang eingetreten bin und sie bis zum heutigen Tage aufrecht erhalte. Das ist es, was ich im innersten Geist und Gemüt fühlte, als ich unter den alten Ulmen des Bostoner Stadtparkes auf Emersons heftige Argumente nur mit Stillschweigen antwortete.

In der Tat, sollte nicht jeder Physiologe und jeder gute Arzt dafür beten, daß diese Frage, die bisher dem Geschwätz und Geschreibsel von Schuften überantwortet war, aus ihrer Verbannung erlöst und wenigstens einmal, wenn nicht öfter, kühn in den Bereich der Poesie und Gesundheit gestellt werde — als etwas, das nicht an sich unanständig und unrein, sondern mit edelster Männlichkeit und Weiblichkeit durchaus vereinbar und beiden unentbehrlich ist? Sollte nicht jede Gattin und Mutter und, wenn es möglich wäre, jeder Säugling, der auf die Welt kommt, und jede Ehe (das Fundament und die condition sine que non des Kulturstaates) loben und danken dafür, wenn gezeigt oder als selbstverständlich

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angesehen würde, daß Mutterschaft, Vaterschaft, Geschlechtlichkeit und alles, was dazu gehört, offen, freudig, stolz, ohne daß man sich schämt oder zu schämen braucht, von den höchsten künstlerischen und menschlichen Gesichtspunkten aus bekräftigt werden kann, wo immer es darauf ankommt? Ja, in aller Ehrfurcht sei es gesagt, sollte nicht auch die Schöpferkraft selbst sich herablassen, auf einen solchen Versuch, die Basis und den Anfang des ganzen göttlichen Planes in der Menschheit zu rechtfertigen, mit einem Beifallslächeln zu blicken?

In der Bewegung für die Befähigung und die Zulassung der Frauen zu neuen Gebieten des Geschäftswesens, der Politik und des Stimmrechts bildet die herrschende Lüsternheit und Konvention in der Behandlung des Geschlechtlichen das furchtbare Haupthindernis. Die wachsende Flut der Frauenbewegung, die von Jahr zu Jahr mehr anschwillt und weiter vorrückt, weicht bestürzt davor zurück. Meines Erachtens wird es in dieser Bewegung keinen allgemeinen Fortschritt geben, bis eine vernünftige, philosophische, demokratische Behandlungsweise an die Stelle jener Konvention getreten ist.

Die ganze Frage, die viel, sehr viel tiefer geht, als die meisten denken (und zweifellos ist auf jeder Seite etwas zu sagen), ist von besonderer Wichtigkeit für die Kunst, — es ist erstens eine ethische und dann noch mehr eine ästhetische Frage ...

Nicht das Gemälde oder die nackte Statue oder der Text ist unanständig, sofern der künstlerische Zweck ein lauterer ist, es ist vielmehr des Beschauers eigener Gedanke, seine eigene verzerrte Auffassung. Wahre Sittsamkeit ist eine der köstlichsten Eigenschaften, ja Tugenden; aber in nichts liegt mehr Heuchelei, mehr Falschheit, als wenn sie überflüssigerweise betont wird. Infolge von Erziehung und Selbsterkenntnis weiß der Mensch schon lange genug, wie schlecht er ist. Ich möchte dieses Bewußtsein nicht sowohl stören oder vernichten, vielmehr nur wieder auf die innerste Bedeutung des Schriftwortes hinweisen und es unwiderleglich daneben stellen: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte“, (samt dem Gipfelpunkt des Ganzen — der Menschheit mit ihren Elementen, Leidenschaften, Begierden), „und siehe, es war sehr gut.“

Wird die Schöpfung nicht durch alles, was jenen dritten Gesichtspunkt nicht gelten läßt, von Anfang an negiert, — wenn man

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sich die Sache ernstlich und von allen Seiten überlegt? Lebt die in diesen Gesichtspunkten liegende überzeugung, so verdunkelt und ihrer selbst unbewußt sie sein mag, in der Tat nicht ewig im Zentrum der ganzen Gesellschaft, der Geschlechter und der Ehe? Ist sie in Wahrheit nicht eine Intuition des Menschengeschlechts? Denn so alt die Welt ist und so unbeschreiblich die unzähligen und glänzenden Früchte ihrer Kultur und Evolution, — vielleicht die besten und frühesten und reinsten Intuitionen des Menschengeschlechtes müssen sich erst noch entwickeln.


Emersons Werke (ihre Schatten)

Die Regionen, die wir Natur nennen, die über alles Maß hinausragen, von unendlicher Ausdehnung, unendlicher Tiefe und Höhe, — diese Regionen, einschließlich des Menschen in seinen sozialen, historischen und moralisch-gefühlsmäßigen Beziehungen, — einen wie geringen Teil von ihnen (das kam mir heute zum Bewußtsein) hat die Literatur wirklich dargestellt, — selbst wenn man ihre Erzeugnisse aller Zeiten summiert. Sie erscheint im besten Fall wie eine kleine Flotte von Schiffen, die sich an die Küsten einer unendlichen See schmiegen und sich niemals hinauswagen, um zu erforschen, was noch nicht auf Karten verzeichnet ist, — nie kolumbusgleich nach neuen Welten aussegeln, um die Rundung des Erdballs zu durchmessen.

Emerson schreibt oft aus solchem Gedankenkreis heraus. Seine Bücher berichten das eine oder das andere eben aus jenem Meeresund Luftraum; und richten sich verständlicher an unsere Zeit und an das amerikanische Staatswesen als die Schriften irgendeines Mannes vor ihm. Aber ich will damit beginnen, daß ich seine Schwächen hervorhebe — und so beweisen, daß ich für seine tiefsten Lehren nicht unempfänglich bin. Ich will seine Werke vom demokratischen und westlichen Gesichtspunkt aus betrachten. Ich will die Schatten der sonnigen Räume bezeichnen...

Erstens also: diese Schriften sind vielleicht zu vollkommen, zu konzentriert. (Wie gut ist z.B. gute Butter, guter Zucker. Aber immer nur Zucker und Butter! Mögen sie noch so gut sein!) Und obschon der Autor viel zu sagen weiß von Freiheit und Ungebundenheit und Einfachheit und Selbstherrlichkeit, so war doch noch nie

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ein Werk mehr auf künstliche Gelehrsamkeit und Wohlanständigkeit im dritten oder vierten Aufguß (er nennt es Bildung) gegründet und darauf aufgebaut. Es ist immer etwas Gemachtes, nie ein unbewußt Gewachsenes. Es ist die Porzellanfigur oder Statuette eines Löwen oder Hirsches oder indianischen Jägers — freilich von vorzüglicher Arbeit — für den Rosenholzoder Marmorständer in Salon oder Bibliothek; nie das Tier oder der Jäger selbst. Wer will auch das Tier oder den Jäger? Was ließe sich damit anfangen inmitten von Astrallicht und Nippes und Gobelins und Damen und Herren, die mit gedämpften Stimmen von Browning und Longfellow und Kunst sprechen? Vor dem geringsten Verdacht eines wirklichen Bullen oder Indianers oder sich selbst auswirkender Naturkraft würden all diese guten Leute in panischem Schrecken davonlaufen.

Emerson ist meines Erachtens nicht als Dichter oder Künstler oder Lehrer am bedeutendsten, obwohl wertvoll in alledem. Sein Bestes gibt er in der Kritik oder Diagnose. Nicht Leidenschaft oder Phantasie oder Nebeninteresse oder Schwäche oder irgendein ausgesprochenes Motiv oder eine besondere Vorliebe beherrscht ihn. (Ich weiß, Feuer, Gemüt, Liebe, Selbstheit glühen tief und unvergänglich in ihm, wie in allen Neu-Engländern, aber die Fassade verbirgt sie völlig, es ist nichts von ihnen zu merken.) Er sieht oder ergreift nicht nur oder vorwiegend eine Seite, eine Ansicht (wie alle Dichter oder die meisten guten Schriftsteller überhaupt), er sieht alle Seiten. Seine Schüler hören unter seinem Einfluß schließlich auf, irgend etwas zu verehren, ja beinahe an irgend etwas zu glauben, was außerhalb ihrer selbst ist. Emersons Werke füllen gewisse Lebensperioden und Entwicklungsstufen aus, und zwar gut, — sie sind (wie die Lehre oder Theologie des Autors, die er als junger Mann predigte) unbeschreiblich wertvoll und kostbar als Durchgangsstadium. Aber im Alter oder in reizbaren oder feierlichsten Stunden oder im Sterben, wenn man die ungreifbar beruhigenden und belebenden Einflüsse abgrundtiefer Natur oder naturähnliche Elemente in der Literatur und menschlichen Gesellschaft braucht und die Seele das schärfste bloß verstandesmäßige Erkennen ablehnt, wird man nicht nach ihnen verlangen.

Emerson hat eine für einen Philosophen seltsam stutzerhafte Anstandstheorie. Er scheint keine Ahnung davon zu haben, daß

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äußere Manieren einfach die Zeichen sind, an denen der Chemiker oder Metallurg seine Metalle erkennt. Für den bedeutendsten Forscher sind alle Metalle bedeutend, so wie sie es auch wirklich sind. Der Unbedeutende wird, wie die konventionelle Welt, nur auf Gold und Silber viel halten. Dem wirklichen Menschheitsbildner also erscheinen sogenannte schlechte Manieren oft am malerischsten und bedeutsamsten. Man stelle sich vor, Emersons Werke würden absorbiert als dauernder Lebenssaft des amerikanischen Charakters im allgemeinen und besonderen, — was für eine wohlgewachsene und grammatische, aber blutund hilflose Rasse würden wir dann werden! Nein, nein, lieber Freund; die Staaten brauchen zwar ohne Frage Gelehrte und vielleicht auch Damen und Herren, die häufig baden und nie laut lachen oder unrichtig sprechen, aber sie brauchen nicht Gelehrte oder Damen und Herren auf Kosten alles übrigen. Sie brauchen gute Farmer, Seeleute, Handwerker, Beamte, Bürger, — gesunde geschäftliche und soziale Verhältnisse, — vollkommene Väter und Mütter. Wenn wir nur solche oder annähernd solche haben könnten, in Fülle, schön und stattlich und gesund und großmütig und patriotisch, so könnten sie ihre Verba und Nominativa falsch konstruieren und wie Musketensalven lachen, wenn es ihnen Spaß machen würde. Solche Menschen sind natürlich nicht alles, was Amerika braucht, aber sie müssen wir uns vor allen Dingen in großer Anzahl verschaffen. Und trotz fürchterlicher Fehler und Irrgänge scheint der Instinkt der Staaten wesentlich und hauptsächlich darauf gerichtet zu sein und abzuzielen. Das Streben nach einer erlesenen, überfeinerten, von allen anderen abgegrenzten Klasse, das Streben der Länder und Literaturen der Alten Welt, ist nicht sowohl an sich, als weil es unser eigenes Streben erstickt und in der Tat sein Tod ist, zu tadeln. Was eine solche abgesonderte Kaste betrifft, so können die Vereinigten Staaten den glanzvollen Beispielen der ersten Nationen Europas in Vergangenheit und Gegenwart (weit, weit über allem Vergleich und Wettbewerb mit uns) niemals etwas Gleichwertiges gegenüberstellen. Aber eine ungeheure und eigenartige, über unser weites und mannigfaltiges Gebiet, West und Ost, Süd und Nord, ausgebreitete Gemeinschaft — in der Tat zum erstenmal in der Geschichte ein großes, zusammengeschlossenes, wirkliches Volk, das diesen Namen verdient und das aus vollentwickelten heroischen Individualitäten

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beiderlei Geschlechtes besteht, — das ist Amerikas wichtigster, vielleicht einziger Daseinsgrund. Wenn wir dieses Ziel erreichen, so wird es mindestens ebensosehr (seit kurzem denke ich, zweimal mehr) das Ergebnis einer für uns passenden demokratischen Soziologie, Literatur und Kunst sein, — wenn wir die je haben werden, — als unserer demokratischen Politik.

Zeitweilig habe ich daran gezweifelt, ob Emerson wirklich weiß oder fühlt, was Poesie höchster Art ist, wie z.B. in der Bibel oder in Homer oder Shakespeare. Ich sehe, daß er heimlich oder offen höchstvollendete Formglätte oder das, was alt oder seltsam ist, bevorzugt, — Wallers „Go lovely rose“ oder Lovelaces Verse an „Lacusta“, die sonderbaren Einfälle der altfranzösischen Barden und ähnliches. Für Kraft scheint er die Bewunderung eines Gentleman zu haben, — aber in seinem innersten Herzen stehen ihm kunstvolle Versformen, geistreiche Einfälle, elegante Schnörkel und Worte immer höher als die erhabensten Eigenschaften Gottes und der Dichter.

Daß ich, wie die meisten jungen Leute, vor Jahren einen beginnenden Anfall (spät zwar und nur an der Oberfläche) von Emersonmanie hatte, — daß ich seine Schriften ehrfürchtig las und ihn in den meinen als „Meister“ anredete und ihn einen Monat lang oder so auch dafür hielt, — daran erinnere ich mich nicht nur mit Gelassenheit, sondern mit wirklicher Genugtuung. Ich habe bemerkt, daß die meisten jungen Leute von strebsamem Geist durch derlei übungsstadien hindurch müssen.

Das beste am Emersonianismus ist, daß er den Riesen erzeugt, der sich selbst vernichtet. „Wer will bloßer Epigone eines Mannes sein?“ — diese Frage lauert hinter jeder Seite. Nie hat es einen Lehrer gegeben, der so dafür gesorgt hätte, daß seine Schüler selbständig werden, — nie einen echteren Evolutionisten.


Neue Poesie — Kalifornien, Kanada, Texas

Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, um die formalen Schranken zwischen Prosa und Poesie gänzlich niederzubrechen. Ich behaupte, die letztere muß von nun an ohne Rücksicht auf den Reim und die rhythmischen Regeln von Jambus, Spondaeus, Dactylus usw. ihren Charakter gewinnen und wahren. Mag auch

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der Reim samt den genannten Maßen für geringere Schriftsteller und Themen weiterhin als Ausdrucksmittel dienen (besonders für Parodistisches und Komisches, da der Reim an sich und überhaupt für den vollendeten Geschmack in Zukunft etwas unvermeidlich Komisches zu haben scheint), echteste und erhabenste Poesie (innerlich und notwendigerweise zwar immer rhythmisch und leicht genug von Prosa zu unterscheiden) kann in der englischen Sprache nie wieder in willkürlicher und reimender Strophenform Ausdruck finden, ebensowenig wie die größte Beredsamkeit oder die echteste Kraft und Leidenschaft. Zwar gebe ich zu, daß die ehrwürdigen und himmlischen Formen melodischen Versbaues zu ihrer Zeit eine große und angemessene Rolle gespielt haben, — daß schwermütige Klage, Balladen, Kriege, Liebesgeschichten, Sagen Europas usw. vielfach unnachahmlich schön in Reim und Strophe dargestellt worden sind, —daß es sehr hervorragende Dichter gegeben hat, deren Gestalten wundervoll und passend der Mantel solcher Versform umhüllte und daß dieser ihr Mantel vielleicht in noch größerer Schönheit auf einige Dichter unserer Zeit gefallen ist. Trotz alledem glaube ich sicher, daß die Zeit solchen Reimes zu Ende ist. In Amerika jedenfalls und als Mittel höchsten ästhetischen, praktischen oder geistigen Ausdrucks, in Gegenwart und Zukunft, versagt er offenbar und muß versagen.

Die Muse der Prärien von Kalifornien, Kanada, Texas und der Berggipfel Kolorados entledigt sich sowohl der literarischen als sozialen Etikette des transatlantischen Feudalismus und Kastenwesens, dehnt sich fröhlich aus, macht sich bereit, den Umfang des ganzen Volkes zu umfassen, samt dem freien Spiel aller Gefühle, Stolz, Leidenschaften, Erfahrungen, die zu ihm in Körper und Geist gehören, — den ganzen Erdball zu umfassen und all seine astronomischen Beziehungen, wie sie uns von den Gelehrten geschildert werden, — das moderne, geschäftige 19. Jahrhundert (so erhaben poetisch wie je eines, nur anders) mit seinen Dampfschiffen, Eisenbahnen, Fabriken, Telegraphen, Zylinderpressen, — den Gedanken von der Solidarität der Nationen und von der Brüderschaft und der Schwesterschaft der ganzen Erde, — die Würde und den Heroismus der praktischen Arbeit in Farmen, Fabriken, Gießereien, Werkstätten, Bergwerken oder auf Schiffen, Seen und Flüssen. Diese Muse wählt jenes andere, geschmeidigere, angemessenere

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Ausdrucksmittel und schwingt sich empor zu dem freien, weiten, göttlicheren Himmel der Prosa.

Bei Gedichten dritter und vierter Ordnung (vielleicht sogar bei manchen zweiter Ordnung), hat es wenig oder gar nichts zu besagen, wer sie verfaßt, — sie sind gut genug, so wie sie sind; auch brauchen sie nicht tatsächliche Ausströmungen von Persönlichkeit und Leben der Verfasser zu sein. Das gerade Gegenteil wirkt manchmal reizvoll. Aber Dichtungen erster Ordnung (Gedichte der Tiefe im Unterschied von Gedichten der Oberfläche) sind streng an den Dichtern selbst zu messen, an ihrer Persönlichkeit und ihrem Leben zu prüfen. Wer will Verherrlichung von Mut und männlichem Trotz aus dem Munde eines Feiglings oder Schleichers? Wer ein Lied auf Mildtätigkeit oder Keuschheit von einem verseschreibenden Knicker oder einem unzüchtigen, schlüpfrigen Roué?

In diesen Staaten wird es die Poesie über alles bisher Dagewesene hinaus mit den wirklichen Tatsachen zu tun haben, mit den konkreten Staaten und — denn wir sind nicht viel weiter als am Anfang — mit der endgültigen Ausgestaltung der Union. Manchmal denke ich sogar, sie allein wird die Union gestalten müssen (d.h. ihr künstlerischen Charakter, Geistigkeit, Würde geben müssen). Was der amerikanischen Bevölkerung am gefährlichsten ist, das ist das übermaß von Wohlstand, Geschäft, Weltlichkeit, Materialismus; was am meisten fehlt, in Ost, West, Nord, Süd, das ist ein warmes und glühendes Nationalgefühl, ein Patriotismus, der alle Teile zu einem Ganzen vereinigt. Wer anders kann jene Gefahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfüllen, als eine Klasse erhabenster Dichter?

Obgleich die Vereinigten Staaten noch keine Dichter von irgendwie überragender Größe hervorgebracht haben, so importieren, drucken und lesen sie doch mehr Poesie als eine gleich große Anzahl Menschen sonstwo — ja wahrscheinlich mehr als die ganze übrige Welt zusammengenommen.

Die Poesie ist (wie eine große Persönlichkeit) die Frucht vieler Generationen — des seltenen Zusammentreffens vieler Umstände.

Um große Dichter zu haben, braucht es auch eine große Zuhörerschaft.



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Darwinismus — dann Weiteres

Durch die vorgeschichtlichen Zeiten bis herein in die Morgendämmerung unserer überlieferungen, die Theologie begründend, die Literatur durchdringend und so immer weiter verbreitet, erscheinen die ehrwürdigen Ansprüche auf Abstammung von Gott selbst oder von Göttern und Göttinnen, auf Abkunft von göttlichen Wesen, die größere Schönheit, Gestalt und Macht besaßen als wir. (Dieser Glaube bildet gewissermaßen Wirbelsäule und Mark aller antiken Rassen und Länder, ägyptens, Indiens, Griechenlands, Roms, Chinas, Judäas usw., und gibt ihrer Kunst, Dichtung und Politik wie auch ihrem Kirchenwesen (von all dem haben wir mehr oder weniger geerbt) Form und Farbe. In der neuesten Zeit aber lehrt diejenige Abstammungstheorie, die die tiefste Wirkung ausgeübt zu haben scheint (in seltsamem Gegensatz zur antiken), daß wir von Affen, von Pavianen herkommen und uns aus ihnen entwickelt haben, — eine Theorie, deren indirekte Wirkungen oder Konsequenzen vielleicht wichtiger sind als sie selbst. (Diese zwei Theorien, so grundverschieden sie zu sein scheinen und so heftig ihre widerstreitenden Fürsprecher heute einander bekämpfen, — ließen sie sich nicht vielleicht miteinander versöhnen, ja sogar verschmelzen? Können wir denn eine davon entbehren? Besser noch: wird sich nicht aus beiden noch eine dritte, die wahre, oder eine die wahre andeutende Theorie herausbilden?)

Die alte Theorie von der Evolution, wie sie von Darwin mit verdreifachter Wucht, mit wahrhaft alles absorbierenden Ansprüchen neu aufgestellt worden ist, enthält so viel und ist so notwendig als Gegengewicht gegen den noch weitverbreiteten und unsagbar zähen, entnervenden Aberglauben, — sie ist von dem neuen Mann in so großartigen, bescheidenen, wahrhaft wissenschaftlichen Folgerungen ausgeprägt worden, daß die Welt ethischer und physikalischer Forschung durch das Erscheinen des Darwinismus in ihren Spekulationen schließlich vervollkommnet und erweitert werden muß. Und doch ist das Problem des menschlichen und sonstigen Ursprungs der Lösung um keinen Zoll näher gekommen. Mit der Zeit wird die Evolutionstheorie ihre Heftigkeit mildern müssen, sie darf nicht alles andere beherrschen, sie wird ihren Platz als ein Segment des Kreises, der ganzen Masse, einnehmen müssen,

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als nur eine von vielen Theorien, von vielen Ideen tiefsten Gehalts, — sie wird vieles zu berichtigen und zu differenzieren haben und doch die göttlichen Geheimnisse ebenso unerklärlich und unerreichbar lassen wie zuvor, — vielleicht noch mehr.


Dann Weiteres

Was letzten Endes von Priestern oder Dichtern, und nur von Priestern oder Dichtern vollbracht werden muß, — trotz all der erstaunlichen und blendenden Errungenschaften unseres Jahrhunderts, dem Auftreten Amerikas, der Naturwissenschaft und der Demokratie, — das bleibt nach wie vor unentbehrlich, nach allen Leistungen der großen Astronomen, Chemiker, Linguisten, Historiker, Forscher und der wunderbaren deutschen und sonstigen Metaphysiker in den letzten hundert Jahren — und es wird ein Bedürfnis bleiben, hier in Amerika genau so wie in der Welt Europas oder Asiens vor hundert, tausend oder mehreren tausend Jahren, — ich glaube sogar, es wird notwendiger sein als je, um unseren heutigen Anschauungen Ausdruck zu verleihen, aus dem erweiterten Hintergrund und dem unbeschreiblich größeren Ausblick der Jetztzeit heraus. Einzig den Priestern und Dichtern der Neuzeit, die mindestens ebenso erhaben sind wie die der Vergangenheit, der Gemeinschaft aller Menschen und Zeiten in sich aufzunehmen, zu würdigen und das alte Metall, das bereits gestaltete Material, umzugießen in neue zeitgemäße Formen und Bildungen. (Die Hauptresultate sind bereits gegeben, denn es gibt vielleicht nichts Neues, jedenfalls nicht viel eigentlich Neues, nur wichtigere moderne Kombinationen und neue entsprechende Anpassungen.)

Mittlerweile warten die höchten und feinsten und umfassendsten Wahrheiten der modernen Wissenschaft — wie auch die Demokratie — auf ihre wahre Aufgabe und die letzten lebendigen Lichtblitze durch große Metaphysiker und spekulative Philosophen, die die Fundamente und Grundlagen bauen für jene neuen, umfassenderen, harmonischeren, melodischeren, freieren amerikanischen Dichtungen.



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Unser wirklicher Höhepunkt

Der Höhepunkt in der Entwicklung dieser großen und vielgestaltigen Republik wird in der Schaffung und dauerhaften Begründung von Millionen behaglicher Stadtheimstätten und mäßig großer Farmen bestehen, gesund und unabhängig, in abgesondertem Einzelbesitz mit Eigentumsrecht, wohlfeil versorgt mit allem, was man zum Leben barucht, und für alle erwerbbar. Außergewöhnlicher Reichtum, Prunk, zahllose Industrien, ein übermaß von Export, Riesenkapitale und -kapitalisten, vollbesetzte Fünf-Dollar-Hotels, künstlicher Komfort, ja selbst Bücher, Universitäten und das Wahlrecht — all das bildet an sich, in mancher Hinsicht (so hart es auch klingen mag, und scharf wie das Messer eines Chirurgen), mehr oder weniger eine Art antidemokratischer Krankheit und Ungeheuerlichkeit und scheint mir in der Hauptsache nur von Wert oder von Bedeutung zu sein, sofern es zu jenem Höhepunkt Beziehungen hat und auf seltsamen Umwegen dazu beiträgt, daß er erreicht wird.

In dem gewöhnlichen Erdboden, in Getreide, Vieh, Luft, Bäumen usw. und darin, daß man aus erster Hand mit ihnen zu tun hat, liegt ein subtiles Etwas, das das einzige reinigende und dauernde Element für Individuen und Gesellschaft bildet. Ich muß gestehen, es wäre mein Wunsch, daß in Amerika die Beschäftigung mit der Landwirtschaft aus erster Hand immer allgemeiner würde. Ihre Erträge sind die einzigen, auf denen das Lächeln Gottes zu ruhen scheint. Welche anderen — welches Geschäft, welcher Profit und Reichtum ist ohne Makel? Welche Glücksgüter sonst sind nicht, in jedem Dollar, mehr oder weniger Zeichen und Frucht von Betrug, Lüge, Unnatur?



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Aus „Novemberzweige“ und „Ade, Phantasie“


Die Arbeitslosenund Streikfrage

Zwei grimmige und gespenstische Gefahren — gefährlich für Frieden, Gesundheit, Fortschritt und soziale Sicherheit, den Regierungen der Alten Welt längst leibhaftig bekannt, denn sie spielten dort mehr als einmal bei dynastischen Umstürzen, Blutbädern, in Tagen und Monaten des Schreckens eine Rolle, — scheinen sich seit einigen Jahren der Neuen Welt zu nähern, ja sich allmählich bei uns einzunisten. Was wollen diese Phantome hier? (Ich personifiziere sie in dichterischer Form, aber sie sind sehr real.) Soll das frische und weite Gebiet Amerikas ihnen auch Standort und Herberge und dauernden Wohnsitz geben?

Was im Untergrunde der ganzen politischen Welt heute am meisten drängt und verwirrt und die wichtigsten Folgen für die Zukunft hat, ist nicht die abstrakte Frage der Demokratie, sondern die Frage sozialer und wirtschaftlicher Organisation, die Behandlung der Arbeiter durch die Arbeitgeber und alles, was hier hereinspielt — nicht nur die Lohnfrage, sondern ein gewisser Geist und ein gewisses Prinzip, wodurch die Verhältnisse neu belebt werden müssen —, alle die Fragen von Fortschritt, Leistungsfähigkeit, Tarif, Finanzen usw., die in Wirklichkeit mehr oder weniger direkt aus der Armutsfrage hervorgehen. Ich will zunächst den Leser auf einen Gedanken über diese Angelegenheit aufmerksam machen, der ihm bisher vielleicht noch nicht zum Bewußtsein gekommen ist: — Der Reichtum der zivilisierten Welt im Gegensatz zu ihrer Armut — woraus ist er herzuleiten? und was stellt er

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dar? Ein Reicher sollte eigentlich einen guten Magen haben. Wie in Europa der Reichtum von heute in der Hauptsache das Ergebnis und die Frucht ist von Raub, Mord, Gewalttat, Verrat, Habgier vergangener Jahrhunderte und immer so fort, so auch in Amerika, unter demselben Zeichen — (vielleicht noch nicht so schlimm oder wenigstens nicht so fühlbar; — wir existieren noch nicht lange genug, aber wir tun offenbar alles, um Europas Vorsprung einzuholen).

So seltsam es klingt, gerade in den sogenannten ärmlichsten, niedrigsten Charakteren wird man zuweilen, nein gewöhnlich, Lichtseiten erhabenster Tugenden, Begabungen, Heroismen finden. Es ist also zweifelhaft, ob der Staat in den langen, einförmigen Zeiten der Entwicklung oder in furchtbaren besonderen Krisen nur durch seine guten Bürger erhalten wird. Wenn der Sturm am tödlichsten und die Krankheit am drohendsten ist, kommt die Hilfe oft aus merkwürdigen Gegenden — (man erinnere sich an den homöopathischen Spruch: „Heile den Biß mit einem Haar vom selben Hund“) . . .

Wenn auch die Vereinigten Staaten, ebenso wie die Länder der Alten Welt, große Massen von Armen, Verzweifelten, Unzufriedenen, Heimatlosen, Schlechtbezahlten hervorbringen sollten, wie es uns seit einigen Jahren zu drohen scheint, die stetig, wenn auch langsam, sich in sie hineinfressen wie ein Krebs in Magen und Lungen, — dann ist unser republikanisches Experiment trotz all seiner äußeren Erfolge im Kern nicht lebensfähig und ein Fiasko.

Ich sah heute ein Bild, das ich noch nie zuvor gesehen habe, und es bestürzte mich und machte mich ernst. Drei recht stattliche amerikanische Männer von ehrbarer Erscheinung, zwei davon jung, trugen Lumpensäcke auf den Schultern und die üblichen langen Eisenhaken in den Händen und trotteten die Straße entlang, die Augen auf den Boden gerichtet, um nach Brocken, Lumpen, Knochen usw. zu spähen.


Wer bekommt die Beute?

Die Protektionisten blenden die Augen des Publikums gern mit der glänzenden Vorspiegelung großer Einkünfte aus Industrie,

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Bergbau, künstlich hochgetriebenem Export: so viele Millionen aus dieser Quelle und so viele aus jener, — welch verführerisches, unwiderlegliches Lockbild: ein ungeheurer jährlicher Barertrag aus Eisen-, Baumwoll-, Woll-, Lederwaren und hundert anderen Dingen, alles aufgepäppelt durch „Schutzzoll“! Aber der wirklich wichtige Punkt bei all dem ist: in wessen Taschen fließt diese Beute eigentlich? Es würde einige Entschuldigung und Befriedigung gewähren, wenn auch nur ein angemessener Teil den Arbeitermassen zugute käme, — wenn daraus Heimstätten für Männer, Frauen und Kinder entstünden, Myriaden wirklicher Heimstätten mit Eigentumsrecht in jedem Staat, — nicht das täuschende Geschrei von dem erstaunlichen Reichtum, wie er in Zensur, Statistik und Zeitungslisten prangt, sondern eine ehrliche Verteilung und ein anständiger Durchschnitt für Arbeiter und Arbeiterinnen: — das wäre etwas. In Wahrheit ist es aber ganz anders. Den Profit vom „Schutzzoll“ haben nur ein paar Dutzend Bevorzugte, die durch Protektion von Kongreß, Landtag, Banken und durch andere Sondervorteile eine vulgäre Aristokratie bilden, genau so schlimm wie die englischen und kontinentalen Adelskasten oder Dynastien der Vergangenheit. Wie Sismondi gezeigt hat, besteht das wahre Gedeihen eines Volkes nicht in dem großen Reichtum einer einzelnen Klasse, sondern kann nur verwirklicht werden, wenn die große Masse des Volkes mit Heimstätten und Land versorgt wird, an denen es Eigentumsrecht hat. Das mag nicht das glänzendste Schauspiel sein, aber es ist die beste Wirklichkeit.


Führer aus dem wirklichen Volk

. . . Keine Gemeinschaft von Männern ist fähig, Präsidenten, Richter und Heerführer zu ernennen, wenn sie nicht aus sich selbst heraus die besten Muster hervorbringen kann; und bringt sie ein oder zwei solcher Muster hervor, so ist die ganze Gemeinschaft dadurch auf tausend Jahre ausgezeichnet. Ich hoffe eine Zeit zu erleben, wo alles, was so aussieht, wie unser jetziges Personal von Regierungsbeamten, — Unions-, Staats-, Stadt-, Militärund Marinebeamten, — nur noch zum Gespött dient, und wo bewährte Handwerker und junge Männer in den Kongreß und zu anderen amtlichen Stellungen berufen werden, im Arbeitsanzug, frisch von

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Hobelbank und Werkzeug weg, wohin sie wieder in Ehren zurückkehren. Die jungen Männder müssen sich darauf vorbereiten, einer solchen Bestimmung Ehre zu machen, denn das Zeug dazu haben sie. Nichts anderem, das bedenke man, gebührt je der Vorrang, als blanker überlegenheit.

In den Handwerkern und jungen Männern Amerikas steckt gegenwärtig mehr rauhe und unentwickelte Tüchtigkeit, Kameradschaftsgefühl, Pflichttreue, klarer Blick und praktische Begabung für jede Art von Tätigkeit, selbst die höchste und umfassendste, als unter all uneren Staatsbeamten in Legislative, Exekutive, Rechtsprechung, Heer und Flotte und auch mehr, als unter allen literarischen Persönlichkeiten. Es wäre mir eine große Freude, wenn ich irgendeinen heroischen, klugen, wohlunterrichteten, gesunden, bärtigen amerikanischen Grobschmied oder Schiffer mittleren Alters sehen würde, der vom Westen her über die Alleghanies käme und die Präsidentschaft anträte, mit einem reinlichen Arbeitsanzug bekleidet, Gesicht, Brust und Arme gebräunt. Ich würde sicher einem solchen Manne, der die erforderlichen Eigenschaften besäße, vor jedem anderen Kandidaten meine Stimme geben.

Daß Arbeiter und Handwerker von ihrem Beruf weg — Lincoln, Johnson, Grant, Garfield — aus den Massen emporgehoben wurden, die Präsidentschaft übernahmen und die gewaltige Macht des Amtes mit fester Hand ausübten, tatsächlich mit größerer Kraft und Tüchtigkeit als irgendein König der Geschichte: — erkennen wir nicht, daß diese Tatsachen eine Bedeutung haben, weit, weit über politische und Parteiinteressen hinaus?


Letzte Aufzeichnungen

Auf ihrer höchsten Warte und in ihren erhabensten Schöpfungen ist echte Poesie der Ausdruck und die Begleiterscheinung echter Religion, — war und ist eine bessere Helferin wahrer Religion und hat sie mehr gefördert (es gibt natürlich auch eine falsche, und mehr als genug) als alle Priester und Glaubensbekenntnisse und Kirchen, die heute existieren oder jemals existiert haben, — trotzdem die heutzutage herrschende Theorie und Praxis der Poesie ganz einseitig und nur ornamental und elegant ist, — ein Liebesseufzer, ein

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Juwel, eine feudalistische Liebhaberei, eine geistreich ersonnene Geschichte oder eine intellektuelle Finesse, angepaßt dem niedrigen Geschmack und Maßstab, der immer so ziehmlich allgemein gelten wird — (notwendige Vorstufe zu etwas Höherem).

Alle die Sekten, Kirchen und Doktrinen, Tollheiten, Verbrechen, Fanatismus der Masse und der Einzelnen, so häufig in aller Geschichte, sind in ihrer Art ebenfalls Beweise von der Ursprünglichkeit und Allgemeinheit des unzerstörbaren Elementes menschlicher Religiosität und sind nur die Kehrseite davon. Genau so wie Krankheit der Beweis der Gesundheit und ihre Kehrseite ist . . . Die Philosophie Griechenlands lehrte die Natürlichkeit und Schönheit des Lebens. Das Christentum lehrt Krankheit und Tod erdulden. Ich habe mich besonnen, ob sich nicht eine dritte Philosophie entwerfen ließe, die beide verschmelzen und beiden völlig gerecht werden würde.

Die Natur schien mich lange Zeit zu gebrauchen, — als ich selbst gesund, tüchtig, stark und glücklich war, — damit ich Kraft, Freiheit, Gesundheit darstelle. Seit einiger Zeit aber scheint sie zu glauben, ich könne das alles vielleicht besser sehen und verstehen, wenn ich dessen größtenteils beraubt wäre.

Wie schwierig ist es, die Literatur mit irgend etwas Neuem zu bereichern — und wie unbefriedigend für einen ernsten Geist, nur dem Vergnügen der Menge zu dienen! (Es scheint mir sogar, sagte H. Heine, erfrischender, etwas Schlechtes zu vollbringen, als etwas Nichtiges.)

Der Höchste sagte: Laß uns nicht so weit unten beginnen, — ist unser Grund nicht zu rauh, zu grob? — Die Seele antwortete: Nein, nicht, wenn wir bedenken, wozu das alles dient, — das Ziel, in Raum und Zeit verborgen.



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Im Grunde sind meine Veröffentlichungen, alle meine Werke, zweifellos nur Stegreifäußerungen spontaner Persönlichkeit, blindlings dem unerforschlichen Rufe folgend, von dieser Persönlichkeit beherrscht — nur undeutlich, doch entschieden — und fast ohne alle Planmäßigkeit, Kunst, Bildung usw. Wenn ich mich entschlossen habe, die Zügel, die Leitung in der Hand zu behalten, so geschah es hauptsächlich, um den unsichtbaren Rossen die Richtung, den Antrieb, den Weg zu geben. (Ich wollte sehen, wie ein Mensch in Amerika in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen würde, aber ganz frei und ehrlich, in wahrhaftigem Abbild.)



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INHALT


Einleitung. . . . . . . . . . . . . . .

IX

Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Vorrede zur Erstausgabe der „Grashalme“. . . . . . . . . . .

3

Demokratische Ausblicke. . . . . . . . . . . .

20

Tagebuch 1862–1864. . . . . . . . . . . . . .

88

Tagebuch 1876–1882. . . . . . . . . .

100

Gesammeltes


  Aus der Vorrede zu: „Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei“. . . . . . . . . . . .

156

  Eine Notiz auf gut Glück. . . . . . . . . . . . . .

158

  Emersons Werke (ihre Schatten). . . . . . . . . . . . .

162

  Neue Poesie — Kalifornien, Kanada, Texas. . . . . . . . . . . . .

165

  Darwinismus — dann Weiteres. . .

168

  Dann Weiteres. . . . . . . . . . . . .

169

  Unser wirklicher Höhepunkt. . . . . . . . . . . . . .

170

Aus „Novemberzweige“ und „Ade, Phantasie“


  Die Arbeitslosenund Streikfrage. . . . . . . . . . . . . . .

171

  Wer bekommt die Beute. . . . . . . . . . . . . . . . . .

172

  Führer aus dem wirklichen Volk. . . . . . . . . . . .

173

  Letzte Aufzeichnungen. . . . . . . . . . . . . . . .

174



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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.



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